Römer 14, 17-19

Predigt im Berliner Dom

Liebe Schwestern und Brüder,

die Christen in Rom, an die der Apostel Paulus seinen Römerbrief schreibt, haben ein Integrationsproblem. Genau genommen sogar ein doppeltes. Als Christen sind sie in der heidnisch geprägten Hauptstadt des Römischen Reiches eine winzig kleine Minderheit. Schon das ist eine enorme Herausforderung für jeden Einzelnen und provoziert viele Fragen: „Wie offen kann und will ich mich im Alltag zu meinem christlichen Glauben bekennen? Halte ich es aus, belächelt oder benachteiligt zu werden, weil ich Christ bin? Ertrage ich es, dass Freundschaften in die Brüche gehen, weil ich mich habe taufen lassen? Kann ich es verantworten, dass meine Familie wegen meines Glaubens belastet wird?“ Solche Fragen haben bis vor gar nicht langer Zeit auch viele Christen in der DDR bewegt und sie bewegen Christen bis zum heutigen Tag fast überall dort, wo sie in der Minderheit sind…

Bei den frühen römischen Christen kommt nun noch etwas hinzu: Innerhalb der ohnehin schon kleinen Christengemeinde gibt es noch einmal eine Minderheit: die Judenchristen. Das sind jene Gemeindeglieder, die vor ihrer Taufe Juden waren und die jüdischen Reinheits-, Feiertags- und Speisegebote gehalten haben und sich verpflichtet sehen, das auch nach ihrer Taufe zu tun. Ihre Überzeugung bringt sie in Gewissensnot: „Wo sollen wir in Rom nach jüdischen Vorschriften geschlachtetes Fleisch her bekommen? Die heidnischen Schlachter haben keines und die jüdischen Metzger werden uns keines geben. In deren Augen sind wir ja vom rechten Glauben abgefallen.“ Und so kommen die Judenchristen zu dem Schluss: „Dann essen wir eben gar kein Fleisch; als Vegetarier können wir nichts falsch machen.“ Diese Entscheidung provoziert jedoch die Kritik der heidenchristlichen Glaubensgeschwister. Das sind jene Gemeindeglieder, die vor ihrer Taufe an heidnische Götter glaubten und sich nun von ihnen und ihren Gesetzen befreit wissen. Sie pöbeln die Judenchristen an: „Was seid ihr denn für schwache Gestalten? Wir Christen sind doch frei! Christus hat uns frei gemacht von allen religiösen Regeln und Gesetzen! Wir können essen und trinken, was wir wollen und was uns schmeckt. Warum lasst ihr euch denn von eurem schlechten Gewissen und nicht von Jesus Christus leiten?!“

Die Judenchristen in der römischen Gemeinde – gleich zweifach in der Minderheit, von der Mehrheit bedrängt, in ihrem Glauben in Frage gestellt. Wir ahnen, wie schlecht sie sich fühlen und wie heimatlos. Und wie sie um ihre Identität ringen. Um ihre Identität, zu der doch beides gehört: als Juden aufgewachsen zu sein und sich zu Jesus Christus bekehrt zu haben…

Hören wir nun, was der Apostel Paulus im 14. Kapitel seines Römerbriefes zu den Auseinandersetzungen in der jungen Christengemeinde von Rom schreibt: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“

Paulus schreibt das an die christliche Gemeinde, also an Menschen, die durch die Taufe miteinander verbunden sind. Sie nennt er in anderem Zusammenhang den Leib Christi. Damit ist klar: Christen sind in besonderer Weise zu Frieden und Eintracht untereinander verpflichtet; andernfalls verletzen sie nicht nur einander, sondern auch ihren Herrn Jesus Christus.

