Migration & Mobilität: Chancen und Herausforderungen für die EU-Bildungssysteme

Beitrag zur Konsultation

Migration & Mobilität:
Chancen und Herausforderungen für die EU-Bildungssysteme


Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist der Zusammenschluss der 22 protes-tantischen Landeskirchen in Deutschland, denen 25 Millionen eingetragene Mitglieder angehören. Die (EKD) und ihr Diakonisches Werk (DW) sind zusammen mit den katholischen Schwesterorganisationen der größte nicht-staatliche Bildungsträger in Deutschland. Allein im Raum der EKD gibt es zahlreiche Einrichtungen der formellen und informellen Bildung, der Berufsbildung und spezifische Integrationsprojekte.

Im Bereich Kindertagesstätten und Jugendhilfe (2008):

  • 8116 Kindertagesstätten und Horte mit 520367 Plätzen mit 71159 Beschäftigten
  • 475 Tageseinrichtungen der Jugendhilfe mit 18818 Plätzen sowie 1183 stationäre Einrichtungen mit 32932 Plätzen,
  • 483 Aus- und Fortbildungsstätten für soziale und pflegerische Berufe,
  • 6240 Beratungsstellen.

Im Schulbereich (Erhebung 2004; inzwischen gestiegen):
  • 115 Grundschulen mit 14121 Schüler/-innen,
  • 14 Hauptschulen mit 2361 Schüler/-innen,
  • 1 Orientierungsstufe mit 240 Schüler/-innen,
  • 49 Real- und Mittelschulen mit 12648 Schüler/-innen,
  • 98 Gymnasien/Fachoberschulen/Kollegs mit 48515 Schüler/-innen,
  • 13 Gesamtschulen mit 7014 Schüler/-innen,
  • 214 Sonderpädagogische Schulen mit 26687 Schüler/-innen, und
  • 484 Berufsbezogene Schulen mit 35797 Schüler/-innen.

Im Migrationsbereich (Zahlen 2006):

  • 144 Beratungsstellen Migration mit 227 Mitarbeitenden,
  • 7 Beratungsstellen für Auswanderer bzw. Auslandstätige mit 11 Mitarbeitenden,
  • 112 Beratungsstellen für Flüchtlinge mit 206 Mitarbeitenden.
  • Zusammen mit verwandten Arbeitsbereichen für Menschen in „besonderen sozialen Situationen“ werden 4968 Vollzeitstellen vorgehalten. Nicht erfasst sind hier die zahlreichen ehrenamtlich Tätigen und die organisierten Selbsthilfegruppen.

Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung begrüßt die EKD den Ansatz der Kommission, den Begriff der „Kinder mit Migrationshintergrund“ weit zu fassen. Dies entspricht den realen Anforderungen an den Umgang mit Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen in einem kulturellen und/oder sprachlichen Umfeld wiederfinden, in das sie – ebenfalls aus den verschiedensten Gründen – nicht voll integriert sind. Gleich ob ein dauerhafter Aufenthalt im Rahmen der Arbeitnehmermobilität persönlich angestrebt wird oder nicht, spielt die gleichberechtigte Teilnahme der Kinder mit einem solchen Hintergrund eine Schlüsselrolle für ihre Möglichkeit, sich im Aufnahmeland zurecht zu finden und für ihre gesamten beruflichen und persönlichen Perspektiven. Ein Migrationshintergrund bringt eigene Herausforderungen für die Einbeziehung in das Bildungssystem des Auf-nahmelandes mit sich, der oft in Wechselwirkung und gegenseitiger Verstärkung mit anderen Problemstellungen (Herkunft aus bildungsfernen Schichten, durch Flucht bedingte Entfremdung von formaler Bildung u.a.) steht. Daher ist zu ebenfalls zu begrüßen, dass die Kommission die beiden Themen Migration und Bildung in einem eigenen Konsultationspapier anspricht.

