20 Jahre friedliche Revolution

Materialien für Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen

III. Hintergründe

Leipzig – von den Friedensgebeten zur friedlichen Revolution

Christian Führer

Im Herbst 1989 wurde die Nikolaikirche zu Leipzig in ganz Deutschland bekannt. Die "chinesische Lösung" war befürchtet worden, doch es kam ganz anders. Schon 1981 gelang in der Nikolaikirche der Versuch, der gerade in Ost und West entstandenen Protestbewegung gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen, der "Friedensdekade", in Leipzig Raum und Gehör zu verschaffen.

In einer 22-Uhr-Andacht mit etwa 120 Jugendlichen im Altarraum der Kirche, unter ihnen ein großer Anteil Nichtchristen, kam bei der Kerzenmeditation alles aus den Jugendlichen heraus, was quälte und wütend machte. Eine ungeheuer befreiende Wirkung breitete sich aus. Kirche als Freiraum, geistig und quadratmetermäßig, in einer Gesellschaft, die alles vorschreibt und kontrolliert: Das ist es!

Wenn wir die Kirche öffnen für alle, die draußen zum Verstummen gebracht, die diffamiert oder gar inhaftiert werden, dann kann niemand mehr auf den Gedanken kommen, die Kirche sei eine Art religiöses Museum oder ein Tempel für Kunst-Ästheten. Sondern dann ist Jesus real präsent in der Kirche, weil wir zu tun versuchen, was Jesus tat, und was er will, dass wir's heute tun. Das ist die Geburtsstunde der offenen Stadtkirche auch für die Protest- und Randgruppen der Gesellschaft.

Keine Konzeption, am Schreibtisch entwickelt. Sondern entstanden mit den Menschen, die die Kirche aufsuchten. Die Kirchentüren auf! Die geöffneten Türflügel einer Kirche sind wie die ausgebreiteten Arme JESU: "Kommt her zu MIR, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ICH will euch erquicken!" Und sie kamen und kommen! Die Schwelle ist niedrig sowohl für Rollstuhlfahrer als auch für Atheisten.

1982 spitzte sich die Lage im sozialistischen Lager zu. Die Friedensdekaden in der DDR, Solidarność in Polen und Charta 77 in der Tschechoslowakei standen für widerständisches Denken und Handeln, während die Hochrüstung auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze unerhört forciert wurde. In dieser Situation forderte eine Gruppe der Jungen Gemeinde, die Friedensgebete ebenfalls zu forcieren, statt an nur 10 Tagen im Jahr wöchentliche Friedensgebete durchzuführen. Die Frauen und Männer des Kirchenvorstandes der Nikolaikirche stimmten zu. So gibt es ab September 1982 Woche für Woche montags 17 Uhr ein Friedensgebet in der Nikolaikirche.

Ohne dass einer ahnte, was daraus einmal werden würde, waren in aller Stille drei entscheidende Wurzeln für die friedliche Revolution gewachsen: Friedensdekade, "Nikolaikirche offen für alle", wöchentliche Friedensgebete ohne Unterbrechung, immer an derselben Stelle, im Herzen der Großstadt – ein singulärer Vorgang in der DDR.

Während Honecker und sein Zentralkomitee unbelehrbar "die mit Hingabe betriebene Abschaffung der Wirklichkeit" praktizierten, wuchs eine Protestmasse ganz anderer Art heran: die Ausreisewilligen. 1987 bekam ich intensiv mit ihnen zu tun. Auf ihr Drängen hin gründete ich einen Gesprächskreis "Hoffnung für Ausreisewillige".

Damit geriet die Nikolaikirche immer stärker ins Visier staatlicher Observierung und strategischer Aufmerksamkeit.

Als im Januar 1988 auf der staatlich verordneten Gedenkdemonstration für Liebknecht und Luxemburg in Berlin die Träger des selbstgefertigten Plakates mit dem Rosa-Luxemburg-Wort von der "Freiheit der Andersdenkenden" verhaftet wurden, kamen knapp 100 Jugendliche zur Nikolaikirche und forderten tägliche Fürbittandachten für die Berliner Verhafteten. Mit ihrer Zustimmung gingen die Frauen und Männer des Kirchenvorstandes ein hohes Risiko ein. Waren die Friedensdekaden mit 200 bis 300 Teilnehmern und Teilnehmerinnen immer gut besucht, so kamen zu den wöchentlichen Friedensgebeten nur etwa 10 bis 15 Personen. Das änderte sich jetzt schlagartig. Knapp 100 waren es nun montags bis donnerstags bei den Fürbittandachten für die Berliner Inhaftierten. Auch die Ausreisewilligen nutzten zunehmend diese Gelegenheit zum täglichen Treffen und lieferten sich z. T. öffentliche Auseinandersetzungen mit den Basisgruppenvertretern in der Kirche. Daraufhin lud ich etwa 50 Ausreisewillige extra zu einem Gesprächsabend "Leben und Bleiben in der DDR" in die Nikolaikirche ein. Dieser 19. Februar 1988 hatte ungeahnte Folgen. Statt der 50 kamen 600. Sie erlebten den Abend so positiv, dass sie am Ende fragten, ob auch sie zu den Friedensgebeten willkommen seien, auch wenn sie Nichtchristen sind. Keine Frage: "Nikolaikirche – offen für alle" gilt auch für sie! Und so kamen von nun an, vom Montag darauf, Hunderte Menschen zum Friedensgebet. Das war einmalig in der DDR: eine spannungsgeladene "Notgemeinschaft" von Basisgruppenvertretern und Ausreisewilligen in dieser Größenordnung unter einem Kirchendach! Es war zugleich die vierte entscheidende Wurzel für den 9. Oktober. Die ungeteilte staatliche Aufmerksamkeit war der Nikolaikirche nun endgültig sicher!

Der Wahltag am 7. Mai 1989 lief zwar äußerlich wie gewohnt ab, hatte aber einige völlig unerwünschte Nebeneffekte: In fast allen Wahllokalen fanden sich zur Auszählung kritische Beobachter ein, die durch die Basisgruppen vernetzt waren.

In einer Ergebniszusammenstellung "Der Wahlfall" konnte nachgewiesen werden, dass die staatlichen Wahlergebnisse in beachtlicher Größenordnung gefälscht waren.

Einen Tag später, am 8. Mai, begann das Ende der DDR: Vor dem Friedensgebet wurden alle Zufahrtsstraßen zur Nikolaikirche durch Polizeiketten besetzt. Doch die abschreckende Wirkung blieb aus. Im Gegenteil! Je mehr Kontroll- und Abschreckungsmaßnahmen ergriffen wurden, umso mehr Menschen kamen in und vor die Nikolaikirche!

