Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen

1. Rahmenbedingungen der aktuellen medizinethischen Fragestellungen

Die Beschäftigung mit den medizinethischen Fragen im Umgang mit menschlichem Leben darf die wissenschaftlichen (1.1), gesellschaftlichen (1.2) und rechtlichen (1.3) Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen, die zum angemessenen Verstehen dieser Problemstellungen hinzugehören. Sie sollen daher vor der Darstellung der mit ihnen verbundenen ethischen Herausforderungen (1.4) einleitend skizziert werden.

1.1 Innovationen im Bereich der Medizin und Biologie

Die medizinischen Möglichkeiten der Lebenserhaltung haben in einem für frühere Zeiten unvorstellbaren Maße zugenommen. Viele Krankheiten, deren Verlauf einst nur als Schicksal hingenommen werden konnte, stellen – zumindest in den reichen Staaten – kaum mehr eine Bedrohung dar. Andere Krankheiten können gelindert, erträglicher gemacht oder in ihren lebensbedrohlichen Auswirkungen eingeschränkt werden. Diese Erweiterungen des menschlichen Wissens in der Medizin und Biologie haben zu einer beträchtlichen Steigerung der menschlichen Lebenserwartung geführt. Durch die technische Weiterentwicklung in der klinischen Medizin ergeben sich neuartige Perspektiven und Fragestellungen, die den Umgang mit Krankheit und Sterben wesentlich beeinflussen. Beispielsweise führen intensivmedizinische Maßnahmen, die das Überleben Schwerstkranker ermöglichen, unweigerlich zu einem neuen Nachdenken über den Umgang mit Sterben, Tod und über die Begrenztheit menschlichen Lebens. Dabei steht der Wunsch nach einem friedlichen Sterbeverlauf häufig im Konflikt mit der Möglichkeit, durch den Einsatz neuer Techniken Leben auch dort noch zu verlängern, wo dies von den Betroffenen als qualvoll und sinnlos empfunden wird.

Durch die künstliche Befruchtung in Form der In-vitro-Fertilisation haben sich völlig neue Aspekte im Blick auf den Beginn des menschlichen Lebens ergeben. Menschen, die früher auf leibliche Nachkommen verzichten mussten, kann nun mittels dieser Technik in vielen Fällen zu eigenen Kindern verholfen werden. Die dazu nötigen medizinischen Eingriffe in den Organismus der Frau sind zwar aufwändig und für die Frau in vielen Fällen sehr belastend, aber trotzdem ist dies eine gerne in Anspruch genommene Möglichkeit, den Wunsch nach eigenen leiblichen Kindern zu erfüllen. Damit wird der Beginn menschlichen Lebens aber nicht nur vom personalen Zeugungs- und Empfängnisgeschehen getrennt, sondern insgesamt aus seinem natürlichen Zusammenhang (in utero) herausgelöst. Er wird dadurch beobachtbar, beeinflussbar und manipulierbar. Es erfordert nun eine eigene Entscheidung und einen eigenen technischen Vorgang, die befruchtete Eizelle in den Uterus einzupflanzen. Damit entsteht zumindest die Frage, was mit Embryonen geschehen darf oder zu geschehen hat, die aus irgendwelchen Gründen nicht implantiert werden können oder sollen. Schon jetzt ist damit das Geschehen um den Lebensbeginn in einem bislang unbekannten Maß in den Entscheidungs- und Eingriffsbereich menschlichen Handelns gerückt. Das würde sich durch das Bestreben, einen künstlichen Uterus zu entwickeln, und die damit beabsichtigte Ermöglichung einer vollständig extrakorporalen Schwangerschaft noch einmal verstärken und erheblich ausweiten. Dabei ist bislang naturgemäß nicht abzusehen, was dies für ein so entstehendes Kind und für seine Eltern sowie für das Verständnis von Schwangerschaft und Geburt insgesamt bedeuten wird oder bedeuten würde.