Die in dem Grünbuch angezeigte Vielschichtigkeit deutet gleichzeitig bereits auf die Notwendigkeit eines „policy mix“ zur Lösung der Probleme hin. Die EKD ist bestrebt, ihre eigenen Bildungseinrichtungen so zu gestalten, dass von ihnen Impulse für das gesamte Bildungssystem ausgehen. Sie strebt daher nicht nach flächendeckender Abdeckung durch Konfessionsschulen, sondern bemüht sich um „Leuchtturmprojekte“, bei denen sie die größere Freiheit privater Trägerschaft nutzt, um vorbildhaft tätig zu werden. Die Impulse können dabei unterschiedlicher Art sein. Für den Bereich Migration und Bildung kann als Beispiel kirchlicher „best practice“ die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck angeführt werden. Sie befindet sich in einem so genannten sozialen Brennpunkt und hat einen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund (hauptsächlich türkisch-stämmig) von mehr als 20%.

  • Als „Familienschule“ will sie zwar keine Konkurrenz zum häuslichen Umfeld sein, aber doch durch eine familiäre Atmosphäre für ein Klima sorgen, in dem sich die Kinder und Jugendlichen „zu Hause“ fühlen.
  • Als „Erziehungsschule“ will sie Akzente setzen gegen eine Kultur des Wegschauens und die Charakterbildung nicht weniger ernst nehmen als die Wissensvermittlung.
  • Der Begriff der „Lebensschule“ verweist auf Lernkonzepte, die Musik, Theater, Handwerk, Sport, Spiel und alljährliche Klassenfahrten in den Unterrichtsalltag einbeziehen.
  • Schließlich versteht sie sich nicht zuletzt auch als „Stadtteilschule“, die in Gelsenkirchen-Bismarck in vielfältiger Weise mit dem lokalen Umfeld verknüpft ist.

Gute Voraussetzungen für die Umsetzung der pädagogischen Konzepte bietet auch die einzigartige und vielfach preisgekrönte Architektur: ein großzügiges Hauptgebäude mit Bibliothek, Aula, Mensa, attraktiven Fachräumen und einem begrünten offenen Lichthof, sowie die Klassenhäuser, die auf zwei Etagen den Schülerinnen und Schülern viel Raum lassen und für jede Klasse einen eigenen Garten wie auch einen eigenen Sanitärbereich bereit halten.

Für weitere Informationen: http://www.e-g-g.de/

Breiter als die schulische Versorgung ist der konfessionelle Vorschulbereich angelegt: Bundesweit sind über die Hälfte der Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft. Auch hier ist die Kirche bestrebt, vorbildhaft für die übrigen Träger zu wirken und auch durch Integrationsprojekte maßgeblich auf das Bildungssystem als Ganzes Einfluss zu nehmen. So gehören für viele diakonische Bildungseinrichtungen Zusatzangebote für Eltern zum Programm. Als Beispiel lässt sich hier die „Elternschule“ in Cloppenburg anführen:

Diakonisches Werk Cloppenburg, Paul-Gerhardt-Schule und Diakonie-Kindergarten „Die Arche“ haben das Projekt „Fit für die Gesellschaft – Elternschule mit Migranten in Kindergarten und Grundschule“ konzipiert. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Situation der Mütter gelegt. Neben Migrantenfamilien können und sollen auch einheimische Eltern diese Angebote wahrnehmen.

Das Projekt hat drei Schwerpunkte:

  • vierzehntägige Elterntreffs im Kindergarten,
  • monatliche Gesprächs- und Informationsabende im Diakonischen Werk,
  • ein halbjähriger Deutschkurs für Mütter mit Kinderbetreuung in der Schule.

Dabei können sich aus diesen Angeboten weitergehende gemeinschaftsstiftende Unternehmungen entwickeln.

Für weitere Informationen: http://www.diakonie-cloppenburg.de/flyer/flyer-eltern.pdf

 

Zu den Fragen der Konsultation im Einzelnen:

A. Politische Herausforderung
1. Welches sind die wichtigsten politischen Herausforderungen in Zusammenhang mit einem gu-ten Bildungsangebot für Kinder mit Migrationshintergrund? Gibt es neben den hier ermittelten weitere Herausforderungen, die berücksichtigt werden sollten?

Zu 1.)