Vor dem ersten Friedensgebet nach der Sommerpause wurde der Kirchenvorstand in das Rathaus bestellt und dringend aufgefordert, mit dem Friedensgebet eine Woche später zu beginnen, was wir ablehnten. Der Grund war klar: Der 4. September war der Montag in der Messewoche. Da hatten die westlichen Fernsehteams eine pauschale Drehgenehmigung für die Stadt und konnten sich frei bewegen. Als wir nach dem Friedensgebet aus der Kirche kamen, standen die westlichen Kameras im Halbkreis aufgebaut. Plötzlich wurde von Jugendlichen ein Spruchband entrollt: "Für ein offenes Land mit freien Menschen". Die Stasileute entrissen es ihnen auf rüde Weise – alles vor laufenden Kameras. Die Bilder gingen um die Welt. Und via Westfernsehen durch die DDR. Nun kamen noch mehr Menschen, aus allen Teilen der Republik, nach Leipzig in die Nikolaikirche.

Die Friedensgebete in der Nikolaikirche und die Vorgänge auf dem Nikolaikirchhof bekamen ihren festen Platz in den Nachrichtensendungen von ARD und ZDF.

Die Nikolaikirche war zum bestbewachten Platz der Republik geworden.

In der Kirche spielte die Bergpredigt von Jesus mit ihrer radikalen Ablehnung der Gewalt eine besondere Rolle. Draußen, auf dem Platz, konnte man gleich die Gewaltlosigkeit praktisch unter Beweis stellen, wenn die wahllosen und unbegründeten Verhaftungen, genannt "Zuführungen", begannen. Sie schockierten uns im September 1989. Bis auch hier ein Vorschlag der Basisgruppenleute einen gewissen Ausweg anbot: "Bevor du im Lastwagen verschwindest, schreie deinen Namen auf die Straße! Irgendeiner kennt dich oder hört deinen Namen, schreibt ihn auf. Und du, Pfarrer, gehst nach dem Friedensgebet ins Pfarramt. Dort geben wir die Namen ab." So geschah es. Eine Liste, natürlich unvollständig, mit den Namen von Inhaftierten entstand. Früh setzten sich die Superintendenten mit den staatlichen Stellen in Verbindung: "Folgende Jugendliche sind heute Nacht nicht nach Hause gekommen...". Die Namensliste hängten wir an unsere Info-Wand in der Kirche, so dass sich jeder informieren konnte, ob sein Angehöriger, Mitschüler, Kollege, Kommilitone etc. unter den Verhafteten war. Bald kamen Jugendliche auf den Einfall, die Namen der Inhaftierten groß auf Zeichenblock zu schreiben und an die Ziergitter der Kirchenfenster neben dem Eingang zu heften. Die Versuche der Stasi, nachts die Namenslisten abzureißen, spornten die Jugendlichen an, die Listen noch größer zu schreiben und noch höher zu hängen. So blieben sie schließlich – und Blumen tauchten auf, neben die Namen gesteckt, Kerzen auf dem Bürgersteig bis hin zur Vase mit Blumen und Schleife: "Kopf hoch, Maik! Dein Arbeitskollektiv!" Ein wunderbarer, bis dahin nie erlebter Vorgang: Tag für Tag, Tag und Nacht kamen Menschen, brachten Blumen, zündeten Kerzen an, blieben stehen, sprachen miteinander.

Den staatlichen Behörden war dies ein Dorn im Auge. Den Montag als "Chaostag" hatten sie "im Griff", wie auch immer. Aber nun jeden Tag dieser Anblick, fünf Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, mitten in der Stadt, als permanente Anfrage an diese Vorgänge: Verhaftung ohne jede Begründung, ohne Haftbefehl – was für ein Staat ist das!

Anruf von der Stadt: "Herr Pfarrer, Sie sind für Ordnung und Sicherheit vor Ihrer Kirche verantwortlich. Räumen Sie die Blumen weg und die Kerzen und Wachsreste vom Bürgersteig, damit die älteren Bürger nicht ausrutschen." Darauf ich: "Sie haben uns schon so gut wie alles verboten. Trauer und Schmerz lassen wir uns nicht auch noch verbieten. Räumen Sie es selber weg!"

Eines Nachts dann im September, ich konnte es vom Balkon unserer Wohnung aus sehen, kam die Stadtreinigung mit Schaufeln, Besen und Schneeschiebern. Voll Trauer dachte ich: jetzt haben sie dich überlistet. Die Frauen und Männer erledigten ordentlich ihren Auftrag, räumten die verwelkten Blumen weg, säuberten den Bürgersteig von Wachs und Kerzen. Und - nahmen plötzlich zu meiner Verwunderung aus dem Kerzenresthaufen alle Kerzen, die noch zu gebrauchen waren, säuberten sie, zündeten sie an und stellten sie in die Fenster der Nikolaikirche! Ein tiefes Gefühl der Freude überkam mich: So geht das jetzt!

Sie fragen nicht mehr: Dürfen wir das? Sie fragen nicht nach einem Vorgesetzten, der für sie entscheidet. Sie denken selbst, entscheiden selbst, handeln selbst!

So kam der 9. Oktober heran, der Tag der Entscheidung. Die überraschende und wunderbare Frucht der jahrelangen, ununterbrochenen Friedensgebete und der Aufnahme von Protest- und Randgruppen der Gesellschaft in der Nikolaikirche war herangereift! An diesem Tag wurde die Nikolaikirche im Verbund mit den anderen Innenstadtkirchen zum Ausgangspunkt der gewaltlosen Demonstration der 70.000 und damit zum Kernpunkt der friedlichen Revolution überhaupt. Als die Demonstranten – Kinder waren nicht dabei, weil es lebensgefährlich war – den Ring passierten und ungehindert am Ausgangspunkt angekommen waren, war die DDR am Abend dieses Tages nicht mehr dieselbe wie am frühen Morgen.

In den folgenden Tagen wurde immer deutlicher, dass das der Durchbruch war, der Tag der Entscheidung. Folgerichtig die Verdoppelung der Zahlen der Demonstranten an den Montagen nach dem 9. Oktober. Folgerichtig der Rücktritt Honeckers am 18. Oktober und der Rücktritt des Politbüros Anfang November. Das ganze Land zeigte mit Friedensgebeten und Demos Gesicht und wachte auf. Folgerichtig die erste genehmigte Massendemonstration am 4. November in Berlin, bei der keiner mehr befürchten musste, geschlagen oder "zugeführt" zu werden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann und wie die Mauer aufgehen würde.

