Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen

2. Die christliche Sicht des Menschseins und des menschlichen Lebens

Zum christlichen Verständnis des Menschseins gehört die Gewissheit, dass die Menschwerdung des Menschen erst vollendet sein wird, wenn Gott ihn von den Toten auferwecken und verherrlichen wird zum ewigem Leben in seinem kommenden Reich. Was Gott derart vollenden will, steht von Anfang an und bis in den Tod hinein unter dem Schutz seiner schöpferischen Liebe. Der christliche Glaube nimmt deshalb bis zum letzten Atemzug den sich entwickelnden Menschen im Geist dieser Liebe wahr, der auch die ethischen Kontroversen über die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens bestimmen sollte.

Diese Frage nach der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien ist die Schlüsselfrage heutiger Medizinethik. Je nachdem, wie sie beantwortet wird, ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die verschiedenen medizinethischen Problemfelder.

In christlicher Sicht hat der Mensch eine herausgehobene Stellung, die sein Leben von allen übrigen Formen des Lebens unterscheidet. Diese ist nicht in seinen biologischen Eigenschaften begründet, sondern im Personsein des Menschen. Deshalb ist es notwendig, zwischen einer biologischen und einer personalen Perspektive auf das Menschsein zu unterscheiden.

In biologischer Perspektive lässt sich feststellen, ob bestimmte Zellen oder Organismen der Spezies „Mensch“ bzw. „Homo sapiens (sapiens)“ angehören. Ebenso lässt sich biologisch feststellen, in welcher Entwicklungsphase sie sich befinden. In keinem Fall kann aber in biologischer Perspektive das erfasst werden, was mit dem Ausdruck „Mensch als Person“ gemeint ist.

Diese Kennzeichnung erschließt sich erst in der darüber hinaus gehenden Perspektive personaler Kommunikation. In dieser personalen Perspektive haben wir nicht eine Sache vor uns, die sich definieren und einordnen und über die sich verfügen ließe, sondern eine Person, die für andere unverfügbar bleibt.

Alle Aussagen, die der Sphäre des Menschlichen eine besondere Auszeichnung zuerkennen - die Gottebenbildlichkeit, die Rechtfertigung des Sünders, das Gebot: „Du sollst nicht töten“ -, beziehen sich auf den Menschen als Person.

Das christliche Verständnis der Person unterscheidet sich dabei von einem anderen Verständnis, das in der heutigen medizinethischen Diskussion nicht selten vertreten wird. Diesem zufolge ist das Personsein in bestimmten Eigenschaften wie Bewusstsein oder dem Haben von Interessen begründet. Wesen, die über diese Eigenschaften nicht verfügen, sollen hiernach keine Personen sein. Das betrifft auch Menschen ohne Bewusstsein. Nach christlichem Verständnis gründet demgegenüber das Personsein nicht in Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern in einem Anerkennungsverhältnis. Der Mensch verdankt sein Sein als Person der vorbehaltlosen Anerkennung durch Gott, die zur wechselseitigen Anerkennung der Menschen untereinander verpflichtet. Insbesondere evangelische Theologen betonen den relationalen Charakter der Person: Person ist jemand nur in Beziehung – grundlegend zu Gott, in Folge dessen auch zu seinen Mitmenschen und zu sich selbst. Daher ist eine Frage wie die, ob es sich bei vorgeburtlichem Leben um personales Leben handelt, recht begriffen eine Frage nach den Beziehungen, in die dieses Leben gestellt ist, und auch nach der Beziehung, in der wir selbst zu diesem Leben stehen. Die Vorstellung, dessen personaler Charakter ließe sich aufgrund biologischer Gegebenheiten an ihm selbst aufweisen, führt daher in die Irre.

