Gesetzentwurf zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes

Schriftliche Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages

a) Gesetzesentwurf der Abgeordneten Markus Kurth, Joseph Philip Winkler, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes (BT-Drs. 17/1428)

b) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpcke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Menschenwürdiges Existenzminimum für alle – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen (BT-Drs. 17/4424)

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Der Bevollmächtigte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bedankt sich für die Gelegenheit, zu den vorliegenden Gesetzesentwürfen, die beide eine Aufhebung des Asylbewerber-leistungsgesetzes (AsylbLG) vorsehen, Stellung zu nehmen. Der Bevollmächtigte des Rates der EKD unterstützt beide Gesetzesentwürfe.

Die EKD hat sich bereits im Vorfeld der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) gegen das Gesetz ausgesprochen.  Ihre Kritik hat sie anlässlich der Novellierungen des AsylbLG stets erneuert. 

1. Verstoß gegen das Grundgesetz
Das AsylbLG ist verfassungswidrig. Es widerspricht sowohl dem Recht auf Gewährung eines men-schenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sowie dem Gleichheitsgrund-satz aus Art. 3 Abs. 1 GG.

a. Verstoß gegen das Recht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Nach den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Regelleistungen nach SGB II aufgestellten Grundsätzen  verstoßen die Leistungen nach dem AsylbLG gegen das Recht auf Ge-währung eines menschenwürdiges Existenzminimums. Dieses Grundrecht umfasst einerseits die Sicherung der physischen Existenz des Menschen – also den Anspruch auf Bereitstellung von Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit. Da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert, beinhaltet der Leistungsanspruch andererseits auch die Möglichkeit der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.  Dem Gesetzgeber steht bei der Ausgestaltung der sozialen Leistungen ein Gestaltungsspielraum zu - die Höhe der Leistungen ist daher nur im Rahmen einer Evidenzkontrolle zu überprüfen. Diese ergibt im Falle des AsylbLG jedoch, dass die Ausgestaltung der Grundleistung des AsylbLG als evident unzureichend anzusehen ist; auch die Bestimmung der Höhe der Leistung und des in bar zu entrichtenden Taschengeldes wird den Anforderungen des BVerfG, das dieses zur Methode der Berechnung der SGB II- und SGB XII-Sätzen aufstellt, nicht gerecht.

aa. Evidentes Unzureichen der Leistungen des AsylbLG
Da das BVerfG bisher keine Äußerungen zur Höhe einer das Existenzminimum sichernden Leistung gemacht hat, sind als Vergleichswert für die Bestimmung, ob die Leistungen nach dem AsylbLG evi-dent zureichen, die Grundleistungen nach SGB II und XII heranzuziehen.  Dabei ist festzustellen, dass die Grundleistung nach dem AsylbLG das Leistungsniveau der Sozialhilfe um ca. 35 % unterschreitet.  Da Leistungsempfängern des AsylbLG Hausrat nach § 3 Abs. 1 S. 3 AsylbLG leihweise zur Verfügung gestellt wird, ist bei der Berechnung der Differenz zwischen den Leistungssystemen die Summe von 24,92 € abzuziehen, die SGB II und SGB XII Beziehern zur Deckung ihres Bedarfes an Hausrat im Rahmen ihrer Regelleistung zusteht.  Die Differenz zwischen den beiden Leistungsregimen beträgt dann 31 %. Da es um die „Absicherung grundlegender, nicht mehr unterschreitungsfähiger Bedürfnisse geht“,  ist offensichtlich, dass die um 31 % reduzierten Leistungen im Rahmen des AsylbLG evident unzureichend sind und ein menschenwürdiges Existenzminimum für Leistungsbe-rechtigte nach dem AsylbLG nicht gewährleistet ist.

Im Vergleich zur Situation bei Einführung des AsylbLG hat sich der Abstand zu den Transferleistungen nach SGB II und SGB XII vergrößert, da eine Erhöhung der Leistungen des AsylbLG im Rahmen des in § 3 Abs. 3 S. 1 AsylbLG vorgesehenen Verfahrens zur Neufestsetzung der Beträge zum jeweils 1. Januar eines Jahres bisher unterblieben ist. Allerdings weist die Bundesregierung darauf hin, dass ein Vergleich der Sätze der beiden sozialen Sicherungssysteme seit Einbeziehung der einmaligen Leis-tungen in den Regelsatz für SGB II und SGB XII Empfänger nicht mehr aussagekräftig ist.  Dies kann jedoch nicht die gesamte Differenz in Höhe von 31 % erklären.