Die Genetik hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer Leitwissenschaft entwickelt. Sie prägt derzeit nicht nur die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung, sondern zunehmend auch die klinische Tätigkeit. Auch wenn heute schon häufig genetische Diagnostikverfahren – und in Einzelfällen Gentherapie – in Krankenhäusern und ärztlichen Praxen angewendet werden, sind die Auswirkungen der detaillierten Entschlüsselung des menschlichen Genoms auf die Gesellschaft insgesamt und die Medizin im Besonderen derzeit nur in Ansätzen erahnbar. Es ist jedoch absehbar, dass mit dem größeren Verständnis für physiologische Vorgänge aus Sicht der Genetik grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Umgangs miteinander, der Weiterentwicklung der Sozialsysteme, der unterschiedlichen Rechtsordnungen und der Medizin aufgeworfen werden. So wird beispielsweise die sich ausweitende prädiktive genetische Diagnostik, die individuelle Risikoangaben für unterschiedliche Krankheitsanlagen machen kann, Fragen nach der Definition von Krankheit und Gesundheit neu stellen. Die Entwicklung der Fortpflanzungsmedizin mit ihren vielfältigen Möglichkeiten gibt im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik (im Folgenden: PID) und den Techniken des Klonens Anlass zu grundsätzlichen Überlegungen über zukünftige Bedingungen der menschlichen Fortpflanzung und der Generationenbildung.

In der Grundlagenforschung hat die Zellbiologie, insbesondere die Stammzellforschung, in den letzten Jahren eine zentrale Stellung eingenommen. Sie eröffnet die Möglichkeit, physiologische Vorgänge innerhalb einer Zelle, eines Zellverbandes oder gar die Entwicklung eines tierischen oder menschlichen Organismus in seinem Anfangsstadium zu verstehen und zu beeinflussen. Mit diesen Forschungen verbindet sich deshalb die Hoffnung, dass zukünftig Zellen zur Therapie bei bisher unheilbaren Erkrankungen eingesetzt und Gewebe oder Organe künstlich gezüchtet werden könnten. Wie weit die Chancen zur Realisierung reichen, ist derzeit noch nicht absehbar.

Die Forschungen sowohl in der Genetik als auch in der Biotechnologie sind eng verbunden mit unterschiedlichen und konkurrierenden wirtschaftlichen Interessen. Im Zeitalter der Globalisierung und der daraus folgenden engen internationalen Kooperation und Abhängigkeit hat sich mittlerweile ein neuartiges, fluktuierendes Zusammenspiel von Wissenschaft, wirtschaftlichen Interessen und neuer Informationstechnologie entwickelt, das zum Beispiel den Verlauf der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die Stammzellforschung prägt.

1.2 Gesellschaftliche Erwartungen

Mit dem Fortschritt in Medizin und Biologie verbinden sich teilweise große Hoffnungen auf künftige Therapiemöglichkeiten für Krankheiten, die heute noch unheilbar sind. Es ist verständlich, wenn vor allem Menschen, die von solchen Krankheiten betroffen sind oder sich von ihnen bedroht fühlen, diese Hoffnungen hegen. Mehr noch: Auch aus der Sicht des christlichen Glaubens ist es geradezu geboten, neue, leistungsfähigere Therapiemöglichkeiten zu entwickeln und den Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Zwar ist es richtig und grundsätzlich auch den Betroffenen bewusst, dass neuere und bessere Therapien und sogar die Ausrottung bestimmter Krankheiten weder Krankheit als solche noch gar den Tod aus der Welt schaffen können. Aber das ändert nichts daran, dass die Heilung oder Linderung von Krankheiten einen erstrebenswerten Zugewinn an Lebensqualität bedeutet.

Problematisch werden solche Therapiehoffnungen freilich dann, wenn sie zu weit gehend sind oder wenn von ihrer Erfüllung anderes erwartet wird, als sie leisten können. Auch aus der Sicht der biotechnologischen und medizinischen Forschung wird gelegentlich auf potentielle Therapiechancen verwiesen, um die erforderlichen Forschungsspielräume und -mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen. Andererseits wird aber auch deutlich vor überzogenen Erwartungen gewarnt, die individuell und gesamtgesellschaftlich enttäuscht werden können und dann leicht ins Gegenteil umschlagen.