Worin ist dann aber die Bezogenheit begründet, der personales Sein sich verdankt? Was verpflichtet dazu, in jedem Menschen eine Person zu sehen und anzuerkennen, und zwar auch in demjenigen, der sich von sich her nicht als solche erkennen zu geben vermag? In christlicher Sicht verdankt sich personales Sein der schöpferischen Kraft der Liebe Gottes, die sich den Menschen zum personalen Gegenüber erschafft, und zwar in jedem neuen Werden eines Menschen. Diese schöpferische Liebe Gottes liegt allen geschöpflichen Beziehungen voraus und zugrunde. Sie findet ihre Antwort und Entsprechung in dem Geist der Liebe, in dem Menschen sich aufeinander als Personen beziehen und einander als solche achten. In dieser zwischenmenschlichen Achtung findet einerseits die Würde des anderen Menschen Anerkennung, dem diese Achtung zuteil wird. Andererseits gehört es aber auch zu meiner eigenen Würde als Mensch, den anderen als Person anzuerkennen und zu achten. Menschen verletzen folglich nicht nur die fremde, sondern auch ihre eigene Würde, wenn sie dem Mitmenschen die Achtung schuldig bleiben oder verweigern, die ihm als Person zusteht. Personales Sein ist hiernach nicht so naturgegeben, wie dies die genetische Ausstattung des Menschen ist. Es verdankt sich einem Beziehungsgeschehen. Darin liegt zugleich seine mögliche Gefährdung. Zwar kann keinem Menschen sein Personsein genommen werden, da dieses in seiner vorbehaltlosen Anerkennung durch Gott gründet. Aber es kann ihm doch die geschuldete Achtung als Person vorenthalten oder verweigert werden.

Zu solcher Achtung der Person gehört der Respekt vor der Tatsache, dass eine Person die Freiheit behalten muss, von sich aus mitzuteilen, wer sie ist, was sie will, was sie fühlt und wie sie etwas wahrnimmt. All das kann nicht von außen über sie verfügt werden. Insofern bleibt sie als Person der Fremdbestimmung von außen entzogen, und zwar auch dort, wo sie nie in ihrem bisherigen Leben sich ihrer selbst bewusst gewesen ist oder zu all dem hat äußern und ihrer Umgebung verständlich machen können. Das unterscheidet die Person eines Menschen von seinem Körper bzw. Organismus, der von außen an ihm wahrgenommen und beschrieben werden kann. Zur Achtung der Würde der Person gehört der Respekt vor deren Selbstbestimmung hinsichtlich dessen, was sie in ihrer spezifischen Individualität, ihrem Wollen, Fühlen und Denken ausmacht. Diese Selbstbestimmung schließt das Verhältnis zum eigenen Leib und den verantwortlichen Umgang mit ihm ein. Dieser Punkt ist von grundlegender Bedeutung für viele medizinethische Fragen.

Die ethischen Konsequenzen der christlichen Perspektive auf den Menschen und auf das menschliche Leben beschränken sich natürlich nicht auf den Bereich der Medizin. Vielmehr betreffen sie alle Lebensbereiche. In der gemeinsamen Erklärung der Kirchen von 1989 „Gott ist ein Freund des Lebens“ wird dies für die Bereiche Erziehung, Medien, Rechtsordnung, Forschung, Technik, Wirtschaft und Gesundheit verdeutlicht [11]. Demgegenüber konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf einige jener medizinethischen Fragen, die heute im Zentrum der öffentlichen Diskussion stehen.

Nicht übersehen werden sollte dabei eine gewisse Einseitigkeit in der öffentlichen Aufmerksamkeit und medizinethischen Sensibilität. Im Zentrum stehen gegenwärtig Fragen, die durch die Forschungen in Biologie und Medizin in den reichen Ländern aufgeworfen werden, wie z. B. der Status des menschlichen Embryos, die Fortpflanzungsmedizin, die Organtransplantation und die Sterbehilfe in ihren verschiedenen Formen. Das sind wichtige Fragen, die der Klärung bedürfen. Doch wenn gelten soll, dass alle Menschen an derselben Würde teilhaben und dass ihnen daher gleiches Recht auf Leben zukommt, dann müssten eigentlich auch die Fragen in der medizinethischen Diskussion einen hohen Stellenwert haben, die die Bekämpfung von Krankheit in den weniger entwickelten Ländern betreffen. Die Einseitigkeit, mit der die medizinische Forschung auf die Bedürfnisse der reichen Gesellschaften hin orientiert ist, ist ethisch problematisch. Aufgrund dieser Entwicklung sind wichtige ethische Herausforderungen in den Hintergrund der Diskussion getreten. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, von wo aus und von wem die Tagesordnung der als ethisch relevant empfundenen Probleme bestimmt wird. Auf diese Problematik kann hier nur hingewiesen werden.

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