Predigt zu Matthäus 10, 26b - 33 in der Stadtkirche Karlsruhe
Thies Gundlach
Gnade sei mit uns und Friede, von Gott unserem Vater und unsrem Herrn JC. Amen
Liebe Gemeinde,
in unserer Welt gibt es mindestens zwei Formen der Einsamkeit: Die eine, heute wohl verbreiteste und schwerste Form der Einsamkeit ist die Auferlegte, die Zugemutete, die Verordnete. Ungezählt viele Menschen finden niemanden, den sie lieb haben dürfen, für den sie da sein können, dem sie wichtig sind. Diese Einsamkeit kann man finden in billigen Bahnhofskneipen am späten Abend und in teuren Vorstandvillen am frühen Morgen. Man kann sie finden in den Altenheimen und Krankenhäusern, aber auch mitten in großen Familienclans. Rainer Maria Rilke hat mit einer Jahrhundertformulierung dieser Einsamkeit einen Denkmal gesetzt: „Wohnen im Gewoge, und keine Heimat haben in der Zeit“, das ist Einsamkeit. Wohnen im Gewoge, wohnen in Tagen und Täglichkeiten, in Wochen und Wiederholungen, in Banalitäten und Belanglosigkeiten und doch nirgends ankommen, nirgends wichtig sein, nirgends ausatmen können, das ist Einsamkeit.
Die zweite Form der Einsamkeit ist nicht allein verordnet oder zugemutet, sondern auch gesucht und gefordert und gewollt. Es ist die Einsamkeit, die eine
Jahrtausendformulierung des Evangeliums anklingen lässt: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Mth 10, 16). Hier ist der Mensch nicht nur wohnungslos im Gewoge des Lebens, sondern bedroht, gefährdet, im Grunde chancenlos. Man kann ja nur hoffen, dass der Wolf satt ist, sonst hat man als Schaf keine Chance. „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht töten können“ (Mth 10, 28), sagt Jesus im Predigttext und macht die Sache damit auch nicht leichter. Es ist die Einsamkeit eines Auftrages, einer Berufung, einer Bestimmung, die man in banalisierter Form in jedem durchschnittlichen Blockbuster aus Hollywood unter dem Titel „mission impossible“ nacherzählt finden kann. Und viele Jahre wurde der Thesenanschlag Martin Luthers 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg mit diesem Bild verbunden: Hier sei ein einsamer Mensch erfüllt von seinem Auftrag, ein mutiger, aufrechter, tapferer Mönch gibt sich als Schaf unter lauter Wölfen der damaligen Kirche. Während wir kleinen Normalglaubenden ja nur ein wenig Heimat finden wollen zum Wohnen im Gewoge, steht hier ein Mann vor uns, der sich nicht fürchtet vor Kirche und Kaiser, vor Hölle und Tod. Martin Luther in der Rolle des religiösen Helden, des idealen Dächerredners, der wie kein anderer Christus vor der Welt bekennt. Aber, liebe Gemeinde in Karlsruhe, eben damit ist zugleich die Gefahr gegeben, dass wir unter der Hand aus dem Reformationsjubiläum 2017 ein Lutherjubiläum machen!