Die Mitgliedstaaten der EU haben sich zu Einwanderungsgesellschaften entwickelt oder sind auf dem Weg dorthin. Gründe der Migration sind vielschichtig: innerhalb der EU nutzen immer mehr Menschen die beruflichen Chancen, die sich durch Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit ergeben; globale Handelsbeziehungen bringen Menschen für begrenzte Zeiträume nach Europa; die EU bleibt ein interessantes Ziel für Migranten aus wirtschaftlich schwachen Regionen der Erde; die Mitgliedstaaten gewähren Verfolgten internationalen Schutz; schließlich ist die EU auf die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte in einigen Branchen angewiesen – eine Tendenz, die aufgrund der demographischen Entwicklung noch ansteigen wird. Bei den genannten Migrationsformen handelt es sich um sehr unterschiedliche Phänomene, die auch bildungspolitisch unterschiedliche Konsequenzen haben: Handelt es sich bei Kindern mit Migrationshintergrund um Kinder mit einer mittel- oder langfristigen Aufenthaltsperspektive? Welche Bildungserfahrungen aus anderen Systemen bringen sie mit? Bewegen sie sich außerhalb der Bildungseinrichtungen in einem ethnisch-kulturell homogenen oder heterogenen Umfeld? Sind ihre Eltern mehrsprachig und der Landessprache(n) mächtig? Es ist daher zu begrüßen, dass das Grünbuch eine weite Definition des Migrations-hintergrundes anwendet. Die Folge ist allerdings, dass die Strategien zur Lösung der angezeigten Probleme differenziert sein müssen:

Einige Kinder wachsen bereits in einem bewusst international und interkulturell geprägten Umfeld auf, in dem Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz wertgeschätzt und gefördert werden. Sie profitieren von diesen Eigenschaften, die ihre schulischen und beruflichen Perspektiven verbessern. Dies wird in der Regel sowohl von den Eltern als auch von den – oft spezialisierten – Bildungseinrichtungen gefördert. Der bei weitem größte Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund hat jedoch in mehrfacher Hinsicht erschwerte Ausgangsbedingungen, die sich einheitlich in schlechteren Bildungserfolgen niederschlagen. Bei ihnen vermischen sich in der Regel die migrationsbedingten Schwierigkeiten mit migrationsunabhängigen Problemen der sozialen Herkunft und der Bildungsschicht, der sie entstammen. Dies führt zu einer gegenseitigen Verstärkung der Probleme. Je stärker ein Bildungssystem auf Prägung durch das Elternhaus und die tatkräftige Unterstützung des Kindes durch das familiäre Umfeld setzt, desto schwerer haben es diese Kinder, ihre Schwierigkeiten zu überwinden. In der Folge führt dies zu einer Verfestigung sozialer Schichtungen entlang ethnischer Grenzen.

Nicht gelingende Bildungskarrieren, das Fehlen anerkannter Schulabschlüsse / Berufsausbildungen, die fehlende Anerkennung von außerhalb der EU erworbenen Qualifikationen sowie eine große Gruppe von Hauptschulabsolventen ergeben zudem eine wachsende Anzahl schwer oder nicht-vermittelbarer Arbeitssuchender, die den Anschluss an die Wissens-, Kommunikations- und Dienstleistungsgesellschaft verlieren, in der rein manuelle Arbeit immer seltener gebraucht wird. Bildungspolitik ist daher ein wesentlicher Faktor von Integrationspolitik – sie kann aber auch nicht ohne diese gestaltet werden.

 

B. Politische Antwort
2. Welches ist die geeignete politische Antwort auf diese Herausforderungen? Gibt es neben den hier aufgelisteten weitere Politikkonzepte und -ansätze, die berücksichtigt werden sollten?

Zu 2.)

Der Bildungspolitik kommt eine Schlüsselstellung für gelingende Integration zu. Dies trifft sowohl für die soziale Durchlässigkeit innerhalb einer Gesellschaft als auch für ihre Aufnahmefähigkeit gegenüber Fremden zu. In einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft gehört Bildung zu den wesentlichen zentripetalen oder Kohäsionskräften. In einer zunehmend auf Wissen und Kommunikation ausgerichteten Wirtschaft ist sie eine Grundvoraussetzung für nachhaltiges Wachstum der Volkswirtschaft und gesellschaftliche Partizipation der Individuen. Bildung ist daher nicht auf grundständige Bildung oder Bildung bis zum tertiären Abschluss zu beschränken, sondern als lebenslanger Prozess zu begreifen, der in jeder Stufe der Unterstützung durch Institutionen und Strukturen bedarf. Im ganzen Leben zu lernen, stärkt die Mündigkeit.