Die Regelleistung des § 3 Abs. 1 AsylbLG umfasst keine Mittel zur Pflege von Beziehungen zur Um-welt und zur Teilnahme am kulturellen Leben. Leistungsberechtigten steht nach dem AsylbLG der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Gebrauchs- und Verbrauchsgüter zu. Mit dieser Beschränkung auf die physische Seite des Existenzminimums scheint der Gesetzgeber bereits bei der Erfassung und Umschreibung des Ziels, Leis-tungsberechtigten ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht gerecht zu werden. Falls der frappierend geringe Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens die Pflege von sozialen Beziehungen und eine, wenn auch nur rudimentäre kulturelle oder politische Teilhabe ermöglichen soll, ist auch die Ausgestaltung der sozialen Seite des Existenzminimums als evident unzureichend anzusehen. Einer Person steht bis zu ihrem 14. Geburtstag 40.- DM (20,45 €) und danach 80.- DM (40,90 €) zur Verfügung. Sie kann also 0,67 € bzw. 1,34 € pro Tag für ihre persönlichen Bedürfnisse aufwenden.

Für die Auswirkungen der eingeschränkten Leistungen auf die Betroffenen möchte der Bevollmächtig-te des Rates der EKD auf seine Ausführungen in der schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung im Ausschuss Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages vom 4.5.2009 verweisen.  Damals führte er im Wesentlichen aus:

Sowohl die Höhe der Leistung als auch die Form ihrer Gewährung werden von den Leistungsberechtigten als psychisch und sozial belastend erlebt.  Dabei sei auf die an vielen Orten mangelhafte Verpflegung in Form von Essenspaketen hingewiesen - diakonische Beratungsstellen berichten von Fäl-len, in denen Mangelernährung auftritt und beispielsweise männliche Leistungsberechtigte über Hunger klagen.  Auch die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften wird als insbesondere für Familien mit Kindern problematisch beschrieben. Die Unterkünfte liegen oftmals außerhalb von Ortschaften und sind verkehrstechnisch schlecht angebunden. Der den Betroffenen zur Verfügung gestellte Raum ist regelmäßig zu klein. Gerade Familien und insbesondere Kinder leiden unter dem Lärm, der aggressiven Stimmung in den Unterkünften und der auftretenden Gewalt zwischen den Bewohnern in gesteigertem Maße. Auch herrschen in den Gemeinschaftsunterkünften keine Rückzugsräume, um zu lernen oder um Hausaufgaben zu machen. Anlässlich der Anhörung im Bayerischen Landtag zur Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes am 23.4.2009 berichtete der als Sachverständige geladene Arzt Dr. Stich, dass die Patienten aus einer durch seine Klinik betreuten Gemeinschaftsunterkunft durch die vielfältigen Belastungen, die das Leben in der Gemeinschaftsunterkunft mit sich bringe, psychisch und körperlich erkrankten. Diese Einschätzung deckt sich mit den Erfahrungen der diakonischen Beratungsstellen. 

Doch auch Leistungsberechtigte, die in Privatwohnungen untergekommen sind und Geldleistungen erhalten, berichten von eklatanten Einschränkungen in der Lebensführung. Diese lassen sich insbesondere an der Situation von Familien mit Kindern verdeutlichen. Die Tatsache, dass auch Kindern die Teilnahme am sozialen Leben verwehrt ist, ist aus Sicht der EKD besonders problematisch. Ihnen ist es auf Grund der finanziellen Situation ihrer Eltern oftmals nicht möglich, mit befreundeten Mitschülern etwas zu unternehmen, weil allein die Fahrtkosten zu hohe Ausgaben darstellen. Auch die Kosten für Klassenfahrten werden häufig nicht übernommen. Ihre Freizeitgestaltungsmöglichkeiten sind im Vergleich zu anderen Kindern sehr eingeschränkt - selbst eine sportliche Betätigung in Vereinen ist oft-mals mit finanziellen Ausgaben verbunden und deshalb für ihre Eltern nicht finanzierbar.

bb. Berechnungsgrundsätze
Die Bemessung und Ausgestaltung der Höhe der Grundleistungen des AsylbLG genügt den verfas-sungsrechtlich gebotenen, unverzichtbaren Verfahrenserfordernissen, die das BVerfG in seinem Urteil vom 9.2.2010 aufgestellt hat, nicht. Der Gesetzgeber hat alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf der Hilfebedürfti-gen, also realitätsgerecht, zu bemessen. Er hat zunächst die Bedarfsarten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen.  Dabei hat er die zur Bestimmung des Existenz-minimums eingesetzten Methoden offenzulegen.