(2) Natürlich gibt es heutzutage auch das krasse Gegenteil: Während die einen Luther zum religiösen Helden und tapferen Heros machen, versuchen die anderen, Luther zu
einer zufälligen Figur im Lauf einer Geschichte zu machen, die sowieso geschehen wäre. Eine Art Luther war irgendwie sowieso dran nach der Erfindung des Buchdrucks, nach Jan Hus und dem gewachsenen Selbstbewußtsein der Städte und Kurfürstentümer, aber dass dieser Typ Luther nun in Wittenberg auftauchte, das war reiner Zufall. Nichts mit „Predigen auf den Dächern“, nichts mit „Bekennen Jesu Christi vor den Menschen“, sondern ein Mann, den zufällig die Strömungen der Zeit in eine Rolle drängte. Aber auch dieses Lutherbild ist wenig plausibel! Doch welches Bild haben wir heute von der Reformation und von Martin Luther? Das ist eine schwierige Frage, denn es liegt auf der Hand, dass wir mit der Antwort darüber entscheiden, was und wie wir das 500.sten Jubiläumjahr 2017 feiern, frei nach dem Motto: Je stärker wir uns auf Luther`s große Taten konzentrieren und ihn gleichsam zum Heros der Zeit machen, desto mehr wird aus dem Reformationsjubiläum ein Lutherjubiläum. Das Reformationsjubiläum 2017 gehört aber von Haus aus nicht ausschließlich Luther, auch nicht den Lutheranern, eigentlich auch nicht den Evangelischen oder den Protestanten, sondern es ist im Grunde ein Jubiläum der ganzen Christenheit. Denn die Reformatoren wollten bekanntlich keine neue Kirche, sondern die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche erneuern. Und trotz der Trennungen der Kirchen und der Pluralität von Konfessionen haben sich seit 1517 haben sich alle christlichen Kirchen verändert, nicht nur die evangelische Kirche, auch die römisch-katholischen Geschwister sind von der Reformation geprägt und beeinflusst, - und sei es im Gestus der Ablehnung. Es gilt die treffende Formulierung des ehemaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber: Die Reformationskirchen sind diejenige katholischen Kirchen, die durch die Reformation gegangen sind! Deswegen sollten alle christlichen Kirchen das Reformationsjubiläum mitfeiern, denn es ist Aufbruch der ganzen Christenheit gewesen, - Gott sei Dank.
(3) Martin Luthers Leben ist gekennzeichnet dadurch, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war! Luther war ein Kind seiner Zeit mit ganzem Herzen und ganzem Verstand, er war ein wacher Zeitgenosse und ein guter Bibeltheologe, er war geprägt und geformt durch viele Anstöße seiner Zeit. Und gerade weil er ganz und gar Kind seiner Zeit war, konnte er mit seinem Thesenanschlag an die Schlosstür nicht nur eine akademische Diskussion über Beichte und Buße anstoßen, sondern ein Tor aufstoßen zu einer neuen Welt. Luther hat das vermutlich weder geahnt noch gewollt, aber durch die von ihm aufgestoßene Tür sind noch ganz andere Themen und Titel, Ideen und Bewegungen, Menschen und Geister hindurchgegangen, die alle auch schon lange vor der Tür gewartet haben. Luther hat die Tür aufgemacht, aber durchgegangen sind noch ganz andere Personen, Geister und Strömungen: Huldrych Zwingli und Johannes Calin, auch Karlstadt und Thomas Müntzer, später die Musik von Bach und Teleman, der Pietismus und die Aufklärung, die Menschenwürde und die Pluralität, die Demokratie und die Wissenschaft. Wir erinnern 2017 einen großen Anfang, nicht einen einsamen Anfänger.
(4) Und doch bleibt die Frage: Was ist das Besondere an Luther? IM Predigttext heißt es: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächer.“ (Mth 10,27). Was hatte Luther gehört? Was wurde ihm ins Ohr gelegt? Was war es, dass er den Zeitgeist und die vielen Strömungen des Aufbruches nicht nur verstärkt und verdoppelt hat, sondern einzigartig verwandelt und vertieft hat? Was hatte sein Ohr vernommen, was kein Ohr je zuvor gehört und kein Auge je gesehen hat? Es gibt ganze Bibliotheken voll Bücher zu dieser Frage, die allermeisten sind mit dem Stichwort Rechtfertigung allein aus Glauben verbunden, mit dem gnädigen Gott und dem Ende der Gesetzeswerke. Aber, liebe Gemeinde, ich fürchte, mit dieser Sprache kommen wir nicht bis zum Jubiläum 2017! Wir reden zu unverständlich, denn kaum jemand fragt heute noch nach einem gnädigen Gott; wir antworten mit der Rechtfertigungslehre auf Fragen, die kaum noch einer stellt, wir lösen Probleme, die ohne uns keiner mehr hätte. Deswegen: Für heute und uns im 21. Jahrhundert: Was hat Luther gehört? Was hat er in der Finsternis gesagt bekommen? Was hat ihm die heilige Schrift in der Stille seines Suchens erzählt?