Am Abend des 9. November kam ich nach einer Gemeindeveranstaltung unserer Nikolaigemeinde erst gegen halb elf nach Hause. Meine Frau und ich besprachen den Abend noch bei einem Glas Wein, die Nachrichten sahen wir nicht mehr. Am nächsten Morgen um sechs Uhr klingelte das Telefon. Ein Bauer aus der Lausitz rief an. Er war Meister in einer Gemüseproduktionsgenossenschaft und mit mir zusammen in der Sächsischen Landessynode, dem obersten Gremium unserer Landeskirche. "Bruder Führer! Glückwunsch nach Leipzig! Das haben wir euch zu verdanken." Ich war noch völlig verschlafen und verstand überhaupt nichts. "Was ist los?", fragte ich. "Haben Sie noch nichts davon gehört? Die Mauer in Berlin. Sie ist seit gestern offen. Und das habt ihr mit euren Gebeten und Demonstrationen in Leipzig erreicht." Ich schaltete sofort den Fernseher an. Ich sah die Bilder, die Pressekonferenz, den Zettel, der herübergereicht wurde. Mir kam dabei ein Satz aus der Apostelgeschichte in den Sinn: "Verstehst du auch, was du da liest?" (Apg. 8,30) Der folgenschwere Versprecher. Die Polizisten, die dastanden und in die Kamera lachten, während um sie herum das Volk die Grenze zum Westen passierte. Sie stempelten Ausweise ab und winkten schließlich nur noch durch. Sie sahen aus, als wären sie froh, mal nicht die Buh-Männer zu sein. Am 9. November war da nur uneingeschränkte Freude. Hinterher hätten wir uns gewünscht, dass wir in die Maueröffnung nicht so hineingestolpert wären. Dass Basisgruppenvertreterinnen und -vertreter die Pressekonferenz überrumpelt hätten und sie mit dieser Botschaft vor die Kameras getreten wären, so wie kurze Zeit später die Stasizentralen besetzt wurden. Vor allem aber, dass es nicht an diesem furchtbaren Datum unserer politischen Unheilsgeschichte geschehen wäre. Wenigstens am 10. November oder jedem Tag danach. Auf alle Fälle noch vor Weihnachten.

Nun ist es so gekommen. Den Menschen war’s egal, wann und wie. Hauptsache: dass! Der 9. Oktober hatte sein spektakulärstes Ziel erreicht. Die Mauer ist vom Osten her durchbrochen worden.

"Keine Gewalt!" und "Wir sind das Volk!" hatten eine Wirklichkeit geschaffen, die neue Maßstäbe setzte, von denen die Staatsmacht total überrascht wurde. "Wir hatten alles geplant, wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete." Nach so viel atheistischer Propaganda und Erziehung ("Euern Jesus hat’s nie gegeben, euer Gefasel von Gewaltlosigkeit ist gefährlicher Idealismus, denn in der Politik zählen Geld, Armee, Wirtschaft, Medien, alles andere kannst du vergessen...") in zwei unterschiedlichen Weltanschauungsdiktaturen, nach Rassenhass zuvor und Klassenkampf danach, nach so viel unwürdiger Anpassung nun "Wir sind das Volk!" und "Keine Gewalt!", die kürzeste Zusammenfassung der Bergpredigt von Jesus. Aus dem Volk geboren und nicht nur gerufen, sondern konsequent praktiziert: ein ungeheurer Vorgang, ein Wunder biblischen Ausmaßes! Wann wäre uns je eine Revolution gelungen? Und beim ersten Mal gleich das Größte, ohne Blutvergießen. Einheit Deutschlands dieses Mal ohne Krieg und Sieg und Demütigung anderer Menschen und Völker.

Dass Gott seine schützende Hand über uns alle – Christen wie Nichtchristen, Basisgruppenleute und Polizisten, Regimekritiker und Genossen, Ausreisewillige und Stasileute, die in den Panzern und die auf der Straße – gehalten hat und uns diese friedliche Revolution gelingen ließ nach so viel brutaler Gewalt, die in diesem 20. Jahrhundert von Deutschland ausging, besonders an dem Volk, aus dem Jesus geboren wurde, das kann ich nur mit dem Wort Gnade bezeichnen: Gnade an den Kirchen, an den Städten und Dörfern, an diesem ganzen Deutschland.

Dieser beispiellose Vorgang in unserer Geschichte verdient es, erinnert und lebendig erhalten zu werden. Der 9. Oktober als Tag der Gewaltlosigkeit und des Volkes eignet sich in hervorragender Weise zu deutschlandweitem Gedenken.



Keine Gewalt! Die Leipziger Friedensgebete und der "Herbst '89"

Hermann Geyer

"Keine Gewalt!" – davon hing an jenem 9. Oktober 1989 in Leipzig alles ab, als an diesem frühen Montagabend 70.000 Menschen in Leipzigs Innenstadt auf die Straße gingen, um unter Einsatz ihres Lebens ein Zeichen zu setzen gegen den angedrohten Exzess der Staats-Gewalt gegen das eigene Volk. Mit dem Ruf: "Keine Gewalt!", mit Liedern und Kerzen traten sie Tausenden von Volkspolizisten gegenüber, etlichen Hundertschaften bewaffneter "Kampfgruppen", mehreren tausend getarnten "Gesellschaftlichen Kräften", dazu Einheiten der Nationalen Volksarmee, die u. a. mit Schützenpanzern gerüstet waren, allein das, noch ohne den riesigen Gesamtkomplex der Staatssicherheit gerechnet, über 10.000 Mann, größtenteils bewaffnet. "Keine Gewalt!" – ohne Zweifel war dieser Abend, für den eine militärische Niederschlagung der Großdemonstration bis hin zum vorab erteilten Schießbefehl minutiös vorbereitet war, die Bewährungsprobe schlechthin für die Friedensgebete, für die Leipziger Opposition und für die auf der Straße im Entstehen begriffene neue Zivilgesellschaft. In diesem historischen Augenblick nahmen sie der Staatsmacht ihre auf Gewalt gestützte Macht aus der Hand und bildeten als wiedererstehender Souverän – "Wir sind das Volk!" – auf Basis strikter Gewaltlosigkeit symbolisch eine zivile Gegengesellschaft. "Keine Gewalt!" – vielleicht ist nirgends sonst so mit Händen zu greifen, dass die christliche wie säkulare Friedensbewegung in der DDR, die sich von Anfang an nie nur mit internationalen Problemen des Wettrüstens und der Konfrontation der Militärblöcke befasste, sondern immer zugleich die innere Gewalt und Militarisierung in der DDR selbst und die ihr folgende Deformation der Gesellschaft kritisierte und Alternativen erarbeitete, dass sie mit ihrem so entschlossenen wie friedenstiftenden Handeln eine Erfolgsgeschichte ist. "Keine Gewalt!" – in vier Kirchen hatten etwa zehntausend Menschen ihrer großen Angst und ihrer brüchigen Hoffnung Ausdruck verliehen, hatten sich ihrer Verantwortung für die Gesellschaft auch gerade jetzt vergewissert, hatten Regeln der Gewaltprävention verinnerlicht, hatten für den Frieden und für die Menschen auf den verschiedenen Seiten der Konfrontation gebetet und hatten, im Geist der Bergpredigt und der Gewaltlosigkeit die Schwelle überschreitend, die sie draußen erwartende noch weit größere Menge mit diesem Geist inspiriert, als diese sich in Bewegung setzte zur ersten Massendemonstration in der DDR. Doch die Lage war am 9. Oktober 1989 derart angespannt und unübersichtlich, dass jeder beliebige Übergriff irgendeines Passanten auf einen Vertreter der Staatsmacht die Kettenreaktion zum nicht mehr zu begrenzenden Gewaltexzess hätte auslösen können. Dass dies nicht geschah, hat über alle erfolgreiche Bemühung hinaus auch andere Dimensionen, die der langjährige Nikolaipfarrer Christian Führer mit seiner Formel vom "Wunder biblischen Ausmaßes" wohl am prägnantesten ausdrückt. Drei Wochen später blickt Christian Führer zurück:

