Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen

"Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen"

Am 30. Januar 2002 und am 25. April 2002 hat der Deutsche Bundestag nach einer langanhaltenden und breit geführten öffentlichen Auseinandersetzung und nach einem intensiven parlamentarischen Diskussionsprozess eine Grundsatzentscheidung zur Frage der Zulässigkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen in der Bundesrepublik Deutschland gefällt und ihr Gesetzesform gegeben. Diese Entscheidung stellt einen von einer Mehrheit des Bundestages quer durch alle Parteien getragenen Kompromiss dar, der Zweierlei zu verbinden versucht: das Nein zur Tötung von Embryonen für Forschungszwecke und die Ermöglichung der Forschung an embryonalen Stammzellen. Dieser Kompromiss wurde dadurch erreicht, dass nur embryonale Stammzellen für die Forschung zugelassen werden, die bereits vor dem 1. Januar 2002 gewonnen worden waren. [1]

Dieser Beschluss und die ihm folgende Gesetzgebung haben die öffentliche Diskussion über die Stammzellforschung nicht beendet. Das hat unterschiedliche, teilweise einander entgegengesetzte Gründe. Für diejenigen, die aus ethischen Gründen die Zulassung der Forschung an embryonalen Stammzellen grundsätzlich ablehnen [2], geht der gefundene Kompromiss zu weit. Manchen Befürwortern der Stammzellforschung geht diese Lösung hingegen nicht weit genug, weil sie mit zu vielen Einschränkungen und Bedingungen verbunden ist. Wieder andere halten den Kompromiss für in sich widersprüchlich und darum für ethisch problematisch, weil durch ihn die Tötung von Embryonen zwar abgelehnt, deren Resultat aber für Forschungszwecke in Anspruch genommen wird.

Auch wer der Auffassung ist, dass der Bundestagsbeschluss vom 30. Januar 2002 samt seiner rechtlichen Umsetzung einen ethisch akzeptablen Kompromiss darstellt, wird schwerlich behaupten können, dass die ihm zugrunde liegenden Kontroversen und Wertekonflikte damit beendigt und zu einem befriedigenden Abschluss gebracht worden seien. Die Grundfragen nach dem Beginn des Menschseins und nach dem Status von Embryonen, nach dem Verhältnis von Lebensschutz und medizinischer Forschung, nach dem Schutzniveau für Embryonen in utero und in vitro sowie eine Vielzahl anderer medizinethischer Probleme sind nach wie vor in unserer Gesellschaft und auch in unserer Kirche umstritten.

Der Entscheidungsprozess, der zum Stammzellengesetz führte, hat in mehrfacher Hinsicht exemplarischen Charakter:

  • Entwicklungsschübe in Biotechnologie und Medizin nötigen immer öfter zu einer Urteilsbildung über Leben und Tod, die in dieser Intensität bislang kaum Gegenstand politischer Entscheidungsprozesse war.
  • Die Entscheidungen müssen getroffen werden in einem Gemeinwesen, das in sich pluralistisch ist und eingebunden in internationale Zusammenhänge.
  • An den Einzelfragen brechen religiöse und weltanschauliche Überzeugungskonflikte auf. In dieser Situation müssen die Werte, auf denen unser Zusammenleben basiert, sich neu bewähren.

Die Kammer für Öffentliche Verantwortung legt in dieser Diskussionssituation dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland auftragsgemäß ihr Votum zu medizinethischen Fragen im Umgang mit dem menschlichen Leben vor. Sie hofft, damit einen Beitrag zu einer differenzierten Fortsetzung dieser Diskussion zu leisten, auch wenn (und gerade weil) sie dazu zwar reflektierte evangelische Auffassungen vorlegt, aber keine abschließenden Lösungen anbieten kann.

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