Zur Ausrichtung des Bildungssystems gehört auch die Verständigung über den Bildungsbegriff. Aus protestantischer Sicht ist Bildung mehr als bloßes Verfügungswissen, sondern umfasst zugleich die Frage nach den Zielen von Wissen und Lernen, ist also Orientierungswissen. Dieses ermöglicht erst verantwortungsbewusstes Handeln. Ausgehend von solchem integrativen Bildungsverständnis müssen Werte und Fähigkeiten gefördert werden, die nicht wirtschaftlich verrechenbar sind. Jedes neue Können vermehrt das Selbstvertrauen; Kompetenzzuwachs ist ein Teil des Wachstums der Persönlichkeit. Es entspricht der Würde des Menschen, sich selbstbestimmt zu entfalten und von seinen Gaben Gebrauch zu machen, Fertigkeiten und soziale Fähigkeiten zu erwerben sowie einen unternehmerischen Geist zu entwickeln. Mit einer inhaltlichen ethischen Bestimmung und dem Akzent auf der Bildung der Person geht der protestantische Bildungsbegriff über ein formal-operationales Verständnis hinaus. Ohne sich bestimmte Weltanschauungen zu Eigen zu machen, hat auch der Staat in öffentlichen Schulen und Lernräumen eine Verantwortung für solche Bildung. Sie schlägt sich auch in den Strukturen des Bildungssystems nieder:

  • Diskriminierungen müssen verhindert werden, z.B. sollten Kinder mit Migrationshintergrund nur dann getrennt von einheimischen Kindern unterrichtet werden, wo dies sachlich geboten und für spezielle Förderung unerlässlich ist. Dies kann nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein. Pädagogische Erfahrungen zeigen zudem, dass die gemeinsame Unterrichtung von lernstarken und -schwachen Schülern die erste Gruppe nicht wesentlich behindert, der zweiten aber deutliche Vorteile verschafft. Dementsprechend sollten die Mitgliedstaaten von der Europäischen Kommission angehalten werden, die Anwendung ihrer Anti-Diskriminierungsgesetze insbesondere in Bezug auf Bildung strenger zu überwachen.
  • Schwierig zu beheben sind indirekte oder unbewusste Diskriminierungen. Statistiken – in Deutschland – belegen, dass Kinder mit Migrationshintergrund bei gleichen Testergebnissen signifikant schlechtere Noten und schlechtere Einstufungen im mehrstufigen Bildungssystem erhalten. Dem kann nur durch gezielte Bewusstseinsbildung bei den Lehrkräften entgegengewirkt werden. Verbesserungen sind hier nur durch verstärkte Berücksichtigung entsprechender Themen in der Aus- und Weiterbildung des Lehrpersonals zu erreichen. Insgesamt kann hierbei der Austausch und die Kooperation mit Vereinigungen der Migranten und anderen gesellschaftlichen Akteuren hilfreich sein. Die Qualifikation, die Landessprache als Fremdsprache unterrichten zu können, ist ein konkretes Beispiel; auch eigene Auslandserfahrungen im Rahmen von Studium und Ausbildung bzw. durch Austauschprogramme sind empfehlenswert. Letztgenannte können auch dazu dienen, mehr Muttersprachler in den Fremdsprachenunterricht einzubinden. Drüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten sich interkulturell öffnen, indem sie mehr Lehrer mit Migrationshintergrund ausbilden und einstellen, um die gesellschaftliche Wirklichkeit auch im Schulalltag abzubilden und den SchülerInnen Identifikation zu ermöglichen.
  • Insbesondere bei Jungen muss darauf geachtet werden, dass ihnen Lernformen angeboten werden, die auf sie zugeschnitten sind: Die Tendenz, dass Jungen „Bildungsverlierer“ sind, droht sich in bildungsfernen Milieus zu steigern, zu denen viele Migrantenfamilien gehören. Der geschlechterspezifische Ansatz ist auch in anderer Hinsicht wichtig. Bei Mädchen kann es vorkommen, dass kulturelle Traditionen der Herkunftsländer ihrer Teilnahme am gesamten Spektrum des Bildungsangebots entgegenstehen und diese deshalb besonders gefördert werden muss.
  • Dabei ist für die Bewusstseinsbildung und die Prävention die Einbeziehung von Eltern und Migrantenvereinigungen in die Bildungsplanung vorrangig. Die EKD geht im allgemeinen davon aus, dass nicht-gelingende Bildungskarrieren von Kindern mit Migrationshintergrund auf die genannten strukturellen Probleme statt auf mangelnde Bereitschaft zurückzuführen sind. Dennoch sollten auch politische Instrumente er-wogen werden, zumindest die reine Inanspruchnahme der Bildungsangebote mit mehr Verbindlichkeit auszustatten.