"‚Zwischen Angst und Hoffnung!‘ [...] Wir waren am 9. Oktober über die Maßen beschwert durch Anrufe, Beschimpfungen, Drohungen, Warnungen [...]. Wir waren voller Angst und hatten keine andere Hoffnung als die auf Gott, der Menschen erfassen, ändern und lenken kann.
Und dann machten wir alle die Wende-Erfahrung: Wir alle, d. h. die vielen SED-Genossen in der Kirche, wir anderen, die nie gekannten Massen der Demonstranten, die Angehörigen der Kampfgruppen, der Staatssicherheit und der Deutschen Volkspolizei: Das Furchtbare geschah nicht, – es wendete sich alles zum Guten. Keine Seite verlor das Gesicht. Es gab keine Sieger und Besiegten. Es gab das große Aufatmen und den Anfang der Wende, ihr wißt es alle. Was danach kam und kommt, sind ‚nur‘ noch die Folgen dieser Wende. Wir hatten erlebt, was Menschen schon tausende Jahre vor uns erlebten: ‚Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf Dich, Gott!‘ [...]".

Nikolaikirche, montags um fünf

Der 1989 politisch sehr aktive Kabarettist Bernd-Lutz Lange stellt die 'friedliche Revolution' in einen ursächlichen Zusammenhang mit den Friedensgebeten: "[...] eigentlich ist es ein Wunder, wenn sich da ein paar Leute beginnen in der Nikolaikirche zu versammeln, setzen sich mit 10, 15 Leuten hin, beginnen hier zu beten für die Veränderung im Land, und am Schluß ist eine halbe Million auf dem Ring. Also, wenn das nicht ein Wunder ist!"
In der Tat lässt sich, was 1989 auf dem "Leipziger Ring" geschah, nicht von St. Nikolai trennen – bis hin zum jour fixe montags um fünf, der 1989 der 'friedlichen Revolution' ihren Takt gab im 'Leipziger Modell' von Gebet und Demonstration, die je in ihrer Eigenheit und ihrem Zusammenwirken ihren Beitrag leisteten: das religiös-politische Ritual Friedensgebet in den Kirchen und das säkulare Ritual auf den Straßen.

Friedensgebete in Leipzig

"Friedensgebete" als eigene und auch gelebte Form gab es bereits in den Friedensdekaden von 1980 an als allabendliche Andachten neben anderem Programm. 1982 ergriff die Junge Gemeinde von Leipzig-Probstheida mit Jugenddiakon Günter Johannsen die Initiative zu einem wöchentlichen Gebet durchs ganze Jahr und gewann Pfarrer Christian Führer und Superintendent Friedrich Magirius für die Idee, die am 13. September 1982 in St. Nikolai erstmals umgesetzt wurde. Die Stadtkirche war bewusst gewählt, anderes verdankt sich Zufällen, wie etwa der Zeitpunkt montags um fünf: Zeit zwischen Arbeit und Feierabend, rechtzeitig, bevor der Küster die Kirche schloss; montags, weil da eine Lücke im Wochenkalender war. Welche Bedeutung 1989 die 'Leipziger Montage' für das jeden Dienstag tagende Politbüro bekommen sollten, ahnte noch niemand.

Die Montagsgemeinde: Von oft zwei- bis dreihundert Menschen der ersten Jahre bildeten die Jungen Gemeinden aus Leipzig den Stamm, hinzu kamen politisch unruhige Geister etwa aus der Hausbesetzer-Szene und politischen Gruppen bis zu unzufriedenen Genossen, eine anonyme Stadtöffentlichkeit als 'zweite Gemeinde' der Stadtkirche (M. Neddens) stellte sich ein. Das Friedensgebet der 'offenen Stadtkirche' wurde zur Stadtliturgie.

Eine spezifische Gestalt bildete sich mit der Zeit heraus. Mit den – gesellschaftlich-politischen – "Informationen" und "Zeugnissen der Betroffenheit", mit einer 'niedrigschwelligen' Gestaltung mit Dias, Meditation, Musik, wiederkehrenden Liedern usw. entstand ein Gottesdienst, der auch für mit der Kirche nicht Vertraute mitzuvollziehen war.

Schatten der Macht: Die Stasi war seit Beginn dabei, mokierte sich über die "Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR". 'Der Staat' überwachte das Friedensgebet nicht nur, sondern suchte es, etwa durch gut platzierte "Inoffizielle Mitarbeiter" der Staatssicherheit, auch in Schlüsselpositionen, zu steuern. Ihr Hauptziel '88/'89, die Friedensgebete absetzen zu lassen, schafften die SED und ihre 'Organe' trotz unzähliger Anläufe gerade nicht, doch agierten sie unablässig mit.