Ich glaube, der Grundklang war: Fürchte dich nicht! Hab keine Angst! Es ist gut, dass Du da bist, es ist gut, dass es dich gibt, so wie du bist. Ich brauche dich hier in dieser Welt als freier Mensch, nicht im Jenseits, da hab ich schon für dich gesorgt. Hab keine Angst, auch nicht vor Dir selbst: Bekenne mich auch vor deinen Ängsten in Dir selbst, fürchte dich nicht vor dem Toben der Heiden in deiner Seele, sie sind ja nur kleine Geister. Fürchte dich nicht, denn ich verurteile dich nicht, also verurteile dich selbst auch nicht.. „Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du auch hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land“ (Gen 28, 28), das hatte Gott schon Jakob auf der Flucht vor seinem Bruder Esau gesagt und das gilt auch Dir, kleiner Mönch Martin.
Ich glaube, liebe Gemeinde, es hatte seit langer Zeit kein Mensch mehr so verzweifelt in seiner Angst vor Gott gelebt wie Martin Luther, und kaum jemand hat die Wende zur Furchtlosigkeit so tief und grundlegend erfahren wie Luther. Denn man muss schon in der tiefsten Tiefe Angst haben, wenn die tiefste Tiefe geheilt und getröstet werden soll. Und eben diese Tiefe war einzigartiger Luthers Beitrag! Durch seinen Auszug aus Angst zog er mit sich alle Strömungen der Zeit, alle gewonnenen Einsichten und drängenden Reformbedürfnisse seiner Generation in ein neues Licht, eine neuen Anstrich, einen Grundton der Freiheit: Hab keine Angst, Gott ist da, Gott ist nah, Gott befreit. „Ausbruch aus der Angst“ durch „Einkehr bei Gott“, liebe Gemeinde, ich glaube, dass wir hier dem Geheimnis dessen nahekommen, was Luther in der Einsamkeit der Finsternis und Einsamkeit seiner Klosterjahre gehört und vernommen hat: Hab keine Angst, geh aufrecht, tritt ins Freie, denn ich bin mit dir, ich bin nicht dein Richter, auch nicht dein Ankläger, sondern dein Begleiter, dein Schutz und Schirm in allem Argen, deine Hoffnung gegen die Angst in dir.
Liebe Gemeinde, dieser Grundstrom des aufrechten Ganges fließt noch bis heute, bis zu uns, bis zu dir und mir. Denn es mögen sich die Ängste und Verzweiflungen verändern haben, es mögen die Einsamkeiten und Verlorenheiten moderner geworden sein, aber dieser eine, niemals zu delegierende Schritt der eigenen Seele heraus aus dem Gefängnis der Angst brauchen wir auch heute, jeder für sich, immer wieder. Aber wir Protestanten müssen aufpassen, dass wir diese Geschichte aus der Mitte der Gottesbegegnung heraus erzählen, dass wir auch 500 Jahre später jene Seelentiefe behalten, die Martin Luther gefunden hatten, dass wir nicht zu schnell die Gesellschaft retten und die Welt verbessern wollen, sondern aus der Stille vor Gott und dem Hören auf Gott kommen. Nur dann sind wir eine Kirche der Freiheit und der Furchtlosigkeit.
Wir brauchen diese reformatorische Innerlichkeit, denn die Ängste haben heute zwar andere Gesichter und die Furcht spielt heute andere Melodien, aber die Grundgeschichte lautet bis heute: Kehre Du ein bei Gott, höre mit deiner ganzen Seele sein Wort: Fürchte dich nicht, hab keine Angst. Und dann gehe hinaus in dein Leben und gestalte es frei und verantwortlich und sei kein Einsamer, sondern sei Berufener. Denn es mag zwei Formen der Einsamkeit geben, die zweite aber wohnt nicht im Gewoge, sondern hat Heimat in Gottes Furchtlosigkeit. Amen