Auch für Kinder mit Migrationshintergrund gilt, dass die Bildungsanstrengungen erfolgreicher sind, wenn sie das familiäre und soziale Umfeld mit einbeziehen. Als Beleg für diese These können die unterschiedlichen Bildungserfolge – unabhängig sowohl von der Schicht als auch dem Bildungssystem des Aufnahmelandes – im Vergleich verschiedener Herkunftskulturen gewertet werden (z.B. das überdurchschnittlich gute Abschneiden von Kindern mit indischem oder chinesischem Hintergrund). Das Augenmerk sollte dabei insbesondere Frauen gelten, die in den kulturellen Traditionen vieler Immigranten die zentrale Rolle bei der Erziehung spielen. Das Ziel dieser Einbeziehung sollte dabei ein doppeltes sein: die erzieherische Unterstützung für die Bildungsanstrengungen der Kinder zu gewinnen und die an der Erziehung (im weiteren Sinne) beteiligten Personen in die Lage zu versetzen, sie konstruktiv zu begleiten (empowerment). Dies ist zugleich ein Beitrag zu deren eigener Integration.

  • Neben dem engeren familiären Umfeld sollte auch das weitere Umfeld in die Anstrengungen einbezogen werden. Ein Problem der Bildungsintegration besteht darin, dass insbesondere im städtischen Bereich eine Konzentration der Migranten in bestimmte Stadtteile und damit der Kinder in bestimmte Bildungseinrichtungen erfolgt. Eine regelmäßige und verlässliche Kontaktaufnahme mit der Aufnahmegesellschaft fehlt: Auf Ebene der Kinder mit „peers“, deren Muttersprache die Landessprache ist, auf Ebene der Eltern z.B. als Austausch mit anderen, die über Kenntnisse und Erfahrungen mit jeweiligen Bildungssystem verfügen. Die Schulen allein sind mit dieser Aufgabe überfordert. Ihre Arbeit muss daher flankiert werden von klassischer Sozialarbeit, aber auch – und in zunehmendem Maß – von nicht-staatlichen Akteuren. Vereinigungen der Migranten selbst kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu; Religionsgemeinschaften, die einen wesentlichen Faktor der Identitätsbewahrung darstellen, können Brückenfunktionen einnehmen.
  • Die Verbindlichkeit von Bildungsangeboten muss auch für den Staat gelten: Insbesondere muss er auch den Kindern von Migranten unabhängig von deren Aufenthaltsstatus die Teilnahme am regulären Unterricht ermöglichen. Mehrjährige Unterbrechungen der Ausbildung mindern die Perspektiven dieser Kinder unabhängig davon, in welchem Staat sie einen dauerhaften Aufenthalt finden.
  • Auch die Aufnahmegesellschaft muss sich öffnen: Integration ist nicht nur ein wechselseitiger, sondern auch ein kontinuierlicher Prozess, da sowohl Minderheiten als auch Mehrheiten einem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Dem Erlernen der Amtssprache(n) – bei jungem Zuwanderungsalter bereits im Vorschulbereich – kommt Priorität zu, da sie die Grundvoraussetzung für den Kompetenzerwerb in allen Gebieten ist. Einrichtungen und Fachverbände in Kirche und Diakonie sind im Übrigen selbst Träger von Integrationskursen.
  • Daneben sollte auch die Pflege der Muttersprache(n) unterstützt werden. Die oft mehrsprachigen Fähigkeiten der Kinder mit Migrationshintergrund sollen gewürdigt, genutzt und gefördert werden. Letzteres kann nur dort in Form eines Regelunterrichts erfolgen, wo die Einwandererstruktur sprachlich so homogen ist, dass akzeptable Lerngruppengrößen gewährleistet sind. Alternativ bietet sich deshalb die gezielte Kooperation mit Migrantenvereinigungen an. Dabei sollte keine Bewertung der „Nützlichkeit“ einer Herkunftssprache nach Verwertbarkeitskriterien erfolgen. Bildung ist immer auch Persönlichkeitsbildung, bei der der Muttersprache eine wesentliche identitätsstiftende und  sichernde Funktion zukommt. Darüber hinaus erlernen Kinder eine weitere Sprache leichter, wenn sie eine Sprache sicher und umfassend beherrschen. Befürchtungen, dies hindere die Akkulturation, sollten abgebaut werden: Identitäten werden nicht alternativ, sondern ergänzend erworben.
  • Oft sind die eingewanderten Jugendlichen „Quereinsteiger“, die mehrjährige Schulerfahrung oder einen Schulabschluss vorweisen können. Dennoch werden ihre Potentiale oft kaum fruchtbar gemacht, was in vielen Fällen an der mangelnden Anerkennung ihrer Bildungserfahrungen liegt. Deshalb sollten die Anstrengungen verstärkt werden, auch außerhalb der EU erworbene Schulabschlüsse und Qualifikationen leichter als bisher anzuerkennen, indem Kriterien zur Vergleichbarkeit des Abschlussniveaus aufgestellt werden.
  • Der Religion kommt dabei ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu: Stabilisieren Einwandererreligionen das Gefühl der „Fremdheit“ oder lassen auch sie sich auf einen Akkulturationsprozess ein? Um dies zu ermöglichen, muss die Gesellschaft ihnen gegenüber auf Abwehrreflexe verzichten. Formen der Unterrichtung in der Religion, die in inhaltlicher Verantwortung der Religionsgemeinschaften, aber in struktureller Kooperation mit den Bildungsträgern angeboten werden, helfen, die Bewahrung von Identität und die Eingliederung in die neue Kultur und ihre ggf. differierenden Wertordnungen zusammen zu bringen. Hinzu kommt, dass die Einwanderreligionen auch Brücken zwischen den verschiedenen Ethnien der Einwanderer schlagen können.