Weil Christen in besonderer Weise zu Frieden und Eintracht untereinander verpflichtet sind, schmerzt es besonders, wenn in einer Gemeinde Streit herrscht. Wenn Mitarbeitende einander das Leben schwer machen oder Gemeindegruppen gegeneinander arbeiten. Wenn Neid und Missgunst die Freude am Evangelium und am geschwisterlichen Miteinander ersticken. Hier gilt es alle Kraft, insbesondere die Kraft des Gebetes, aufzuwenden, damit wieder Friede einkehrt…

Weil Christen in besonderer Weise zu Frieden und Eintracht untereinander verpflichtet sind, gibt es im evangelischen Kirchenrecht eine besondere Bestimmung: Gemeindekirchenräte, Kreissynoden und Landessynoden sollen ihre Beschlüsse einmütig fassen. Einmütig heißt nicht einstimmig. Einmütig bedeutet, so zu beraten und abzustimmen, dass die Minderheit die Beschlüsse der Mehrheit mit tragen und vertreten kann…

Weil Christen in besonderer Weise zu Frieden und Eintracht untereinander verpflichtet sind, soll schließlich die bevorstehende Feier des 500. Reformationsjubiläums eine besondere werden. Anders als bei früheren Reformationsjubiläen wird nicht die Trennung der Konfessionen betont, sondern die beiden großen Kirchen werden gemeinsam der Reformation gedenken und mit einem großen Fest ihren gemeinsamen Herrn Jesus Christus ehren. Dazu gehört, dass Vertreter des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz in Kürze zu einer Pilgerfahrt nach Israel aufbrechen, also dorthin, wo unser Glaube seine Wurzeln hat. Und im Frühjahr wird es einen gemeinsamen Gottesdienst in Hildesheim geben. Da werden Vertreter beider Konfessionen vor Gott und voreinander bekennen, dass und in welcher Weise die Kirchen aneinander schuldig geworden sind und sie werden Gott um Vergebung bitten…

Paulus richtet seine Mahnungen an die christliche Gemeinde. Es scheint jedoch geboten, den Bogen weiter zu spannen und nicht allein an Mehrheiten und Minderheiten in der Kirche zu denken. Die Bibel gebietet nämlich sehr allgemein den Schutz von Minderheiten. Insbesondere gebietet sie dem Volk Israel und der christlichen Gemeinde, die Fremden zu schützen und für ihr Recht einzutreten. Jesus selbst stellt sich ohne Wenn und Aber auf die Seite der Fremden, wenn er feststellt: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Matth. 25, 35)

Eine besonders verletzliche ethnische, religiöse und kulturelle Minderheit sind die Geflüchteten, die in den letzten Monaten in Deutschland eingetroffen sind. Viele von ihnen haben Schreckliches erlebt, bevor sie hier ankamen, sind vor Krieg, Terror und Gewalt geflohen. Und nun sehen nicht wenige sich unter Druck gesetzt, spüren die Erwartung der Mehrheit: „Wenn ihr dauerhaft hier leben wollt, müsst ihr euch anpassen! Gewöhnt euch einen modernen westlichen Lebensstil an. Zu dem gehören nun mal keine langen Gewänder und keine Kopftücher. Und Religion, die spielt hier eine eher untergeordnete Rolle.“ Den so direkt oder indirekt Angesprochenen dürfte es gehen wie einst den Judenchristen in Rom: Sie sehen sich in ihrer Identität in Frage gestellt, zu der doch beides gehört: in Syrien oder im Irak, in Afghanistan oder in Eritrea aufgewachsen und kulturell sowie religiös geprägt worden zu sein und hier in Deutschland in Sicherheit leben zu wollen, wenigstens für eine gewisse Zeit…

„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken.“ schreibt Paulus an die römische Gemeinde und besonders an die Mehrheit, die sich an keinerlei Speisegebote gebunden sieht.  „Von dem, was ihr esst und trinkt oder nicht esst und nicht trinkt, hängt eure Seligkeit nicht ab. Hört deshalb auf, die Schwachen unter Druck zu setzen. Lasst sie Vegetarier sein. Besser noch: Verzichtet auch ihr auf Fleisch – nicht weil ein Gesetz das von euch verlangt, sondern weil es dem Frieden dient.“

„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken.“ Es gibt zurzeit eine Diskussion darüber, ob es in Kindertagesstätten, die von vielen muslimischen Kindern besucht werden, überhaupt noch Schweinefleisch zum Mittagessen geben darf. Ich halte einen verordneten kollektiven Schweinefleischverzicht nicht für sinnvoll. Das würde Unfrieden schaffen. Aber wir dürfen als christlich geprägte Mehrheitsgesellschaft die Gewissen muslimischer Kinder nicht beschweren. Deshalb muss es in jenen Kitas jeden Tag auch ein vollwertiges Essen ohne Schweinefleisch geben.