Konflikt: Ende der achtziger Jahre entwickelte sich das Friedensgebet zum Sammelpunkt der Opposition. Zu den es bis dahin gestaltenden Basisgruppen kamen 1987 neue hinzu, die politisch radikaler zunehmend die Systemfrage stellten. Sie nutzten das Friedensgebet z. T. gezielt als politische Bühne. Anfang 1988 kamen politisch diskriminierte "Ausreiseantragsteller"-Kreise hinzu, und mit 500 bis 1.000 oder mehr Teilnehmenden mutierte das Friedensgebet – vom 'Staat' hart bedrängt und von der sich als Vermittlerin sehenden Kirchenleitung wiederholt eingehegt – sukzessive zu einem "Forum der Opposition" einerseits und einem Gottesdienst "mit 90 % Nichtchristen" (C. Führer) andererseits. Von unschönen Begleiterscheinungen abgesehen bekam das Nikolaigebet als Konfliktsymbol, an das sich gesellschaftlich virulente Konflikte anlagerten, die hier stellvertretend bearbeitet wurden, für die 'Konsensdiktatur' DDR (M. Sabrow) unerhörte Bedeutung. Hier erwuchs eine unabhängige Gegenöffentlichkeit, die sich – gerade auch in dort öffentlich ausgetragenen Konflikten – funktional differenzierte in drei selbstständige, doch miteinander verbundene Formen von Friedensgebet, Kundgebung auf dem Nikolaikirchhof und zuletzt Großdemonstration. Weil sie in ihrer Verschiedenheit weiteste Kreise zu integrieren vermochten, entwickelten sie '89 große Durchschlagskraft.

Es lässt sich nicht exklusiv sagen, wem das Friedensgebet 'gehört': 'Die Kirche', die Gemeinde St. Nikolai-St. Johannes, 'die' – höchst unterschiedlichen – 'Gruppen', die Opposition, herausragende Persönlichkeiten, die Stadtöffentlichkeit haben ihre unterschiedlichsten Anteile daran. Dass Friedensgebete zu rein politischen Veranstaltungen mutierten, blieb die Ausnahme. Umgekehrt bezogen sie ihre größte geistliche, Menschen bewegende Kraft gerade aus der Spannung zwischen der aufgegriffenen brennenden Herausforderung und dem Evangelium als Botschaft des Friedens und der Hoffnung, die die Situation 'transzendieren' hilft und unter verändertem Blickwinkel neue Handlungsperspektiven eröffnet. In einer Welt des Unfriedens im Blick auf den absoluten Frieden des Gottesreiches – Shalom – "Raum für gelingenden Frieden" zu schaffen, in kritischem Bewusstsein, emanzipatorischem und Frieden stiftenden "Handeln auf Hoffnung hin" gesetzte Grenzen des Denkens und 'der Realität' im Geist der Bergpredigt zu überschreiten, darin entfaltet das Friedensgebet seine 'Mitgift' der christlichen Friedensbewegung.

"Selig sind die sanft Mutigen" – Friedensgebet vom 25. September 1989

"‚Mit Gewalt‘, sagte der Friseurgehilfe,

– das Rasiermesser an meiner Kehle –

‚ist der Mensch nicht zu ändern!‘

Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil.

Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu ändern. Mit Gewalt läßt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter machen, aus einem freien ein Gefangener, aus einem lebendigen ein Toter. Beweise gibt es dafür viele.

Aber einen Versuch würde ich Ihnen nicht raten. Sie hätten mit einem Strafverfahren nach § 129 des St[raf]G[esetz]b[uches] wegen Nötigung zu rechnen [...]."

In angespanntester Lage verzeichnet eine Tonbandmitschrift hier: "Lachen, Klatschen". Lachen und Beifall halten auch noch an, wenn die Sprache auf den Punkt kommt, der die Republik in Atem hält:

"Anders, wenn der Staat selbst den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Wenn der Staat selbst Gewalt androht oder anwendet [...] oder andere dazu auffordert. Wenn der Staat selbst Gewalt androht oder anwendet, hat er nicht mit einem Strafverfahren zu rechnen, ["(Lachen, Beifall)"] aber mit den Folgen: ["(Lachen, Beifall)"]

Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht und sie anwendet, wird selbst ein Opfer der Gewalt. [...]".

Wie es Usus war, hatte die am 25. 9. verantwortliche "AG Menschenrechte" aufgegriffen, was "brennend" aktuell war. Gewalt und Gegengewalt lagen in der Leipziger Luft. Am 11. September waren tausend Friedensgebetsbesucher/innen beim Kirchgang massiv behindert worden. Danach hatten Greiftruppen der Stasi und Bereitschaftspolizei die Menge eingekesselt, Menschen verprügelt, unter Schlägen auf Polizeiwagen verladen und sie unter Misshandlungen inhaftiert. Eine Woche später erschienen 1800. Nach einem Verwirrspiel der Volkspolizei wurden diesmal ca. 100 Personen "zugeführt". Am 25. September forderte der Leiter des Volkspolizeikreisamtes, "daß ein gewaltsames Auflösen einer Zusammenrottung in den Realbereich der Beurteilung aufgenommen werden muß." Das war die Ausgangslage für dieses Friedensgebet.

"‚Mit Gewalt‘, sagte der Friseurgehilfe,

– das Rasiermesser an meiner Kehle –

‚ist der Mensch nicht zu ändern!‘

Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil."

Wonnebergers Predigt spricht nicht ‚über‘ etwas, sondern ist Teil des Geschehens. Die Erzählung nimmt selbst Anteil an der Gewalt, die montags hier regiert, bis am 9. Oktober zuletzt die Volksarmee gegen das Volk in Stellung gebracht ist. Der Prediger und die Menschen in der Kirche sind ebenso Teil des Geschehens wie die draußen. Die martialischen Sicherheitskräfte um die Kirche herum symbolisieren den Regelkreis, dass Gewalt immer nur Gegengewalt erzeugt. Die ‚Folgen‘ spricht Wonneberger mit Matthäus 26,52 an:

"Wer Gewalt übt,

mit Gewalt droht und sie anwendet, wird selbst Opfer der Gewalt.

Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. [...]

Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm tragen. [langer Beifall]

Wer andere blendet, wird selbst blind.

Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. [Lachen, Beifall]

Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen."

Wonneberger ruft auf, das bekräftigte Gewaltmonopol des Staates durch Meinungsbildung, Machtkontrolle und Begrenzung staatlicher Gewalt zu zivilisieren. Die Gewaltspirale zu unterbrechen, erfordere, das Staatswesen in die 'rechte Verfassung' zu bringen. Die Gegenseite kolportierte dies so: "Ziel der Friedensgebete am Montag, 25. 9. 89 sei es gewesen, die Teilnehmer zu einer Straßenschlacht zu provozieren [...]. Wonneberger habe offen zur Gewalt, zur Einmischung in die staatlichen Angelegenheiten und zur Gewalt/Totschlag gegenüber Sicherheitskräften und der Polizei aufgerufen." Er hatte der Staatsmacht den Spiegel vorgehalten. Dass das ein Angriff auf die Fundamente ihrer Macht war, spürte sie genau. Nur dass der just im strikten Gewaltverzicht bestand, konnte sie nicht verstehen. Die theologische Kontur wirkt als solche politisch:

"Angst?
‚Fürchtet euch nicht!
Mir ist gegeben alle Gewalt, im Himmel und auf Erden.‘
– so sagte einst Jesus.