Dies ist bei Ausgestaltung des AsylbLG nicht erfolgt. Der Gesetzgeber hatte bei der Bemessung nicht erhoben, ob und gegebenenfalls wie sich die Bedürfnisse von Leistungsberechtigten nach dem AsylbG von den Bedürfnissen von Sozialhilfebeziehern unterscheiden.  Stattdessen beschränkt sich die Begründung des Gesetzes auf die nicht weiter substantiierte Behauptung, der vorgesehene Leis-tungsumfang sei im Hinblick auf die Ziele der Neuregelung für eine vorübergehende Zeit zumutbar und ermögliche ein Leben, das durch die Sicherung eines Mindestunterhaltes dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht würde.  Sodann wird ohne weitere Begründung ausgeführt, dass die Leistungen gegenüber der Sozialhilfe vereinfacht und auf die Bedürfnisse eines in Deutschland in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthalts abgestellt werden könnte, wobei fürsorgerische Ge-sichtspunkte gewahrt blieben.

Mittlerweile hat die Bundesregierung in mehreren Antworten auf Anfragen aus dem Deutschen Bun-destag eingeräumt, dass die Bestimmung der Grundleistungen im AsylbLG im Jahre 1993 nicht auf einer Erfassung des konkreten Bedarfs, sondern lediglich auf einer Kostenschätzung beruhte.  Sie sollte den Ergebnissen der Verhandlungen zu Asyl und Zuwanderung im Dezember 1992, dem so genannten Asylkompromiss, Rechnung tragen, bei denen verabredet worden war, die Unterstützungs-leistungen von Asylbewerbern während des Asylverfahrens deutlich gegenüber den Leistungen nach dem damaligen BSHG abzusenken.

Die amtierende Bundesregierung kündigte bereits eine Überprüfung der AsylbLG-„Leistungssätze“ auf der Grundlage einer Bemessung aller existenznotwendigen Aufwendungen nach dem tatsächlichen Bedarf an. 

b. Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
Mit der Ausgestaltung des Existenzminimums von Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG unterhalb eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzt das AsylbLG auch den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Ungleichbehandlung der Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG liegt gegenüber deutschen und insbesondere gegenüber ausländischen Hilfebedürftigen, die dem Regime des AsylbLG nicht unterfallen. Zwar ist es dem Gesetzgeber unbenommen, Sozialleistungen für be-stimmte Gruppen anhand bestimmter Merkmale – beispielsweise anhand des Kriteriums der Aufent-haltsdauer – unterschiedlich auszugestalten und bestimmte Leistungen nicht zu gewähren. Diese Ungleichbehandlung müsste dann allerdings sachlich gerechtfertigt sein.

Eine unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungsregime kann allerdings nur auf der Grundlage erfol-gen, dass das menschenwürdige Existenzminimum der betroffenen Personen – ausgehend von ihren konkreten Bedürfnissen – gesichert ist. Dies ist für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG - wie oben ausgeführt - nicht der Fall. In der ungenügenden Ausgestaltung des Leistungsniveaus, das ein menschenwürdiges Existenzminimums nicht gewährleistet, ist in jedem Fall eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG zu sehen.

2. Die ursprüngliche Begründung des AsylbLG ist überholt
Die Legitimität der vom Gesetzgeber mit Einführung des AsylbLG verfolgten Intention erschien der EKD schon zur Zeit der Einführung des AsylbLG zweifelhaft. Potentiell einreisewillige Ausländer, unter ihnen auch Schutzsuchende, von der Einreise in die Bundesrepublik dadurch abhalten zu wollen, dass bereits eingereisten Ausländern lediglich ein Leben unterhalb des Sozialhifeniveaus gewährt wird, nimmt Personen in „Mithaftung,“ die kein sozialinädequates Verhalten gezeigt haben.  Unter den heutigen rechtlichen Voraussetzungen kann sich der ursprüngliche Zweck des Gesetzes darüber hin-aus nicht mehr erfüllen. Das Gesetz sollte ausweislich der Gesetzesbegründung Schlepperaktivitäten minimieren (a.), den Zuzug von Asylsuchenden nach Deutschland reduzieren (b.) und die Ausreise von abgelehnten Asylbewerbern beschleunigen (c.).