Was für das Essen gilt, gilt auch für die Kleidung muslimischer Frauen, über die die christlich geprägte Mehrheit immer wieder so leidenschaftlich streitet. Die Seligkeit der Christen hängt nicht davon ab, ob eine muslimische Frau ein Kopftuch und einen langen Mantel trägt. Wir sollten damit rechnen, dass sie es aus Gewissengründen tut und diese Gründe achten. Dass der Staat für seine Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst besondere Entscheidungen treffen muss, steht auf einem anderen Blatt.

„Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist.“

Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit. Werden wir den Menschen, die als Migranten unter uns leben und vor allem jenen, die als Geflüchtete Schutz bei uns suchen, gerecht? Hier liegt noch manches im Argen. Kinder aus Migrantenfamilien haben erwiesenermaßen ein deutlich höheres Armutsrisiko als deutsche Kinder. Anna bekommt eher einen Ausbildungsplatz als Aise. Und noch immer erhalten Asylbewerber geringere Leistungen als Deutsche, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Umso erfreulicher ist, dass viele Kirchengemeinden und einzelne Christenmenschen enorm viel Zeit und Kraft aufbringen, um Fremden in ihrer besonderen Situation gerecht zu werden. Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit…

Das Reich Gottes ist Friede. In den vergangenen Monaten wurde der innere Friede in Deutschland immer wieder erheblich gestört. Häuser, in die Geflüchtete einziehen sollten oder in denen gar schon welche wohnten, wurden in Brand gesetzt. Ermutigt werden die Täter von geistigen Brandstiftern, die glauben, das christliche Abendland verteidigen zu müssen. Damit meinen sie aber nicht ein Land, das von der christlichen Kultur des Erbarmens geprägt ist, sondern eine Gesellschaft mit möglichst wenigen Muslimen. Gut, dass es im ganzen Land auch Christen gibt, die solchem Ungeist widerstehen und sich schützend vor die Minderheit stellen. Das Reich Gottes ist Friede…

Das Reich Gottes ist Freude. Wenn es in Diskussionen - nicht nur am Stammtisch - um Geflüchtete geht, kommt selten Freude auf. Meist sind die Auseinandersetzungen erbittert: Die einen sehen unser Land an der Grenze seiner Aufnahmefähigkeit angekommen und fordern Obergrenzen für die weitere Aufnahme von Geflüchteten. Die anderen halten dagegen, dass ein so reicher Kontinent wie Europa und ein so reiches Land wie Deutschland sich nicht abwenden dürfen, wenn Menschen Schutz vor Gewalt und Krieg suchen. Gut, dass es daneben immer wieder auch Christen gibt, die die Begegnung und das Gespräch mit Geflüchteten suchen und bei gemeinsamen Feiern von der Gastfreundschaft und dem kulturellem Reichtum der Zugewanderten tief beeindruckt sind. Das Reich Gottes ist Freude…

„Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ Liebe Schwestern und Brüder, wir wissen nicht, ob es dem Apostel mit seiner Mahnung gelungen ist, das Integrationsproblem der christlichen Gemeinde in Rom zu lösen. Aber vielleicht weisen seine Bemerkungen uns den Weg zu einem friedlichen Miteinander von Christen und Muslimen, Mehrheit und Minderheit, Einheimischen und Geflüchteten. Paulus ist übrigens deutlich bewusst, dass unsere Anstrengungen allein nicht zum Ziel führen. Das zeigen die vier unscheinbaren Worte, die man leicht überhören oder überlesen kann: „in dem Heiligen Geist“. Bitten wir also Gott um seinen Heiligen Geist, dass er in unserem Land Gerechtigkeit, Friede und Freude wachsen lasse, damit Integration gelingt.

Und der Friede Gottes…