Das war keine Drohung. Das ist keine Nötigung. Dahinter steht kein Machtapparat.

‚Mir ist gegeben alle Gewalt ...‘d. h. innere Kraft und Gewißheit und äußere Glaubwürdigkeit und das heißt für mich: echte Kompetenz: Vollmacht... und daran bekomme ich Anteil, wenn ich verantwortlich denke, glaubwürdig rede, durchschaubar handle.

Dazu lade ich Sie ein, h e u t e.

Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasiapparat, sind Hundertschaften, sind Hundestaffeln nur Papiertiger.

Also: Fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten."

Die Sängerin Christa Mihm singt mit den Anwesenden den Kanon: "Einsam bist du klein ...". Frank Richter gibt einen Bericht über "Gewalt, die von diesem Staat ausgeht", mahnt um so eindringlicher, "strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit [zu] vertreten." Es folgen ins Kyrie mündende Fürbitten für Inhaftierte und Gewaltopfer in Leipzig, der ČSSR und aller Welt, zuletzt "für alle Wehrpflichtigen in der Bereitschaftspolizei, die gegen ihren Willen hier jeden Montag im Einsatz sind". Plötzlich erklingt die Seligpreisung des Herbstes '89: "Selig sind die sanft Mutigen. Sie werden das Land besitzen." Das Lied, das Christa Mihm nun anstimmt, gibt dem Friedensgebet eine unerwartete Wendung. Das zuvor von einzelnen Gesagte geht mit dem Lied, zu dem 2.000 aufstehen und sich die Hände reichen, auf alle über, von den Ohren in die Körper, in Haltung und Bewegung:

"Und dann ‚We shall overcome‘. Ich muß sagen, die Kirche war ja voll wie noch nie. Die Leute saßen tatsächlich bis zum Altarraum und ringsum. Man konnte gar nicht mehr gehen. Viele standen draußen. Und die Verhaftungen vorher verbreiteten eine sehr große Spannung, eine Ernsthaftigkeit. [...] Daß dieses Friedensgebet der emotionale Höhepunkt des Herbstes war, lag wohl daran, daß das erste Mal die Mehrheit sagte: Wir wollen hier bleiben. Und dieses Lied, das kennt ja nun jeder, wurde fast pur gesungen, vielleicht kam noch ‚today‘ [!] hinzu. [...]
Durch das Singen ging plötzlich die Angst weg, und Hoffnung kam auf, ein Gefühl, uns kann eigentlich nichts passieren. Ich denke, das war dieser Moment, der so emotional geladen war. Da war plötzlich klar [:] wir schaffen es [...] in dem Moment, in dem Friedensgebet ist es gekippt und klar geworden, wir bleiben hier, wir machen das hier."

Das Lied bündelt Gefühle und Energien im Dreiklang der Hoffnung aus Zuversicht (‚we shall overcome‘), Weg (‚we walk hand in hand‘) und Ziel vor Augen (‚we will live in peace‘). In Gesang und Bewegung eignen sich die Singenden das zuvor Gesagte an, ratifizieren es. Wie die Predigt, so hat der Gesang performativen, die ‚Realität‘ verändernden Charakter. Gerade dieser Gottesdienst spricht nicht nur über anstehende Veränderungen, er vollzieht sie. Er verändert Menschen, die sich aus ihm heraus auf einen höchst gefährlichen Weg machen. Selbstbewusst und der allzu berechtigten Angst zum Trotz gehen sie zuversichtlich als groß geschriebenes "WIR". So verändern sie – verändert der Gottesdienst – bereits ‚drinnen‘ die ‚Realität‘ und in Folge auch die Realität ‚draußen‘. Von der 'Heterotopie' (Michel Foucault) Kirche her verändert sich auch das Politische. Das Lied bekommt für diesen Übergang Schwellenfunktion. Nach dem Segen erhebt sich abermals spontan der Gesang, singen die Teilnehmenden das Lied der Hoffnung, das sie nun beim Überschreiten der Schwelle begleitet, das sie später auf der Demonstration wiederholt anstimmen. So entsteht im Anschluss die erste große friedliche Großdemonstration des Herbstes '89. Folgen dieses Friedensgebetes waren, dass Honecker St. Nikolai zu einem "Zentrum der Konterrevolution" adelte, dass acht Tage später der Süden der DDR unter "verdecktes Kriegsrecht" gestellt wurde, und dass die "militärische Niederschlagung" der Montagsdemonstration am 9. Oktober vorbereitet wurde.

Das Friedensgebet vom 25. September 1989 ist zweifellos als ein Angelpunkt des Leipziger "Herbst '89" anzusehen. Von ihm nahm das 'Leipziger Modell' (C. Führer) eines Doppelrituals von Friedensgebet in den Kirchen und Demonstration auf den Straßen seinen Ausgang, das den 9. Oktober zum "Tag der Entscheidung" über das Schicksal der Mutigen, aber auch das der SED-Herrschaft und damit der DDR insgesamt werden ließ. Das Doppelritual verlieh der "friedlichen Revolution" landauf landab zumindest für die erste Zeit die dominante Gestalt und baute, zunehmend auch zusammen mit anderen bürgerschaftlichen Initiativen und ad-hoc-Institutionen, in einer Zeit größter Verunsicherung als 'Antistruktur' (Victor Turner) eine begehbare Brücke vom Ufer der kollabierenden SED-Diktatur zum Ufer der nicht ohne Kämpfe und Verluste zu erlangenden Demokratie westlichen Zuschnitts. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Vereinigung, gab es in St. Nikolai keine Jubelfeier, blieben die Glocken stumm. "Tage der Ermutigung" danach schienen angesagt.

"Haus der Hoffnung mitten in dieser unserer Stadt" (C. Führer) zu sein, ist Potential und Aufgabe der Stadtkirche, zumal in drängender Zeit wie im Herbst '89. St. Nikolai und andere Kirchen haben dies angenommen und realisiert. Seit damals sah St. Nikolai mehr als doppelt so viele Friedensgebete wie bis 1989. Themen gingen ihnen und alten wie neuen Gruppen bis heute nicht aus. Das damalige "Themendach": "Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" ist aktueller denn je. Die Werktagsliturgie Friedensgebet ist auf den Schnittstellen von Sonntag und Alltag, Glauben und Leben, zwischen der Wahrnehmung des Unfriedens und dem Ausstrecken nach Gottes Shalom als Geschenk und Aufgabe nach wie vor gut platziert. Für solch einen "vernünftigen" "Gottesdienst im Alltag der Welt" (Römer 12,1) besteht, wie es scheint, bis auf Weiteres Bedarf.