 

C. Rolle der Europäischen Union
3. Welche Maßnahmen sollten mithilfe europäischer Programme durchgeführt werden, um die Bildung von Kindern mit Migrationshintergrund positiv zu beeinflussen?

Zu 3.)

  • Die Einbindung nicht-staatlicher Akteure kann durch Europäische Programme, z.B. den Sozialfonds gefördert werden.
  • Auch sollten im Rahmen der Bildungsprogramme Comenius, Leonardo da Vinci und Grundtvig (evtl. auch Erasmus) Projekte zur Förderung der Bewusstseinsbildung (awareness-raising) bei Lehrkräften und spezifischer interkultureller pädagogischer Kompetenzen bei Lehrenden und Ausbildenden eingerichtet werden.
  • Gezielte Austauschprogramme für Lehrer könnten etabliert werden, gerade mit Blick auf den Mehrwert von Muttersprachlern, aber auch von muttersprachlichen Lehrern im Unterricht insgesamt und eventuell zur Unterstützung des Unterrichts in der Herkunftssprache von Kindern mit Migrationshintergrund.
  • Beispiele von best practice könnten gesammelt und publiziert werden; der regelmäßige Austausch unter den Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten sollte organisiert werden.


4. Wie könnten diese Probleme im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung angegangen werden? Sollten etwaige Indikatoren und/oder Benchmarks ermittelt werden, um die politischen Anstrengungen stärker darauf auszu-richten, Lücken in der Bildungsleistung zu schließen?

Zu 4.)

Im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung könnten Zielvereinbarungen getroffen werden, die derzeitigen Bildungserfolge von Kindern mit Migrationshintergrund zu verbessern. Dazu sollten bestimmte Benchmarks festgelegt werden. Wichtige Indikatoren sind:

  • Entspricht der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund mit einem bestimmten Bildungsabschluss dem Anteil der Kinder der einheimischen Bevölkerung mit demselben Abschluss?
  • Lassen sich Benotung und – bei mehrstufigen Schulsystemen – Einstufung von Kindern mit Migrationshintergrund durch unabhängige Tests verifizieren oder weichen sie bei gleichen Testergebnissen von der Bewertung der einheimischen Kinder signifikant ab?

