Weihnachtspredigt

Wolfgang Huber

Berliner Dom, St. Marien Berlin, Jes. 9, 1-6

I.
In einer Kindertagesstätte kommt ein Polizist zu Besuch. Verkehrserziehung soll das Thema sein. Um den Kindern den Zugang zu erleichtern, sagt er: Ich heiße genauso wie der Mann von Maria, der Mutter von Jesus in der Weihnachtsgeschichte. Ihr wisst schon. Da flüstert ein kleiner Junge seiner Erzieherin energisch ins Ohr. Bei der Geburt von Jesus war kein Polizist dabei. Das weiß ich genau.

Dem werden Sie zustimmen, liebe Gemeinde. Ein Polizist kommt in der Weihnachtsgeschichte nicht vor. Von den Hirten ist die Rede und von den Weisen aus dem Morgenland. Ochs und Esel kommen vor (und hier im Berliner Dom sogar zusätzlich ein Hund), weil es schon beim Propheten Jesaja heißt: Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn. Bei den Hirten ist alsbald die Menge der himmlischen Heerscharen, die Gott loben und den Menschen Frieden verkünden. Maria und Joseph kommen natürlich in der Weihnachtsgeschichte vor. Und vor allem Jesus selbst, das Kind, der Retter der Welt.

Von einem Polizisten ist dabei nicht die Rede. Aber ist er damit ausgeschlossen? Wird irgendjemand ausgesperrt vom Stall in Bethlehem? Soll jemand nicht dazu gehören aus der Vielfalt der Berufe, die jetzt in dieser großen Gemeinde vertreten sind? Oder jemand von denen, die nicht unter uns sein können, weil sie an diesem Nachmittag Dienst tun: in der Polizei oder bei der Feuerwehr, in den Krankenhäusern oder bei den Verkehrsbetrieben?

Nein, niemand ist ausgeschlossen von der weihnachtlichen Verheißung, die beim Propheten Jesaja so lautet: Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Zu Beginn des Gottesdienstes haben wir diese prophetische Zusage gehört, in der es weiter heißt: Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter.

Mehr als siebenhundert Jahre vor Christi Geburt wurde diese Verheißung dem Propheten Jesaja von Gott anvertraut. Dass Gott den Menschen als Kind nahe kommt, dass er selbst Mensch wird, damit seine Gnade uns erreicht, bewegt die Menschen als Hoffnung schon lange vor Christi Geburt. Diese Verheißung gewinnt Gestalt im Kind in der Krippe von Bethlehem und verbindet sich mit dem Namen des Jesus von Nazareth. So findet diese Verheißung ihre Erfüllung für alle Zeit. Sie bezieht uns ebenso ein wie die, die nach uns kommen.

So wie die Verheißung des Propheten die Zeiten umgreift, so umspannt sie auch unseren ganzen Globus. Sie gilt uns Europäern ebenso wie den Afrikanern, mit denen ich in diesem Jahr den Advent begonnen habe. Sie stärkt den Glauben der Menschen in Asien ebenso wie in Afrika. Keiner ist von ihr ausgeschlossen.

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Zu dem Volk, das im Finstern wandelt, gehören wir auf die eine oder die andere Weise alle. Zu ihm gehören die Glücklichen genauso wie die Verzagten, die Erfolgreichen genauso wie die Gedemütigten, die Gesunden genauso wie die Geplagten. Sie alle haben an der Krippe Jesu ihren Ort.

II.
An der Krippe Jesu finden sich deshalb auch diejenigen ein, die vor einem Jahr von einer gewaltigen Naturkatastrophe überrollt wurden, die ihr Leben verloren, um einen nahen Menschen trauerten oder jäh das Dach über ihrem Haupt einbüßten. Am Zweiten Weihnachtstag des vergangenen Jahres, am 26. Dezember 2004, erschütterte eine Flutwelle die Länder rund um den Indischen Ozean, von Sumatra bis an die Ostküste Afrikas. Vielleicht sind Menschen unter uns, die das erlebt oder dabei einen nahen Angehörigen verloren haben. Andere Naturkatastrophen traten dem zur Seite, vor allem im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika und in Pakistan.

Aber auch das andere bleibt in Erinnerung: Auf die Flutwelle des Tsunami folgte eine Woge der Solidarität. Menschen fanden Hilfe über alles Erwarten hinaus – im Einsatz von Hilfskräften in den betroffenen Ländern ebenso wie in einer beispielhaften Spendenbereitschaft. Auch diese Woge der Solidarität soll nicht in Vergessenheit geraten. Wir wollen uns deshalb nicht damit abfinden, wenn unserem Land Kälte und Egoismus nachgesagt wird. Wir wollen auch weiterhin der Hilfsbereitschaft für Menschen in Not Raum geben, im Kleinen wie im Großen. Denn die Opfer des Tsunami haben es gespürt, wie ihnen das Joch auf der Schulter erleichtert wurde dadurch, dass andere es mit ihnen trugen. Schon der alttestamentliche Prophet weiß von einer solchen Erfahrung. Heißt es doch bei ihm: Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen.