Der medizinisch-biologische Fortschritt wird aber auch von Befürchtungen begleitet, dass das Geheimnis des Lebens verletzt oder das menschliche Dasein durch Übergriffe manipuliert und verfügbar gemacht werden könnte.

Die Ambivalenz solcher gesellschaftlicher Erwartungen ist teilweise geschichtlich begründet. So ist die Geschichte der Medizin auch und vorrangig eine Erfolgsgeschichte im Blick auf

  • die Therapie und Behandlung auch von einst unheilbaren Krankheiten,
  • Linderungen und Erleichterungen für kranke und behinderte Menschen und
  • einen Beitrag zur beträchtlichen Erhöhung der menschlichen Lebenserwartung.

Dem stehen aber nicht selten gegenüber

  • missbräuchliche, menschenverachtende Methoden medizinischer Forschung,
  • unerwünschte Nebenwirkungen und andere Folgen medizinischer Behandlungsmethoden sowie
  • die Anwendung lebensverlängernder Maßnahmen, die gelegentlich als sinnlos, nur noch leidensverlängernd oder sogar als menschenunwürdig erlebt werden.

Die Ambivalenz der gesellschaftlichen Erwartungen im Blick auf den medizinischen Fortschritt kann aber teilweise auch erklärt und verstanden werden aus einer Angst vor dem Nicht-Planbaren, dem Schicksalhaften und Bedrohlichen des Lebens (einschließlich Krankheit, Behinderung und Tod). Die positiven gesellschaftlichen Erwartungen wären dann Ausdruck der Hoffnung auf Bändigung dieses bedrohlich Schicksalhaften und damit auf einen Zugewinn an souveräner Lebensgestaltung.

Umgekehrt ließen sich dann aber die Befürchtungen verstehen als Angst vor einer Bedrohung, die eben von diesen Errungenschaften für den Menschen ausgehen könnte, z. B. dort, wo er sie selbst nicht mehr durchschauen, kontrollieren und beherrschen kann und wo sie ohne oder sogar gegen sein Wissen und Wollen eingesetzt und angewandt werden. Ihre Zuspitzung erfährt diese Angst häufig im Blick auf das eigene Sterben. Viele Menschen fürchten, dann einer Medizin ausgeliefert zu sein, die ihr Sterben sinnlos verlängert und zur bloßen Qual werden lässt. Von daher erklärt sich auch die in unserer Gesellschaft verbreitete Forderung nach Legalisierung aktiver Euthanasie, die die Möglichkeit eröffnet, selbst über den Schlusspunkt des Lebens zu entscheiden und damit das Verfügungsrecht über das eigene Sterben zu erlangen.

Trotz der großen Fortschritte und Erweiterung ihrer Möglichkeiten kann die Medizin nicht immer das leisten, was von ihr erhofft wird. Das kann auch Folge dessen sein, dass die auf Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod gerichteten Erwartungen oft einen unangemessenen Stellenwert haben. Darin scheint zum Ausdruck zu kommen, dass Gesundheit und Lebenserhaltung für viele Menschen zu den Höchstwerten geworden sind, von deren Erreichung und Erhaltung dann der Sinn des Daseins überhaupt abhängt. Damit wird Heilungserwartung faktisch zur (fehlgeleiteten) Heilserwartung und umgekehrt werden Krankheit und Tod zur absoluten Bedrohung und Infragestellung des menschlichen Daseins.

Demgegenüber ist für den christlichen Glauben die Unterscheidung zwischen dem irdischen Wohl und dem ewigen Heil wesentlich. Ohne eine solche Unterscheidung kann die Annahme und Verarbeitung der Endlichkeit des Daseins nicht gelingen, weil Krankheit, Behinderung, Sterben und Tod dann den Charakter der radikalen Bedrohung und des totalen Sinnverlustes annehmen. Indem die christliche Kirche so unterscheidet, schätzt sie das irdische Wohlergehen nicht gering. Vielmehr wertet sie es als ein begrenztes, vorläufiges, zum Vergehen bestimmtes Gut. Und gerade das Wissen um die Begrenztheit und Endlichkeit macht dieses irdische Leben mit seinen Gütern wertvoll.