Kleine Auswahl von Quellen und Literatur zu den Leipziger Friedensgebeten

Quellen

Czok, Karl: Nikolaikirche – offen für alle. Eine Gemeinde im Zentrum der Wende, Leipzig 1999

Dietrich, Christian/Schwabe, Uwe: Freunde und Feinde: Dokumente zu den Friedensgebeten in Leipzig zwischen 1981 und dem 9. Oktober 1989, Leipzig 1994

Hänisch, Gottfried/Hanisch, Günter/Magirius, Friedrich/Richter, Johannes (Hg.): Dona nobis pacem. Herbst ‘89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten, Leipzig 21996

Literatur

Führer, Christian: Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin 2008

Grabner, Wolf-Jürgen/Heinze, Christiane/Pollack, Detlef (Hg.): Leipzig im Oktober. Kirchen und alternative Gruppen im Umbruch der DDR. Analysen zur Wende, Berlin 21994

Hollitzer, Tobias/Bohse, Reinhard (Hg.): Heute vor zehn Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution, Bonn et al. 2000

Kuhn, Ekkehard: Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 1989, Berlin (ohne Jahr) (wie 1992; Titel der Ausgabe von 1999: "Wir sind das Volk!" Die friedliche Revolution in Leipzig, 9. Oktober 1989)

Magirius, Friedrich: "Selig sind, die Frieden stiften ...". Friedensgebete in St. Nikolai zu Leipzig, in: Hanisch, Günter/Hänisch, Gottfried/Magirius, Friedrich/Richter, Johannes (Hg.): Dona nobis pacem. Herbst ‘89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten, Leipzig 21996, S. 7f.

Sievers, Hans-Jürgen: Stundenbuch einer deutschen Revolution. Die Leipziger Kirchen im Oktober 1989, Zollikon und Göttingen 21991

sowie vom Autor dieses Beitrags:

Geyer, Hermann: Nikolaikirche, montags um fünf – Die politischen Gottesdienste der Wendezeit in Leipzig, Darmstadt 2007


Kirchlich-gottesdienstliches Gedenken nationaler Ereignisse

Klaus Eulenberger

Die folgenden Überlegungen nehmen Bezug auf einen Arbeitsausschuss der Liturgischen Konferenz, der zum Thema "Liturgien in gesellschaftlicher Öffentlichkeit" arbeitet. Im Text ist auf Impulse einzelner Mitglieder des Ausschusses verwiesen.

Solange eine Kirchengemeinde in eigener Regie einen Gottesdienst im Gedenken an den 9. November 1989 gestaltet, handelt es sich nur um einen Sonderfall des "normalen" Sonntagsgottesdienstes. Der 9.11.2009 ist ein Montag. Alles andere ist wie immer: Die Glocken läuten, es ist ein "öffentlicher" Gottesdienst, also sind alle eingeladen. Die in der Gemeinde Verantwortlichen haben den Gottesdienst vorbereitet und sorgen nun dafür, dass er sich ereignet. Die Gestaltungsvarianten gehen wahrscheinlich über das hinaus, was sonst sonntags üblich ist und erwartet wird. Eine Erinnerung an das, was vor zwanzig Jahren geschehen ist, legt sich nahe (vgl. die in Ziffer (14) beigefügte Chronik der "friedlichen Revolution"), weil ja niemand mehr genau im Kopf hat, was damals im Einzelnen geschehen ist. Man wird nach biblischen Bildern, Motiven, Texten Ausschau halten, die zur Vergegenwärtigung des Ereignisses oder zu seiner Deutung beitragen können. Man wird Dank und Bitten formulieren, in denen sich möglichst auch jene wiederfinden können, die nicht einfach nur froh und dankbar sind (vgl. den Entwurf einer "Kerzenandacht am 9. November").

Es kommt auch hier (obwohl man also mehr oder weniger "unter sich" ist) darauf an, konträren Einschätzungen und Empfindungen Raum zu geben; eine ungetrübte Nun-danket-alle-Gott-Veranstaltung würde alle jene ausschließen, die mit gemischten Gefühlen in die Kirche gekommen sind, und die gibt es ja auch unter den "Treuen" in einer Kirchengemeinde. Viel schwieriger ist die Aufgabe, wenn eine Kirchengemeinde zwar Gastgeberin ist, nicht aber die Deutungs- und Gestaltungskompetenz für sich allein beansprucht. Wenn sie also andere nicht nur einlädt, sondern um ihre Mitwirkung bittet: Politiker etwa, die nach 1989 beteiligt waren an der Verwirklichung der staatlichen Einheit oder der Lebensbedingungen vor Ort. Menschen, die von den Entwicklungen nach der Wiedervereinigung eher enttäuscht wurden oder ihnen gegenüber noch immer skeptisch sind. Solche, die damals begeistert, hoffnungsvoll oder voller Wut in die Montagsgebete geströmt sind, sich dann aber von den Kirchen wieder weit entfernt haben. Menschen, die sich als Opfer der Ereignisse verstehen.

Oder jene, die immer noch Visionen haben im Blick auf die Integration zweier höchst unterschiedlicher Kulturen in einem Land. Wer sich kirchlich-gottesdienstliches Gedenken in diesem Sinn vornimmt, überschreitet die Grenzen der Gemeinde, die sich zum Sonntagsgottesdienst einfindet, und hat nicht nur mehr Arbeit, sondern eine ganz andere Aufgabe. Einiges spricht dafür, sich diese Arbeit zu machen und die Aufgabe in diesem Sinn zu definieren.

Die Erfahrungen, die es mit – in bestimmten Hinsichten – vergleichbaren Anlässen inzwischen gibt, lassen darauf schließen, dass komplexe Anforderungen auf diejenigen zukommen, die gottesdienstliches Gedenken so auffassen und gestalten wollen. Das Feld ist nicht von vornherein definiert: Wer wird beteiligt? Wer kann wie viel an Redezeit beanspruchen? Wer bestimmt über die gesamte Inszenierung und über die konkrete Gestaltung einzelner Elemente? Muss es "Berücksichtigungsliturgien" (Bertold Höcker) in dem Sinn geben, dass bestimmte Repräsentanten und Instanzen nicht ausgeschlossen werden dürfen?

