Heilsame Unterbrechung in der Passionszeit 2016

Predigt in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin

Hebräer 5, 7-9

Die Gnade unseres Herrn…

gehorsam sollen wir also sein. So haben wir es gerade in dem Abschnitt aus dem Hebräerbrief gehört.

Mit Gehorsamsforderungen tun wir uns heute schwer. Ich finde: zu Recht. Wie viel Schrecken haben gehorsame Menschen schon verbreitet! Gehorsam waren die Angehörigen von SA und SS. Ihrem Gehorsam folgte eine nicht enden wollende Blutspur durch Deutschland und Europa. Gehorsam waren die Grenzsoldaten der DDR – und schossen auf Menschen, die nichts weiter wollten als frei sein. Für gehorsam halten sich wohl auch die Kämpfer des so genannten Islamischen Staates. Für gehorsam gegenüber Gott und göttlichem Recht, wenn sie Menschen drangsalieren, foltern oder enthaupten und uralte Kulturgüter zerstören. Auch in der christlichen Kirche hatte Gehorsam mitunter dramatische Folgen. Hier waren es allerdings die Opfer, die schweigen und gehorchen mussten. In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das und geschah in kirchlichen Kinder- und Jugendheimen. Die Folgen spüren viele Opfer bis auf den heutigen Tag, weil sie ihren Peinigern zunächst stille hielten und dann über das ihnen zugefügte Leid stille schwiegen. Weil sie die Demütigungen, die sexuellen Übergriffe, die Schläge, tief in ihrer Seele vergruben…

Gehorsam gilt den meisten von uns deshalb zu Recht nicht mehr als Tugend. An seine Stelle sind Mündigkeit, Freiheit und Verantwortungsbewusstsein getreten. Verantwortungsvolle Eltern werden zwar von ihren Kindern immer wieder Gehorsam verlangen, um sie vor Gefahren zu bewahren und Schaden von ihnen abzuwenden. Aber Erziehungsziel ist Gehorsam in der Regel nicht mehr. Das gilt in Deutschland sogar für die Streitkräfte, die zwar Gehorsam verlangen, die Freiheit des Gewissens aber über den Gehorsam stellen…
Gehorsam sollen wir sein, heißt es im Brief an die Hebräer. Aber: Das Unbehagen weicht, wenn wir darauf achten, wem wir Gehorsam schulden, nämlich Jesus Christus.

Von Jesus Christus haben wir zu Weihnachten gesungen: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein.“ Das stellt unser Verständnis von Gehorsam auf den Kopf. Wenn wir von „Gehorsam“ sprechen, dann meinen wir gewöhnlich dies: Ein Mächtiger befiehlt und ein Untergebener führt den Befehl aus. „Oben“ wird etwas angeordnet und „unten“ der Anordnung Folge geleistet. Ein Starker kommandiert, ein Schwacher pariert. Das alles stimmt aber nicht mehr, wenn es Jesus Christus ist, dem wir gehorchen. Jetzt in der Passionszeit erinnern wir uns daran, dass er gerade nicht mächtig, sondern ohnmächtig, nicht oben sondern unten, nicht stark sondern schwach war...

Im Hebräerbrief sehen wir nun, was es genau bedeutet, Christus gehorsam zu sein. Als erstes erfahren wir, dass Christus selbst Gehorsam gelernt hat: „So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.“ Wir werden also zunächst mit Jesus Christus Gehorsam lernen, und ahnen, dass das nicht leicht ist. Jesus hat den Gehorsam nämlich gelernt an dem, was er litt. Und der Hebräerbrief wird noch deutlicher: „Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte…“ Wir denken an Szenen aus der Passionsgeschichte. Wir sehen vor uns das tränenüberströmte Gesicht Jesu und haben im Ohr sein Seufzen am Vorabend seines Todes im Garten Gethsemane. Und wir hören den verzweifelten Schrei, den der Gekreuzigte am darauf folgenden Tag ausstößt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“

Jesus lernte Gehorsam an dem, was er litt. Aber nicht so, dass er stumm, geduldig und willenlos alles über sich ergehen ließ oder gar das Leid freudig begrüßte. Nein, als Jesus Gehorsam lernte, da schrie, klagte und weinte er. Da wehrte er sich gegen das bevorstehende Leid. Da ließ er es nicht zu, dass das Leid übermächtig wurde und sich an die Stelle Gottes setzte…
 