1.3 Rechtliche Maßstäbe

Zu den Rahmenbedingungen der Urteilsbildung im Bereich der aktuellen medizinethischen Fragestellungen gehören auch die rechtlichen Bestimmungen. Diese beziehen sich auf den Schutz menschlichen Lebens, aber auch auf die Freiheit der Forschung und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen.

Forschung, die der Heilung von Krankheiten und der Linderung von krankheitsbedingtem Leiden dient, steht wie jede andere Forschung unter dem verfassungsrechtlichen Schutz der Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG). Dieses Grundrecht wird vorbehaltlos garantiert. Es kann daher nicht durch jede dem Gesetzgeber zweckmäßig erscheinende Regelung eingeschränkt werden, sondern nur dann, wenn hierdurch Rechtsgüter geschützt werden, die ihrerseits auf Grund der Wertentscheidungen des Grundgesetzes verfassungsrechtlichen Rang haben.

Dass es sich bei menschlichem Leben um ein höchstrangiges Rechtsgut handelt, ist allgemein anerkannt. Es ist durch Art. 2 Abs. 2 GG ausdrücklich unter den Schutz des Staates gestellt. Zwar erlaubt das Grundgesetz unter engsten Voraussetzungen auch gesetzliche Regelungen, die zur Gefährdung menschlichen Lebens führen können; doch ist anerkannt, dass dies nur dann geschehen darf, wenn anders Gefahren für anderes Leben nicht abgewendet werden können, wie etwa bei der Notwehr oder der Nothilfe. Solange die Forschung an menschlichen Embryonen nur die Chance auf verbesserte Heilmethoden eröffnet, aber offen bleibt, ob die hiermit verbundenen Hoffnungen gerechtfertigt sind, ob andere ethisch und rechtlich unproblematische Methoden nicht den gleichen Erfolg zu erreichen geeignet sind und wann die Anwendung neuer Heilmethoden möglich ist, ist die Vernichtung eines menschlichen Embryos auch zu hochrangigen Forschungszwecken nicht gerechtfertigt.

Freilich ist umstritten und auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht abschließend geklärt, ob der menschliche Embryo schon vom Zeitpunkt der Befruchtung an unter den Schutz des Art. 2 Abs. 2 GG fällt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch (1975 und 1993) [3] entschieden, dass dem nasciturus „jedenfalls vom Zeitpunkt der Nidation“ an der Schutz sowohl des Art. 2 Abs. 2 als auch des Art. 1 GG zukomme. Ob die Zeit von der Befruchtung bis zur Nidation unter dem gleichen Schutz steht, konnte in diesen Entscheidungen offen bleiben, die sich mit der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs befassten. Doch gilt die Feststellung, es handele sich bei dem noch ungeborenen Leben „um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt“ (so in der Entscheidung von 1993) [4], von der Logik dieser Argumentation her bereits für den Embryo von der Befruchtung an. Die Entscheidung von 1993 spricht auch davon, es müsse nicht entschieden werden, „ob, wie Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahe legen, menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht" [5].

Während das Gebot, menschliches Leben zu schützen, unter den dargelegten engsten Voraussetzungen einer Einschränkung zugänglich ist, duldet das grundlegende Gebot der Achtung und des Schutzes der Würde des Menschen (Art. 1 GG) weder eine Einschränkung noch eine Abwägung mit anderen noch so hochrangigen Rechtsgütern. In der Entscheidung von 1975 wird ausdrücklich gesagt, dass die Würde des Menschen jedem menschlichen Leben zukommt: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ [6]

Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts musste dabei nicht abschließend entschieden werden, von welchem Zeitpunkt an das menschliche Leben selbst schon Grundrechtsträger ist. Auch wenn dies zweifelhaft bleibt, gelten die Grundrechtsnormen, insbesondere auch die Art. 1 und 2 (Abs. 2) des Grundgesetzes, nicht nur als individuelle Berechtigungen, sondern als objektives Recht, d.h. als verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts und als Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Ob und wieweit der Staat zum Schutz des werdenden Lebens verpflichtet ist, ergibt sich daher bereits aus den objektiv-rechtlichen Normen des Grundgesetzes [7].

Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen dem Embryo ein grundrechtlicher Schutzanspruch gegen eine verbrauchende Forschung zusteht, hat, wie dargestellt, auch das Bundesverfassungsgericht bisher ausdrücklich offen gelassen. Eine andere und darüber hinaus gehende Frage ist jedoch, ob es in einem Gemeinwesen, das die Achtung und den Schutz der Würde des Menschen zum obersten Leitprinzip allen Handelns gemacht hat, erlaubt sein darf, mit menschlichem Leben so wie mit einem anderen Gut zu verfahren. Über die Feststellung hinaus, dass durch die verbrauchende Forschung an Embryonen, die PID oder das „therapeutische“ Klonen beginnendes menschliches Leben vernichtet wird, muss geprüft werden, welche Folgewirkungen hieraus hinsichtlich der Würde des Menschen entstehen, auch soweit sie nicht beabsichtigt sind, sich aber unvermeidbar ergeben. Und es muss berücksichtigt werden, welche Grenzen im Umgang mit menschlichem Leben sich aus der Forderung ergeben, die Würde des Menschen zu wahren. „Menschenwürde ... ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen“ [8].

Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer sorgfältigen Prüfung auch und gerade der Folgewirkungen, welche die Anwendung der neuartigen Möglichkeiten der Biotechnologie und Medizin nicht nur für das hiervon betroffene individuelle Leben, sondern auch für den Menschen an sich haben müsste. Die künftig vielleicht möglichen Methoden des Eingriffs in die menschliche Keimbahn haben irreversible Auswirkungen für kommende Generationen, und es ist denkbar, dass sich negative Folgewirkungen erst zu einer Zeit ergeben, in der niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, der die Ursachen hierfür gesetzt hat. Bei der Anwendung einer neuen Technik kann erst die Zukunft „... erweisen, ob die Entscheidung für die Anwendung [der neuen Technik] mehr zum Nutzen oder zum Schaden gereichen wird“. Dies ist eine „notwendigerweise mit Ungewißheit belastete Situation“. „In einer Situation, in der vernünftige Zweifel möglich sind, ob Gefahren ... eintreten oder nicht eintreten werden, sind die staatlichen Organe ... aus ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht, dem gemeinen Wohl zu dienen, insbesondere wegen der aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden objektiv-rechtlichen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu schützen, gehalten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen, verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen.“ [9]

Der Gesetzgeber hat nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen Einschätzungsspielraum hinsichtlich der Folgen der von ihm erlassenen Regelungen. Diese Einschätzungsprärogative wird umso enger, je bedeutsamer die auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter sind. Bei menschlichem Leben handelt es sich in rechtlicher Hinsicht um einen „Höchstwert“, der besonders strenge Anforderungen an die Tätigkeit und Verpflichtung des Gesetzgebers stellt: Er kommt „seiner verfassungsrechtlichen Pflicht, dem gemeinen Wohl zu dienen, insbesondere wegen der aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden objektiv-rechtlichen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu schützen“, nur nach, wenn er „alle Anstrengungen“ unternimmt, „um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen“ [10].

1.4 Ethische Herausforderungen

Der biomedizinische Fortschritt ist zu einer Quelle ständig neuer ethischer Beunruhigung geworden. Sie bezieht sich auf die Frage nach den Grenzen, die im Umgang mit menschlichem Leben zu respektieren sind. Dass es solche Grenzen gibt, wird von kaum jemandem bestritten. Umstritten ist, wie sie zu ziehen sind.