An der Krippe im Stall von Bethlehem finden auch die Platz, die in diesem Jahr unter Terror und Gewalt gelitten haben oder in deren Bann gerieten. Diejenigen sind dem Kind in der Krippe nahe, die um andere bangten, weil sie sich in der Nähe solcher Ereignisse befanden – sei es in London, im Nahen Osten oder im Irak. Wer vom Christuskind aus auf unsere Welt schaut, wird sich nicht damit abfinden, wenn Menschen ihrer Freiheit beraubt und der Gewalt ausgesetzt werden. Hart ist vielmehr der Einspruch des Propheten. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Dieser Einspruch muss auch heute laut werden. Er ist nötig im Namen der Würde, des Leben und der Freiheit, die jeder menschlichen Person in gleichem Maß zukommen. An keinem Ort der Erde ist es hinzunehmen, wenn Angriffe auf das Leben und die Freiheit von Menschen geplant, durchgeführt und am Ende gar religiös gerechtfertigt werden.

Auch für diejenigen ist an der Krippe von Bethlehem Raum, die sich vor sozialem Abstieg fürchten. Damit sie nahe bei dem Christuskind sein können, rücken vor allem die Hirten zur Seite; denn sie waren die sozial Deklassierten jener Zeit. Menschen, die sich heute vor Arbeitslosigkeit fürchten, die am Rande der Sozialhilfe zurechtkommen müssen oder deren Leben allen Halt und alle Regelmäßigkeit verloren hat, haben bei Jesus, dem Kind in der Krippe, ihren Ort. Einen Ort haben dort auch die Menschen, von deren Arbeitsplätzen es gerade in diesen Tagen wieder heißt, sie stünden einer Steigerung der Rendite im Wege. Für sie alle ist zu hoffen, dass Menschen, die zur Solidarität bei großen Katastrophen bereit sind, solche Solidarität auch bei kleineren Katastrophen aufbringen. Denn in Wahrheit ist es ein großes Unglück, wenn ein Mensch den Eindruck gewinnen muss, er werde nicht gebraucht.

Dabei kann es nicht bleiben. Menschen in wirtschaftlicher Verantwortung sollten sich deshalb von Treue nicht nur zu dem ihnen anvertrauten Kapital, sondern auch zu den ihnen anvertrauten Menschen bestimmen lassen. Dann könnte sich manches zum Guten wenden. Auch politisches Handeln, das in diesen Monaten in Deutschland einen neuen Anfang genommen hat, kann davon geleitet sein, dass Menschen nicht aufgegeben, sondern einbezogen werden, dass den Schwachen aufgeholfen wird und die Starken sich dafür in Anspruch nehmen lassen.

Denn all unser Tun und Lassen tritt an Weihnachten in den Horizont der Verheißung, in der gesagt ist, dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Wie sollten wir uns im Licht einer solchen Verheißung nicht an unserem Ort für Recht und Gerechtigkeit einsetzen und für den Frieden wirken, der kein Ende haben soll!

III.
Wenn sie alle an der Krippe Jesu ihren Ort finden – die von Katastrophen Heimgesuchten, die von Gewalt Geängstigten, die von sozialem Abstieg Bedrohten - , dann dürfen offenbar am Ort der Weihnachtsfreude auch die Widersprüche und Spannungen laut werden, die unser Leben prägen.
Denn das Kind in der Krippe will uns dabei helfen, mit diesen Widersprüchen und Spannungen zurechtzukommen. Deshalb werden wir in das Wunder der Weihnacht hineingenommen. Der Stern bleibt stehen über Bethlehem; Gott zeigt sein wahres Gesicht in diesem Kind; die Tür ist aufgeschlossen zum schönen Paradies.

Dazu können wir Ja sagen mit der Stimme der Tradition, der Lieder und der Bibel. Dieses Ja brauchen wir nicht allein zu sprechen. Wir dürfen uns hineinstellen in den großen Chor der Engel und der Hirten, der Bekannten und der Unbekannten. Wir bleiben nicht stehen beim Nein des Widerspruchs. Wir sagen ja zum Leben, das uns in diesem Kind neu entgegentritt. Denn auch das ist wahr: Menschen erfahren Hilfe und werden gerettet; Entführte werden wieder frei; ein neuer Anfang gelingt. Das Licht der Weihnacht geht auf, in uns und um uns.

Deshalb halten wir nicht nur Ausschau an diesem Heiligen Abend, sondern wir freuen uns an Gottes Gegenwart. Wir hoffen nicht nur, dass er kommt; wir freuen uns, dass er da ist. Deshalb entzünden wir die Lichter und erheben unsere Herzen. Deshalb öffnen sich unsere Herzen und empfangen das Wunder der Weihnacht. Deshalb öffnen wir unsere Hände und teilen miteinander, was uns und andere erfreut. Wir werden bereit für diese geheimnisvollste Zeit des Jahres. Wir erleben, was wir einander wünschen: gesegnete Weihnachten.
Amen.