a. Reduktion von Schlepperaktivitäten
Es lässt sich nicht belegen, dass das AsylbLG dazu beiträgt, Schlepperbanden den Nährboden zu entziehen. Schlepper und Schleuser arbeiten Berichten zufolge gegen Vorkasse - eine Bezahlung in Raten auf der Grundlage von Leistungen nach Sozialhilfe wäre - selbst bei einer Gewährung von Leis-tungen analog SGB XII - wohl auch nicht praktikabel. 

b. Minimierung des Zuzugs von Asylsuchenden
Seit 1992 ist die Anzahl der Asylantragsteller tatsächlich von 438.191 auf 41.332 im Jahre 2010 ge-sunken.  Der Rückgang lässt sich jedoch nicht mit der Reduzierung der Leistungen der staatlichen Unterstützung für Asylbewerber erklären, sondern war zunächst auf die Einführung der Drittstaatenre-gelung in Art. 16a Abs. 2 GG zurückzuführen.  Diese Regelung schließt die Berufung auf das Grund-recht auf Asyl dann aus, wenn Ausländer über einen anderen EU Mitgliedstaat oder einen so genannten sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist sind. Die Einführung der Drittstaatenregelung re-duzierte insofern die Möglichkeiten, sich Deutschland gezielt als Aufnahmestaat auszusuchen. Solange der Reiseweg der Asylsuchenden für die Behörden nicht konkret nachvollziehbar war, konnten Ausländer jedoch das so genannte kleine Asyl nach § 51 AuslG  beantragen. Die praktische Bedeu-tung der Drittstaatenregelung ist seit Einführung der so genannten Dublin II VO in den Hintergrund getreten. Die Dublin II VO regelt, welcher Staat innerhalb der EU für die Durchführung eines Asylver-fahrens zuständig ist.  Die durch die Eurodac Verordnung eingeführte Datenbank erleichtert es den Behörden, den Reiseweg der Asylsuchenden nachzuvollziehen und Rückführungen in den zuständigen Mitgliedstaat einzuleiten. Zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens ist beispielsweise der Mitgliedstaat, der dem Ausländer ein Einreisevisum erteilt oder seine illegale Einreise nicht verhindert hat. Beantragt ein Ausländer z.B. in der Bundesrepublik Deutschland Asyl, nachdem er illegal über Spanien in die EU eingereist ist, wird er - sobald sein Fingerabdruck ein "Treffer" in der Eurodac-Datenbank auslöst und damit seine Ersteinreise in Spanien offenbart - zur Durchführung des Verfah-rens dorthin rücküberstellt. Die Einreise eines Ausländers erfolgt also in die EU – eine Möglichkeit, sich den Mitgliedstaat gezielt auszusuchen, in dem das Asylverfahren durchgeführt werden soll, besteht nicht.

Für die gesunkene Anzahl der Asylbewerber in Deutschland spielt außerdem der Ausbau der Kontrol-len an den EU Außengrenzen eine Rolle.

c. Beschleunigung der Ausreise abgelehnter Asylbewerber
Angesichts der langen Aufenthaltsdauer von Geduldeten scheint das geringe Leistungsniveau den Gesetzeszweck der Ausreisebeschleunigung ebenfalls nicht zu erfüllen. Unter den Leistungsberech-tigten nach dem AsylbLG befinden sich beispielsweise Inhaber von Duldungen nach § 60a AufenthG (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG), von denen knapp 2/3 über sechs Jahre im Bundesgebiet verbleiben.  Zum 30.6.2010 hielten sich 86.531 Personen mit einer Duldung in Deutschland auf; 55.275 Personen (63,88 %) davon länger als sechs Jahre. Auch die nun von der Altfallregelung des § 104a AufenthG bzw. den unterschiedlichen Beschlüssen der ständigen Konferenz der Innenminister- und -senatoren begünstigten Personen lebten vor der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis über sechs bzw. acht Jahre geduldet in Deutschland.  Die Hoffnung, durch das herabgesenkte Leistungsniveau eine rasche Ausreise der Betroffenen zu begünstigen, hat sich somit nicht realisiert.

