Subsidiarität - Anmerkungen zu einem Kernbegriff unserer Gesellschaftsordnung
20. Juli 2011, Pfr. Patrick Roger Schnabel, Bonn
Über das "Subsidiaritätsprinzip" wird viel gesprochen, machmal auch gestritten. Ich will versuchen, in wenigen Sätzen zusammen zu fassen, was ich für entscheidend halte, wenn es um Subsidiarität als Strukturprinzip unserer Staats- und Gesellschaftsordnung geht. Die folgenden Zeilen enthalten keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht mir darum, darzulegen, warum ich das Prinzip weiterhin für wichtig halte - für uns als "Freie Träger" in vielen Bereichen, aber auch für unsere Gesellschaft insgesamt:
Das Subsidiaritätsprinzip ist ein System der Zuordnung unterschiedlicher Ebenen zueinander. Als Ordnungsprinzip besagt es, dass die „höhere“ Ebene erst dann (unterstützend) tätig wird, wenn die zunächst zuständige Ebene die erforderliche Leistung nicht mehr (allein) erbringen kann. Dies gilt in vertikalen Hierarchiestrukturen, z.B. im Staatsaufbau. Hier wird diejenige Ebene als die primär zuständige betrachtet, die lokal am nächsten ist. Die kommunale Selbstverwaltung und der Föderalismus sind Ausdruck dieses Anwendungsbereichs. Es gilt aber genauso in horizontalen Kompetenzstrukturen, insbesondere als Verhältnisbestimmung von Staat und Gesellschaft. Hier bedeutet es, dass der Staat erst dann die Erfüllung öffentlicher Aufgaben übernimmt, wenn die Gesellschaft dies aus sich selbst heraus nicht mehr leisten kann.
Beiden Anwendungsbereichen ist die Prämisse gemeinsam, dass die Qualität einer Entscheidung davon beeinflusst wird, wie nah sie an den Betroffenen fällt. Dabei wird Qualität nicht nur als Kriterium der Wirkung, sondern auch des Entstehungsprozesses begriffen. Partizipation erhöht die Identifizierung mit einer Entscheidung und ihre (empfundene) Legitimität.
Die freiheitlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland hat sich dafür entschieden, beide Ausprägungen der Subsidiarität als Struktur- und Identitätsprinzipien in Anwendung zu bringen. Die auf dem Subsidiaritätsprinzip aufbauende Zuordnung von Staat und Gesellschaft grenzt sich damit
§ besonders von einem etatistischen Ansatz ab, bei dem staatliche und öffentliche Aufgaben nicht unterschieden und nicht getrennt werden. In etatistischen Systemen (z.B. Frankreich) ist der Staat i.e.S. Verantwortlicher und Erbringer aller öffentlichen Aufgaben (Daseinsvorsorge, Bildung, Kultur…),
§ aber auch von einem Ansatz ab (wie er eher in den angelsächsischen Ländern zu finden ist), der öffentliche Aufgaben auf die Staatsaufgaben im engeren Sinne begrenzt und die Verantwortung und Erbringung weiterer gesellschaftlicher Aufgaben ganz der Zivilgesellschaft überlässt.
Die subsidiäre Zuordnung von Staat und Gesellschaft hingegen betont die geteilte Verantwortung für den Raum des Öffentlichen. Der Staat trägt die Verantwortung und setzt, bzw. vereinbart die Rahmenbedingungen dafür, dass diese Aufgaben erfüllt werden (können), überlässt die Erbringung selbst aber den gesellschaftlichen Kräften. Um die tatsächliche Erbringung zu gewährleisten unterstützt und fördert er diese Kräfte. Das schließt die Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen und die finanzielle Absicherung dieser Tätigkeiten ein. Dabei verbleiben ein Großteil des (unternehmerischen) Risikos und ein erheblicher Anteil der Finanzierung bei den Trägern. Der freiwillige Beitrag der Bürgerinnen und Bürger entlastet das Steuersystem und steigert die Identifikation mit den öffentlichen Aufgaben.
Das Subsidiaritätsprinzip ist eine politische Entscheidung, die auf den Grundwerten der Freiheit, der Eigenverantwortung und des Pluralismus basiert. Indem öffentliche Aufgaben und staatliche Aufgaben im engeren Sinne unterschieden werden, entsteht ein Raum gesellschaftlicher Freiheit, der durch die Verantwortung der Gesellschaft für ihren Bereich und durch seine offene, plurale Ausgestaltung gekennzeichnet ist.
Entscheidend für die Freiheitlichkeit dieses Konzepts ist die von der Verfassungsordnung intendierte (Selbst-)Beschränkung des Staats. Sie dient der Verwirklichung der gesellschaftlichen Pluralität. Ihre Voraussetzung aufseiten der Gesellschaft ist wiederum das Vorhandensein starker Gruppen, die als „Freie Träger“ fungieren und in Verantwortung eintreten können, den durch die staatliche Zurückhaltung frei gewordenen Raum sinnvoll zu füllen.