Mit Christus Gehorsam zu lernen heißt also nicht, dass wir uns einfach in unser Leid ergeben sollen. Es heißt nicht, wie ich es unlängst auf einem alten Grabstein las: „Lerne leiden ohne zu klagen.“ Wer mit Christus Gehorsam lernt, der darf gegen das Leid aufbegehren und klagen. Der darf sich auflehnen gegen Schmerz und Tod. Wem eigene Worte dafür fehlen, der wird in der Bibel fündig werden.  Im Buch Hiob etwa und in den Klageliedern Jeremias und ganz besonders in den Psalmen. Einen Klagepsalm haben wir vorhin miteinander gebetet. Ein anderer, der Psalm 69, beginnt mit diesem Schrei: „Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten und die Flut will mich ersäufen. Ich habe mich müde geschrien, mein Hals ist heiser. Meine Augen sind trübe geworden, weil ich so lange harren muss auf meinen Gott…“

Mit Christus Gehorsam zu lernen, das hat aber nun auch noch eine zweite Seite: Denken wir noch einmal an den Abend im Garten Gethsemane. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“, seufzt Jesus schließlich. Und erinnern wir uns noch einmal an die Todesstunde Jesu, als der Sterbende betet: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Jesus gibt am Ende nicht auf. Wohl aber gibt er am Ende das Leiden ab. Er legt es in die Hände dessen, der größer ist als alles Leid, der – wie es im Hebräerbrief heißt – „ihn vom Tod erretten konnte.“ Das ist der Gehorsam, den Jesus gelernt hat. Dieser Gehorsam ist nichts anderes als das unbedingte Vertrauen zu Gott. Im Garten Gethsemane besteht Jesus deshalb nicht auf seinem eigenen Willen und auf Golgatha nimmt er sein Schicksal nicht selbst in die Hand...

Auf dem eigenen Willen bestehen, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dazu neigen nicht wenige Menschen. Besonders zeigt sich das, wenn über den Anfang und das Ende unseres Lebens diskutiert wird. Manche Leute wollen am liebsten überhaupt nur gesundes und vielversprechendes Erbgut und gesunde Embryonen zum Leben kommen lassen und so späteres Leiden verhindern. Andere wollen – wie es etwa in Belgien und den Niederlanden unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt ist - das Leben von Menschen und damit ihr Leiden aktiv beenden können. Doch wer immer einer vorgeburtlichen Selektion das Wort redet und wer immer Euthanasie befürwortet, der setzt sich – anders als Jesus es tat – an die Stelle Gottes, des Herrn über Leben und Tod…

Manchmal freilich sind Menschen so verzweifelt, dass sie keinen anderen Ausweg sehen als eine Schwangerschaft abzubrechen oder dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Niemand hat das Recht, hier zu urteilen oder gar zu verurteilen. Christen werden vielmehr diese Menschen in ihrer Seelenqual begleiten so wie Christus sich der Menschen in Not annahm. Christus gehorsam zu sein, heißt nämlich nicht allein mit Christus das Vertrauen auf Gott zu lernen. Es heißt auch, von ihm zu lernen, was Gottes Wille ist. „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“. So hat Jesus es gesagt und vorgelebt. Deshalb wird, wer Christus gehorsam ist, die  Menschen lieben und ihnen zum Leben helfen. Mediziner tun das, wenn sie Erkrankungen diagnostizieren und behandeln. Unzählige engagierte Menschen tun das, wenn sie seit Monaten eine Willkommenskultur für die vielen gestalten, die bei uns Schutz vor Verfolgung, Krieg und Not suchen. Wenn sie Flüchtlinge zu Ämtern begleiten, sie die deutsche Sprache lehren, ihnen zeigen, wie man U- und S-Bahnen benutzt. Menschen in politischer Verantwortung sind Christus gehorsam, wenn sie Fluchtursachen bekämpfen, indem sie sich für gerechte Handelsbeziehungen einsetzen, bei der Ausfuhr von Rüstungsgütern genau hinschauen, für wirksamen Klimaschutz eintreten…

„Und als Christus vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.“ heißt es am Schluss unseres Predigtabschnitts. Was für eine Verheißung! Dabei ist klar: Nicht wir sind die Urheberinnen und Urheber des ewigen Heils. Christus ist es und niemand sonst.  Das entlastet. Niemand muss sich selbst ein Denkmal setzen und niemand muss der Welt das Heil bringen. Nicht wenige Menschen haben sich und anderen Schaden zugefügt, als sie das versuchten. Deshalb erinnert der Hebräerbrief so eindringlich daran, dass Christus und niemand sonst der Urheber des ewigen Heils geworden ist.

Aber klar ist auch das andere: Das ewige Heil ist für die bestimmt, die Christus gehorsam sind. Christus ist gehorsam, wer zwar im Leid klagt, seufzt und schreit, sich aber am Ende Gott in die Arme wirft. Und: Christus ist gehorsam, wer sich in seiner Nachfolge den Nächsten liebt und für das Leben eintritt. Gelegenheit dazu hat jede und jeder. Für alle, die ihm gehorsam sind, ist Christus der Urheber des ewigen Heils geworden. Mit diesem Versprechen lasst uns in die Karwoche und in die Osterzeit gehen.

Und der Friede Gottes…