3. Mangelndes Integrationsbedürfnis der Betroffenen wegen nur vorübergehenden Aufenthalts?
Die bei Einführung des AsylbLG vorgebrachte weitere Begründung für das Gesetz – das angeblich mangelnde Integrationsbedürfnis der Leistungsberechtigten – beruhte auf der Annahme, dass sich die Betroffenen nur vorübergehend in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten. Ob im Gesetzgebungs prozess die Fragen eine Rolle gespielt haben, was unter einem Integrationsbedürfnis zu verstehen ist, zu welchem Zeitpunkt ein Integrationsbedürfnis bei den Betroffenen entsteht und ob diesbezüglich zwischen Erwachsenen und Kindern zu unterscheiden ist, lässt sich den Gesetzesmaterialien zumindest nicht entnehmen. Gegen eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen spricht, dass der Gesetzgeber die Bezugsdauer ohne weitere Begründung sukzessiv ausgedehnt hat (a.). Unter den Kreis der Leistungsberechtigten fallen sowohl Personengruppen, die sich tatsächlich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, sowie solche, deren Aufenthaltstitel eine gewisse Aufenthaltsperspektive vo-raussetzt (b.). Durch die Umstellung der Frist, nach deren Ablauf Leistungsberechtigten Analogleistungen nach SGB XII zustehen, von einer Voraufenthaltsdauer in eine Vorbezugsdauer, kommt dem - etwaigen - eingeschränkten Integrationsbedürfnis der Leistungsberechtigten auch rechtlich keine Bedeutung mehr zu (c.). Darüber hinaus bezweifelt die EKD, dass eine eingeschränkte Aufenthaltsperspektive einen eingeschränkten Integrationsbedarf nach sich zieht (d.).

a. Ausweitung der Bezugsdauer
Die Frist des § 2 AsylbLG, nach dessen Ablauf den Leistungsberechtigten Analogleistungen nach SGB XII zustehen, wurde von zunächst 12 auf 36 und schließlich 48 Monate ausgedehnt.  Die EKD ist der Ansicht, dass bei einem Zeitraum von vier Jahren nicht mehr von einem vorübergehenden Auf-enthalt gesprochen werden kann, der eingeschränkte Leistungen nach § 3 AsylbLG wegen eines feh-lenden Integrationsbedarfs rechtfertigen könnte. Der Gesetzgeber hatte bei Einführung des Gesetzes die Auffassung vertreten, dass eine Absenkung der Leistungen nur bei Begrenzung der Bezugsdauer auf ein Jahr die Wahrung des Grundsatzes der Menschenwürde gewährleiste. Damals ging er davon aus, dass nach diesem Jahr ein Bedürfnis der Betroffenen erwachse, sich in Deutschland zu integrieren oder es zumindest geboten sei, dieses Bedürfnis nach einjähriger Aufenthaltsdauer anzuerkennen.  Bei der Diskussion im Deutschen Bundestag über die Ausweitung der Frist auf 36 Monate wur-de der Aspekt der Integrationsbedürftigkeit weder von den Regierungsfraktionen noch von der Opposition berücksichtigt.  Stattdessen trat der Kosteneinsparungswille in den Vordergrund.  Zur Begründung der erneuten Ausweitung der Frist um weitere 12 Monate im Jahr 2007 brachte der Gesetzgeber u.a. vor, dass erst nach einem Voraufenthalt von vier Jahren davon auszugehen sei, dass eine Aufenthaltsperspektive entstanden sei, die es gebiete, Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine bessere soziale Integration gerichtet sei.  Die jeweiligen Zeiträume des für ein Entstehen des Integrationsbedarfs einschlägigen Aufenthaltes erscheinen demnach willkürlich gesetzt.

b. Leistungsberechtigte sind nicht nur lediglich vorübergehend in Deutschland 
Statistische Erhebungen widerlegen die Annahme, dass die verbindende Gemeinsamkeit aller unter den Leistungsbereich des AsylbLG Fallenden ihre regelmäßig lediglich eingeschränkte Aufenthalts-dauer in Deutschland ist. Wie oben unter 2.c. gezeigt verbleiben ca. 2/3 der Geduldeten länger als sechs Jahre im Bundesgebiet. Entgegen der Aussage der Bundesregierung  fallen unter die Leistungsberechtigten darüber hinaus auch Inhaber von Aufenthaltstiteln, die vom Gesetzgeber offensicht-lich auf eine gewisse Dauer angelegt sind.  Bei Inhabern eines Titels nach § 25 Abs. 5 AufenthG (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG) ist das Vorliegen einer Aufenthaltsperspektive beispielsweise Voraussetzung für die Erteilung des Aufenthaltstitels: Eine Aufenthaltserlaubnis kann nur erteilt werden, wenn eine Rückreise in das Herkunftsland auf absehbare Zeit nicht möglich ist.  Aufenthaltstitel zu humanitären Zwecken, also auch nach § 25 Abs. 4 a und b, nach § 25 Abs. 5 AufenthG oder nach § 23 Abs. 1 (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG), sind darüber hinaus nach § 26 Abs. 4 AufenthG unter bestimmten Vorausset-zungen einer Verfestigung zugänglich.