Das Subsidiaritätsprinzip ist damit zugleich Ausdruck eines fördernden, ermöglichenden Grundrechtsverständnisses. Grundrechte sind in ihrem Kern Abwehrrechte des Einzelnen (und der Gesellschaft) gegen den Staat. Auch sie dienen dazu, einen Freiheitsraum der Bürgerinnen und Bürger zu schaffen und zu erhalten. Im modernen, demokratischen, freiheitlichen und pluralistischen Staat verlieren sie diese Funktion nicht, sondern bewähren sich als Instrument des Schutzes bürgerlicher Freiheit. Der so definierte Staat gewährt die Grundrechte aber nicht mehr „wider Willen“, sondern gewährleistet sie und ihre Ausübung im Bewusstsein, dass seine eigene Identität auf dieser Ausübung aufbaut.
Die Freiheitlichkeit und Pluralität hängt daran, dass die Bürger ihre Rechte kennen und wahrnehmen, damit der entstandene Freiraum sinnvoll gefüllt werden kann. Darum fördert der Staat die Grundrechtsausübung seiner Bürger, allen voran die Meinungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die gesellschaftliche Teilhabe. Das Subsidiaritätsprinzip ist Ausdruck dieser Förderung, indem es die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass gesellschaftliche Gruppen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.
Damit die Subsidiarität zum tatsächlichen Pluralismus führt, hält sich der Staat nicht nur bei der Erbringung der öffentlichen Aufgaben zurück, sondern auch bei ihrer (inhaltlichen) Steuerung. Die Festlegung der Rahmenbedingungen dient der Qualitätssicherung (durch Lehrpläne etc. im Schulwesen, durch Qualitätsstandards etc. bei Kindergärten, Altenheimen, Sozialeinrichtungen) und der Verhinderung von Missbrauch (Selbstbereicherung, Ausnutzen von Abhängigkeiten etc.).
Die Enthaltsamkeit bei der Festlegung von Inhalten und Arbeitsmethoden (über die qualitativen Vorgaben hinaus) dient der Gewährleistung von Vielfalt. Die offene, plurale Gesellschaft wird in der Regel unterschiedliche Gruppen und damit unterschiedliche Träger hervorbringen, die den öffentlichen Raum füllen und sich an der Erbringung öffentlicher Aufgaben beteiligen. Mit dem Verzicht auf weitgehende Steuerungsmöglichkeiten verzichtet der Staat auf ein Gestaltungsinstrument, erkennt aber gleichzeitig die Eigen- und Gleichwertigkeit der gesellschaftlichen Beiträge an. Im Rahmen des gesellschaftlichen Bildungskonsenses ist sowohl die (vertikale) Länderkompetenz als auch die (horizontale) Trägerkompetenz explizit gewollt. Freiheit verzichtet auf Einheitlichkeit. Gleiches gilt für Konzepte der Kinderbetreuung, der sozialen Integration, der Entwicklungszusammenarbeit etc.
Dabei verspricht sich der Staat auch einen Qualitätsgewinn. Durch die private Organisation der Erfüllung öffentlicher Aufgaben ist eine größere Flexibilität und Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern gegeben. Die Freien Träger können schneller auf Veränderungen reagieren. Als intermediäre Organisationen verstehen sie sich als Erbringer öffentlicher Leistungen und zugleich als Anwälte der Leistungsempfänger gegenüber dem Staat, um notwendige Reformen anzuschieben. Speziell in der Entwicklungszusammenarbeit schafft die Unabhängigkeit der Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen Vertrauen bei den Partnern, dass sie weniger deutschen Eigeninteressen dienen. Hier können sie als ehrliche Makler auftreten und auch dort vermitteln, wo Deutschland aus politischen Erwägungen offiziell keine Partnerschaften und Dialoge pflegen kann. Dabei tragen sie allein die Verantwortung für Ihr Handeln und entlasten auch dadurch den Staat.
Dennoch gibt es immer wieder etatistisch orientierte Anfragen an die Praxis der Subsidiarität. „Wer zahlt, bestimmt!“ ist der Kernpunkt dieser Kritik. Doch diese Aussage impliziert schon einen Rückschritt hinter die Erkenntnis, dass staatliche und öffentliche Aufgaben zu unterscheiden sind. Eine jeweilige demokratisch legimitierte Regierung will und soll gestalten. Die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben ist ihr voll anheimgestellt. Die Ausgestaltung des öffentlichen Raumes kann jedoch im Selbstverständnis der vom Grundgesetz geprägten Freiheitsordnung vom Staat nur sehr bedingt und in Dialog und in Abstimmung mit den gesellschaftlichen Kräften erfolgen. Die Tatsache, dass der Staat seines Teils der Verantwortung durch Förderung, auch finanzielle Unterstützung der gesellschaftlichen „freien“ Träger nachkommt, stellt nicht die grundsätzliche Freiheit der Gesellschaft bei der Ausgestaltung in Frage – und darf der Pluralität der Formen keinen Abbruch tun.
Nur durch die Akzeptanz dieser (Selbst-)Beschränkung des Staats kann die Vielfalt erhalten werden, auf die unsere freiheitliche Grundordnung abzielt. Der Verzicht auf schematische Einheitlichkeit gewährleistet für alle gesellschaftlichen Richtungen – politisch, religiös, weltanschaulich … –, dass sie entsprechend ihrer Größe und Überzeugungskraft gesellschaftsprägend bleiben: über jeden Regierungswechsel hinaus.
(Patrick Roger Schnabel)