Die Verständigung über diese Frage ist aus mehreren Gründen schwierig. Ein Grund liegt in der Neuartigkeit der Probleme. Die Einstellung unserer Kultur dem menschlichen Leben gegenüber hat sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt, während dessen man sich die heutigen medizinischen Möglichkeiten nicht hat vorstellen können. So lag die Möglichkeit extrakorporaler Befruchtung in der Vergangenheit außerhalb des Blickfelds der Ethik. Das erklärt einen Teil der heutigen Unsicherheit im ethischen Urteil.

Auch dort, wo man auf dem Hintergrund der gemeinsamen ethischen Tradition in den Grundsätzen übereinstimmt, kann strittig sein, wie sie auf die neuartigen Probleme zu beziehen sind. So kann Einigkeit darüber bestehen, dass den Menschen eine besondere Würde auszeichnet, und doch gleichzeitig Uneinigkeit, von welchem Zeitpunkt des menschlichen Lebens an diese Würde als gegeben vorauszusetzen ist und was diese Würde konkret bedeutet.

Hinzu kommt, dass bei der ethischen Beurteilung unterschiedliche Gesichtspunkte unterschiedlich gewichtet werden. Während in einer Sichtweise eher die medizinischen Chancen und Risiken im Vordergrund stehen, ist eine andere Sichtweise geleitet von einer Auffassung des menschlichen Lebens, die mehr umfasst als nur das, was in medizinisch-biologischer Perspektive an ihm feststellbar ist. Die Auseinandersetzung um den so genannten „Status“ des Embryos betrifft dieses „Mehr“, das dieser über seine biologischen Eigenschaften hinaus ist.

Die Konsensfindung in ethischen Fragen der Medizin und Biologie wird auch dadurch erschwert, dass häufig Einschätzungen eine ausschlaggebende Rolle spielen, die sich nicht mit letzter Sicherheit treffen lassen und bei denen man mit guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein kann. Teilweise geht es um Entscheidungen, bei denen jede Option mit einem Dilemma behaftet ist und bei denen nicht mit letzter Sicherheit auszumachen ist, welche das geringere Übel darstellt. Bei manchen anderen Problemen geht es nicht einfach um die Alternative zwischen richtig oder falsch, gut oder böse, sondern um Konflikte, für die eine Regelung gefunden werden muss und bei denen jede „Lösung“ moralische Skrupel auf sich ziehen kann. Schließlich spielen in vielen Fällen Zukunftserwartungen und Prognosen eine Rolle, die ihrer Natur nach mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind.

Bei alledem ist mit zu bedenken, dass aus evangelischer Sicht zur ethischen Verantwortung die Sensibilität für die Individualität des Menschen und seine je besondere Situation gehört. Deshalb steht die evangelische Ethik in einem kritischen Verhältnis zu einer Prinzipienethik, die den einzelnen Menschen ausschließlich nach allgemeinen Regeln behandelt wissen will. Das schließt nicht aus, sondern sehr wohl ein, dass Normen und Regeln auch in der evangelischen Ethik eine wichtige Rolle spielen. Sie tun dies, insoweit sich das, was sie formulieren, im Sinne der Liebe als der christlichen Leitorientierung verstehen lässt. Doch weil Liebe auch an der Bedürftigkeit der Person in ihrer spezifischen Individualität orientiert ist, können solche Normen und Regeln unter dem Vorbehalt stehen, dass es Einzelfälle gibt, die nicht unter sie zu fassen sind und die möglicherweise überhaupt nicht nach Regeln behandelt werden können. Die ethische Tradition spricht diesbezüglich von „Einzelfallgerechtigkeit“ und stimmt darin weitgehend mit dem überlieferten Prinzip der „Billigkeit“ überein. Gerade die Medizinethik ist voll von Beispielen, die zeigen, wie problematisch ein rein prinzipienorientiertes Denken sein kann, das über den Einzelfall hinwegsieht.