c. Voraussetzung für den Bezug der Analogleistungen nach SGB XII: von der Voraufenthaltszeit zur Vorbezugsdauer
Die Aufenthaltsdauer des Betroffenen ist rechtlich mittlerweile kein Anknüpfungspunkt für das AsylbLG mehr. Seit der ersten Novelle des AsylbLG durch das Erste Gesetz zur Änderung des AsylbLG vom 26.5.1997 stellt § 2 AsylbLG nicht mehr auf die Dauer des Aufenthaltes des Leistungsberechtigten, sondern auf den tatsächlichen Bezug der Regelleistungen nach § 3 AsylbLG ab. Unabhängig von einem etwaigen mehrjährigen Voraufenthalt und einem demzufolge nach bisheriger Logik des Gesetzgebers entwickelten Integrationsbedarf,  sind Ausländer seitdem auf die Regelleistungen des § 3 AsylbLG zu verweisen, wenn ihr Aufenthaltsstatus sie (wieder) als Leistungsberechtigte ausweist und sie die Vorbezugsfrist von derzeit 48 Monaten noch nicht erfüllt haben.  Auch die Bundesregierung räumt ein, dass der Gedanke der Kosteneinsparung in den Vordergrund getreten war.  Indem der Gesetzgeber dadurch selbst von der an die Aufenthaltsdauer anknüpfende Integrationskomponente abrückt, kann er sich aber bei der Begründung für eine Absenkung nicht mehr auf sie berufen. Eine Leistungsreduzierung, die unabhängig von dem Bedarf des Hilfebedürftigen und lediglich aus Kostenersparniserwägungen heraus erfolgt, ist nach den oben erläuterten Grundsätzen nicht verfassungsgemäß. 

d. Kein eingeschränkter Integrationsbedarf ersichtlich
Generell ist nicht ersichtlich, warum bei Leistungsempfängern nach dem AsylbLG der Bedarf für ge-sellschaftlich-integrative Handlungen niedriger sein sollte als bei Grundsicherungsleistungsempfängern nach dem SGB II oder SGB XII. Wie oben ausgeführt, ist dabei zu beachten, dass das men-schenwürdige Existenzminimum auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben beinhaltet. Es ist nicht ersichtlich, warum Ausländer keinerlei Bedarf zur Pflege von sozialen Beziehungen haben sollten. Das LSG NRW führt dazu in seinem Vorlagebeschluss an das BVerfG aus, dass „Teilhabehandlungen von Ausländern auch und gerade mit unsicherem Aufenthaltsstatus wegen ihrer besonderen Herkunfts-, Aufenthalts- und Unterbringungssituation andere, jedoch nicht notwendig weniger bedarfsverursachende Inhalte haben“.  Selbst wenn das Fehlen eines Bedarfs einer sozialen Integration in die deutsche Gesellschaft anzunehmen sein sollte – was angesichts des unter das AsylbLG fallenden Personenkreises, der sich zum Teil seit vielen Jahren in Deutschland aufhält, deren Rückkehr in ihr Herkunftsland oftmals auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist und deren Kinder hier zur Schule gehen, von der EKD verneint wird – bejaht das LSG NRW zumindest einen sozialen Kommunikations- und Integrationsbedarf zum unmittelbaren Umfeld, zu Freunden und Fami-lienangehörigen. 