Dies alles sind nicht nur Fragen des Protokolls. Sie ergeben sich vielmehr daraus, dass in diesem Fall in einer Kirche etwas geschieht, was untypisch ist, was man dort eher nicht erwartet und was nicht nur solche Menschen anzieht, die ohnehin "zur Kirche gehen". Die Kirche wird in viel bestimmterem Sinn öffentlicher Raum, als sie es grundsätzlich ist. Gottesdienstliches Gedenken nationaler Ereignisse ist nicht nur Gottesdienst für die Öffentlichkeit, sondern auch mit der Öffentlichkeit. Damit stellt sich die Frage, wer – und ob überhaupt jemand – bei dieser Gelegenheit über die "Deutungshoheit" verfügt, ganz anders als bei einem Sonntagsgottesdienst. Eine "Kerzenandacht am 9. November" ist ein spezieller Fall einer Kasualhandlung. Für sie gilt, was – abgeschwächt, aber spürbar – schon und auch für andere Kasualgottesdienste gilt: Nicht die Pfarrerin, der Pfarrer allein, auch nicht nur ein aus der Mitte der Gemeinde konstituierter Vorbereitungskreis bestimmt über das, was geschieht. Was am Ende herauskommt, ist Resultat von Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen unterschiedlichen Partnern, muss nicht unbedingt Kompromisscharakter haben, wird aber bestimmt Positionen spiegeln, die zueinander in Spannung stehen.

Die Kirche ist in diesem Fall der Raum, in dem vielfältige und auch gegensätzliche Stimmen hörbar werden. Bezogen auf den 9. November, wird nicht nur die Stimme des Dankes zu hören sein, sondern womöglich auch die der Klage über Verlorenes, die der Skepsis, vielleicht der Resignation. Die Stimme der Mahnung, den Geist der damals gewonnenen und tendenziell für alle realisierten Freiheit nicht zu verraten. Die Stimme der Enttäuschung und Verbitterung über die Aufdeckung vielfach begangener Denunziationen. Aber auch: die des Aufatmens nach dem Ende von systematischer Demütigung der Menschen und einer im Westen trotz aller hier aufgedeckten Umweltskandale unvorstellbaren, vollkommen rücksichtslosen Schändung der Natur. (Beides wird in Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" von 2008 mit einer Eindringlichkeit geschildert, die gerade darum so erschreckend ist, weil sie lapidar beschreibt, was zum Beispiel in der NVA oder in Industriekombinaten der DDR der Fall war.)

Der 9. November 2009 kann zum Datum des Eingedenkens werden in dem Sinn, dass auch "das Unabgegoltene begangen" wird (Kristian Fechtner): alles, was noch an kein gutes Ende gekommen ist, womit man sich nicht zufrieden geben kann, was Kränkungen verursacht hat. (Dieser Ton etwa klingt an in der Betrachtung "Bitte wenden Sie jetzt", wenn es heißt: " Diese friedliche Revolution hat ihre Kinder eher freundlich in den Vorruhestand geschickt – all diese betenden Gottesmänner und -frauen, die man bald nicht mehr brauchte …") Das Unabgegoltene kann aber auch die empfundene Schwächung jenes Mutes zu gewaltlosem Widerstand sein, der schon vor dem 9. November 1989 und erst recht an diesem Tag selbst so erstaunliche Wirkungen hervorbrachte: Was ist aus diesem Mut geworden, wohin ist er gegangen? Das Wichtigste an einer so verstandenen "Gedenkveranstaltung" wird womöglich nicht der spezifisch christliche Beitrag sein, der sich in Lesungen, Gebeten, Liedern und einer Predigt darstellt. Das Wichtigste ist, dass sie überhaupt hier stattfindet, und bereits dies ist der spezifisch christliche Beitrag. Der Raum der Kirche wird sich bei dieser Gelegenheit als "Container" bewähren für das Gute und das Böse, das Erschreckende und das Begeisternde, für Klage und Lob, Wut und Unverständnis, Hoffnung und Vision. Als ein ebenso offener wie "haltender" Raum, strapazierbar, aber eben auch Halt gebend. Bei ungefähr vergleichbaren Anlässen hat sich gezeigt, dass ausdrücklich liturgische Elemente bei vielen nicht so sehr das Gefühl auslösen, hier fremd zu sein, sondern vielmehr als hilfreich, stützend und formend empfunden werden auch von solchen Menschen, die darin nicht zuhause sind. Insofern gehe ich auch für den hier gegebenen Zusammenhang eher von einer Liturgiebedürftigkeit als von einer Liturgie-Allergie aus.

Die Trauerfeiern von Erfurt am 3. Mai 2002 und von Winnenden am 21. März 2009 haben überdies – wenn auch nicht unbedingt in jeder konkreten Gestaltung – erwiesen, wie unentbehrlich Symbole sind, wenn es darum geht, das geschehene Schreckliche ebenso auszudrücken wie das erhoffte Heilende. Das Bild eines blühenden Zweiges kann nach wie vor ein starkes Symbol sein, auch wenn nicht jede Hoffnung auf "blühende Landschaften" sich schnell erfüllt hat. Und eine Schale mit Weizenkörnern – auch sie war Element der Erfurter Trauerfeier nach der Ermordung von sechzehn Menschen durch einen früheren Schüler des Gutenberg-Gymnasiums – kann gerade dann viel bedeuten, wenn sie nicht nur hingestellt, sondern auch sprachlich gedeutet wird wie an jenem 3. Mai 2002: "Der Boden unserer Herzen ist aufgebrochen. Was wir heute säen, ist unsere gemeinsame Zukunft."

Wenn ein gottesdienstliches Eingedenken "funktionieren" soll, braucht es einige förderliche Bedingungen im Raum, in der Atmosphäre, in der Sprache, in der Beziehung zwischen denen, die etwas gestalten, und den anderen, die als Teilnehmer gekommen sind. Die Kirchen, die Gemeinden und jene, die in ihnen Verantwortung tragen, sind in diesen Hinsichten oft in einer guten Position. Und niemand wird erwarten, dass die zuletzt Genannten sich allzu viel an Zurückhaltung auferlegen. Auch wenn keineswegs sie allein "das Sagen haben", so ist doch gerade ihre Erfahrung im Umgang mit krisenhaften, nicht-eindeutigen Situationen gefragt und gewollt. Gedenkveranstaltungen wie die zum 20. Jahrestag des 9. November sind allemal "riskante Liturgien" (Thomas Klie). Wenn sie gelingen – worum man sich bemühen kann, wofür es aber keine Gewähr gibt –, wird das Schwierige einfach. Dann wird eine Gesellschaft, die sich am Abend des 9. November 2009 in irgendeiner Kirche einfindet, womöglich vorübergehend zu einer "Gemeinde", wo das jeweils Eigene Raum hat und sich ausdrücken kann.

Und es kann als ein Segen empfunden werden, dass es den haltenden Raum dieser Kirche gibt und dass man ihn betreten kann, ohne fürchten zu müssen, für irgendetwas vereinnahmt zu werden. Wie von Reiner Kunze beschrieben, in seinem Gedicht "Pfarrhaus":

Wer da bedrängt ist, findet
Mauern, ein
Dach und
muss nicht beten.
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