Das heißt allerdings nicht, dass die evangelische Ethik sich nun umgekehrt einseitig zum Anwalt des Einzelfalls und der Grenzfälle machte. Einzelfallgerechtigkeit und Grenzfälle gibt es nur, wo es allgemeine Regeln gibt. Daher besteht die ethische Aufgabe zunächst darin zu verstehen, welche Regeln um der Liebe willen, d. h. im Interesse des Schutzes und der Förderung des Anderen auch in seiner Bedürftigkeit und Verletzlichkeit, Geltung besitzen und Beachtung verdienen. Aber es gehört sodann doch auch dazu, die Grenz- und Einzelfälle wahrzunehmen, die sich nicht unter allgemeine Regeln fassen lassen. Solche Sensibilität fürs Individuelle ist ein wesentliches Merkmal einer Haltung, die im Christentum als Liebe beschrieben wird. Man kann diese Haltung aufgrund ihres Ursprungs im Geist Gottes auch als Geist der Liebe bezeichnen, der mit dem christlichen Glauben untrennbar verbunden ist.

Schon aufgrund der skizzierten Dialektik von Regelfall- und Einzelfallgerechtigkeit ist es nicht überraschend, wenn es in medizinethischen Fragen auch im Raum der Kirche unterschiedliche, einander widersprechende Auffassungen gibt. Solche ethischen Differenzen sind jedoch umso schwerer auszuhalten, je stärker sie die Grundfragen des Menschseins und die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens berühren. Was Christenmenschen bei diesen Fragen verbindet oder jedenfalls verbinden sollte, ist ihr Glaube und die darin begründete Sicht des Menschen und des menschlichen Lebens. Diese Sicht muss den Ausgangspunkt bilden für alle Überlegungen in dieser Sache. Unterschiede kann es gleichwohl in der Beurteilung medizinethischer Einzelfragen geben. Das macht das Ringen um größtmögliche Klarheit und Einmütigkeit in der ethischen Auseinandersetzung nicht überflüssig, sondern erfordert es - auch dort, wo diesem Ringen nur begrenzter Erfolg beschieden ist. Denn in evangelischer Perspektive hängt die Überzeugungskraft einer kirchlichen Verlautbarung davon ab, ob und in welchem Maße sie zu einer begründeten Urteilsbildung des Einzelnen beitragen und die dazu aus theologischer und kirchlicher Sicht relevanten Überlegungen und Argumente zur Verfügung stellen kann.

Die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD hat dies bei ihrer eigenen Beschäftigung mit den ihr aufgetragenen Fragen der Medizin- und Bioethik auch selbst erfahren. Trotz intensiven Bemühens war es ihr nicht möglich, zu einer einmütigen, gemeinsam getragenen Position zu kommen. Diesem Dissens trägt die Kammer dadurch Rechnung, dass sie im Folgenden an verschiedenen Punkten unterschiedliche Argumentationslinien nebeneinander darstellt, die in den Diskussionen einander unüberbrückbar gegenüber standen und sich nicht miteinander verbinden ließen. Dabei bilden die Argumentationslinien insofern idealtypische Konstrukte, als sie jeweils in sich Facetten und Varianten aufweisen, die hier um der Übersichtlichkeit willen allenfalls angedeutet, aber nicht mit gleicher Deutlichkeit ausgeführt werden können wie die Hauptlinien. Es ist auch nicht so, dass sämtliche Kammermitglieder eindeutig und vollständig einer dieser beiden Argumentationslinien zustimmen.

Die Kammer hat diese Form der Darstellung ihrer Arbeitsergebnisse gewählt, um die bestehenden Dissense nicht zu verschleiern, sondern durchsichtig zu machen und um damit einen Beitrag zu einer möglichst offenen argumentativen Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche zu leisten. Wenn am Ende des Textes gleichwohl der Versuch gemacht wird, Gemeinsamkeiten zu benennen, die trotz dieser Dissense bestehen, so dient dies nicht einer sachlich unbegründeten Harmonisierung, sondern dem Aufweis der tatsächlich bestehenden Übereinstimmungen, die weitere Bemühungen um eine gemeinsam getragene Position lohnend erscheinen lassen.

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