Allerdings muss die Vergleichbarkeit gewährleistet sein: In einigen Mitgliedstaaten er-fordern einige Berufe Hochschulabschlüsse, zu denen der Zugang in anderen Mitgliedstaaten auch durch eine nicht-akademische Ausbildung offen ist (z.B. Krankenpflege). Eine Erfassung der Bildungserfolge von Migranten muss daher qualitativ und nicht nur quantitativ erfolgen. Auch müssen andere Faktoren wie z.B. die Eingliederungsquote bzw. Arbeitslosenquote nach erfolgter Schul- oder Hochschulausbildung erfasst werden, um ein vollständiges Bild zu erhalten.

Auch sollten Zielvorgaben vereinbart werden, um die spezifische Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund vergleichbar zu machen. Dazu gehört als Ziel die Angleichung der oben genannten Vergleichsfaktoren zwischen einheimischen Kindern und solchen mit Migrationshintergrund. Hinzu kommen dafür erforderliche Mittel, z.B.

  • Mindeststandards für Sprachförderung (Stundenzahl, Betreuungsschlüssel etc.),
  • Angebote für Eltern (Beratung in deren Muttersprache, evtl. in Zusammenarbeit mit Migrantenvereinigungen).

 

D. Zukunft der Richtlinie 77/486/EWG
5. Welche Rolle kann die Richtlinie 77/486/EWG bei der Unterstützung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich spielen, wenn man ihre Vorgeschichte berücksichtigt und die seit Annahme ver-änderten Migrationsströme vor Augen hat? Sollte die Richtlinie in ihrer derzeitigen Fassung bei-behalten, sollte sie angepasst oder aufgehoben werden? Gibt es alternative Ansätze, um die Mit-gliedstaaten bei der Bewältigung dieser Probleme zu unterstützen?

Zu 5.)
 
Art. 2 der RL 77/486/EWG ist trotz der genannten Veränderungen insofern aktuell, als den Mitgliedsstaaten auferlegt wird, einen kostenlosen Einführungsunterricht anzubieten, „der insbesondere eine den spezifischen Bedürfnissen dieser Kinder angepasste Unterweisung in der Amtssprache oder einer der Amtssprachen des Aufnahmelandes umfasst“. Während sich dies aufgrund der Kompetenzordnung der Gemeinschaft nicht auf Kinder aus Drittstaaten beziehen kann, wird doch ein System geschaffen, von dem auch diese profitieren können, wenn die Mitgliedsstaaten es von sich aus für diese Gruppe öffnen. Dies könnte z.B. im Rahmen der offenen Methode der Koordinierung vereinbart werden. Problematisch ist, dass diese Vorschrift bisher nur unzureichend umgesetzt ist – dies müsste behoben werden.
 

Auch durch die Verpflichtung, Lehrkräfte in Aus- und Fortbildung auf diese Aufgabe vorzubereiten, können Kinder mit Migrationshintergrund aus Drittstaaten profitieren. Die explizite Erwähnung interkultureller Kompetenzen sollte deshalb bei einer möglichen Revision der Richtlinie in den Gesetzestext aufgenommen werden.

Art. 3 der Richtlinie entspricht hingegen nicht mehr den Anforderungen veränderter Migrationsmuster. In der EU27 ist es kaum noch möglich, „in Zusammenarbeit mit den Herkunftsstaaten“ und „unter Koordinierung mit dem Regelunterricht“ die Unterweisung in der Muttersprache und der heimatlichen Landeskunde zu gewährleisten. Allerdings bietet es sich für die EU Kommission an, mit den Mitgliedsstaaten über die Praktikabilität dieser Vorschrift zu sprechen. Ein Lösungsansatz wäre, als Kooperationspartner neben den Mitgliedstaaten zunehmend nicht-staatliche Akteure, insbesondere Vereinigungen der Migranten, einzubeziehen. Dies hat den Vorteil, dass sich die Angebote nicht auf die Angehörigen der EU-Staaten beschränken müssen. Eine solche Ausweitung sollte je-doch nicht durch eine Richtlinie, sondern im Rahmen politischer Vereinbarungen erfolgen. Der Kompetenzordnung ist hier entsprechend Rechnung zu tragen.

Bevor eine Revision der Richtlinie ins Auge gefasst wird, sollte daher zunächst vorrangig die Umsetzung des existierenden Gesetzestextes sichergestellt werden.

 

***

 

Im übrigen verweisen wir auf die Stellungnahmen unserer ökumenischen Partner:

- Caritas Europa
- CCME
- Comece
- ICMC
- JRS
- Quaker Council for European Affairs