Viele Ausländer – insbesondere Asylbewerber und Geduldete – müssen darüber hinaus Kosten für Rechtsanwälte aufwenden, die in der Praxis oftmals in Raten von ihrem „Taschengeld“ abbezahlt werden. In diesem Zusammenhang fallen auch Transportkosten an, wenn Betroffene ihren Anwalt oder Beratungsstellen aufsuchen. Falls Übersetzungen oder Beglaubigungen von Dokumenten anstehen, ergeben sich weitere Kosten, die die Betroffenen zu übernehmen haben. Die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit Familienangehörigen und Freunden in ihrem Herkunftsland ist ebenfalls kostspieliger als die Pflege sozialer Beziehungen eines in Deutschland verankerten Regelleistungsempfängers nach dem SGB II und SGB XII. 

Darüber hinaus hat sich in der heutigen Debatte über Integration die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine Förderung von Personen vom Zeitpunkt ihrer Einreise an die Integration in die deutsche Gesellschaft beschleunigt. Die Probleme vieler potentiell von der Altfallregelung und den Bleiberechtsbe-schlüssen Begünstigten zeigen, dass dem Versuch, eine Arbeitsstelle zu finden, oftmals mangelnde Sprachkenntnisse und die langen Zeiten der Erwerbslosigkeit entgegen stehen. Insbesondere letzteres Problem steht in direktem Zusammenhang mit dem bisherigen langjährigen Ausschluss vom oder lediglich eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch die Beauftragte der Bundesregierung für Integration und Flüchtlinge spricht von der Notwendigkeit, nachholende Integration zu ermöglichen. Dies könnte vermieden werden, wenn Integrationsangebote auch Personen zu einem Zeitpunkt zur Verfügung gestellt würden, in dem die Dauer des Aufenthaltes in Deutschland noch nicht abschließend geklärt ist.

4. AsylbLG setzt europäische Vorgaben nicht um
Auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union sind einige verbindliche Vorgaben der Richtlinie 2003/9/EG über Aufnahmebe-dingungen für Asylbewerber noch nicht umgesetzt.  § 4 AsylbLG muss im Hinblick auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2003/9/EG erweitert werden, wonach, die erforderliche medizinische Behandlung si-cherzustellen ist. § 4 Abs. 1 AsylbLG beschränkt den Anspruch der Leistungsberechtigten auf die Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen. Die erforderliche Versorgung chronisch Kranker ist dadurch nicht gedeckt. Das AsylbLG sieht entgegen Art. 20 der Richtlinie 2003/9/EG nach wie vor keinen Anspruch auf Behandlung für Opfer von Folter, Vergewaltigung oder anderen schweren Gewalttaten vor. § 6 Abs. 2 AsylbLG räumt bisher lediglich Inhabern von Aufenthaltserlaubnissen gemäß § 24 Abs. 1 AufenthG einen entsprechenden Anspruch ein.

Eine Angleichung der Bezüge von Asylsuchenden an die Transferleistungen von deutschen Staats-bürgern, wie es eine Aufhebung des AsylbLG nach sich ziehen würde, ist auf der Grundlage der so genannten Aufnahmebedingungsrichtlinie  nicht zwingend geboten. Ein Vorschlag zur Änderung der Richtlinie, den die Europäische Kommission am 3.12.2009 dem Rat und dem Europäischen Parlament vorgestellt hatte, sah zwar eine zwingende Angleichung der Leistungen für Asylsuchende an das Ni-veau der Sozialleistungen der Staatsangehörigen des jeweiligen Mitgliedstaats vor.  Der Änderungs-vorschlag scheiterte jedoch am Widerstand des Rates und des Europäischen Parlaments. Die Kom-mission ist nun gehalten, einen neuen Entwurf zu erarbeiten. Den Mitgliedstaaten steht es aber selbstverständlich frei, über die Mindeststandards der Aufnahmebedingungsrichtlinie hinaus zu gehen und Asylsuchenden höhere Standards einzuräumen. Dies würde – wie der bisherige Änderungsvor-schlag zeigt - den Vorstellungen der Europäischen Kommission entgegen kommen.

6. Ergebnis
Das AslybLG verstößt gegen die Verfassung. Sein ursprünglicher Sinn und Zweck konnte sich nicht erfüllen. Durch Novellierungen des Gesetzes ist der Gesetzgeber darüber hinaus von der ursprünglichen Begründung für das eingeschränkte Leistungsregime – nämlich der Annahme, dass Personen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten, zumindest für einen gewissen Zeitraum nur einen eingeschränkten Integrationsbedarf haben – abgerückt. Stattdessen sind Kostenerwägungsgründe in den Vordergrund getreten.

Die EKD spricht sich deshalb für die Aufhebung des Gesetzes aus.