Migration, Integration und die Zukunft unserer Kirche

11. bis 14. November 2009, OKRin Katrin Hatzinger, Berlin

 

Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO)

Hauptvortrag
„Migration, Integration und die Zukunft unserer Kirche“


OKR´in Katrin Hatzinger

Sehr geehrter Herr Präses,
hohe Synode,

zunächst möchte ich mich sehr herzlich für die Einladung nach Berlin bedanken. Es ist eine große Ehre und Freude für mich, den Vortrag zu Ihrem diesjährigen Schwerpunktthema halten zu dürfen.

Es ist ein richtiges Zeichen, dass Sie den Themenkomplex „Migration und Integration“ derart prominent auf Ihre Tagesordnung gesetzt haben und sich zudem für die europäische Dimension der Thematik interessieren. Es steht unserer Kirche gut an, sich vorausschauend mit diesen durchaus kontrovers diskutierten Fragen auseinander zusetzen. Nicht allein, weil Kirche nach ihrem Auftrag Anwältin der Schwachen und Notleidenden ist, sondern weil Kirche sich auch als Impulsgeberin verstehen darf, die ohne Scheuklappen oder Rücksicht auf parteipolitische Zwänge, gesellschaftspolitische Debatten anstoßen und mit gutem Beispiel voran gehen kann.

Im Folgenden möchte ich Ihnen zunächst einen Überblick über die europäische Asyl- und Migrationspolitik (I) und aktuelle Beispiele aus der Politik der Mitgliedstaaten geben (II.). Schließlich möchte ich darauf zu sprechen kommen, was diese Entwicklungen für das Handeln unserer Kirche bedeuten (III.)
Erlauben Sie mir zuvor jedoch zuvor noch einige Worte zum Büro des Bevollmächtigten des Rates der EKD in Brüssel, das ich seit rund 1 ½ Jahren leite. Der Bevollmächtigte, Prälat Dr. Felmberg ist Ihnen als ehemaliger Ausbildungsdezernent der EKBO wohl bekannt. Seine Dienstelle umfasst nicht nur das Haus am Gendarmenmarkt hier in Berlin, sondern auch ein Büro bei den Europäischen Institutionen in Brüssel.

So wie in Berlin über den „Bevollmächtigten“ kirchliche Positionen in die Bundespolitik eingebracht werden, beobachtet das Brüsseler Büro seit 1990 die europäische Gesetzgebung und vertritt evangelische Standpunkte gegenüber den EU-Institutionen, sprich Europäische Kommission, Rat der Fachminister sowie Europäisches Parlament. Das Büro dient zum einen als „Frühwarnstelle“ für die EKD, zum anderen als ihre „kirchendiplomatische Vertretung“ gegenüber den EU-Organen.

Die Achtung der Menschenrechte im Rahmen der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, ethische Kriterien der europäischen Forschungsförderung, der Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung in der EU-Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit sowie Fragen der Religionsfreiheit gehören zu den inhaltlichen Schwerpunkten unserer Arbeit. Dabei handeln wir in Ausübung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrages, und versuchen denen eine Stimme zu verleihen, die ansonsten keine eigene Lobby haben, dazu zählen Flüchtlinge und Migranten.

Daneben ist es unsere Aufgabe, unerwünschten Veränderungen des deutschen Staatskirchenrechts durch die EU-Gesetzgebung im Wege rechtzeitiger Intervention vorzubeugen.
Das Bevollmächtigten-Büro Brüssel ist zugleich eine Informationsstelle für kirchliche Einrichtungen und Organisationen. Im Turnus von zwei Monaten berichten die „EKD-Europa-Informationen“ aus kirchlicher Sicht über das aktuelle politische Geschehen in Brüssel und machen auf europäische Förderprojekte aufmerksam. Regelmäßig werden Besuchergruppen in Vorträgen und Gesprächsrunden über die Arbeit des Büros informiert. Mit öffentlichen Diskussionsveranstaltungen setzen wir jenseits der aktuellen Tagespolitik außerdem evangelische Akzente, wie zuletzt mit einer Diskussionsveranstaltung über den Beitrag unserer osteuropäischen Nachbarn zum Gelingen der friedlichen Revolution.

Angesichts der Themenfülle und der breitgefächerten Aufgabenstellungen sind wir in unserer täglichen Arbeit auf den Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen KirchenvertreterInnen angewiesen. Auf der einen Seite arbeitet das Büro mit der Kommission für Kirche und Gesellschaft der Konferenz der Europäischen Kirchen (KEK) zusammen. Die KEK umfasst rund 120 protestantische, orthodoxe und anglikanische Kirchen in West- und Osteuropa; auch die EKD ist Mitgliedskirche. Auf der anderen Seite gibt es eine enge Kooperation mit der Kommission der katholischen Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft (COMECE). Im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik suchen wir den Schulterschluss mit anderen christlichen Organisationen wie der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME) oder dem Jesuitenflüchtlingsdienst. Unser gemeinsamer Anspruch ist es, den biblischen Auftrag, für Fremde zu sorgen, mit viel Sachverstand aus praktischer Arbeit in die Debatte um die Harmonisierung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik einzubringen.

I. Damit bin ich nach diesem kleinen Exkurs bei meinem ersten Punkt angelangt: die Entwicklung der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik.

Im völkerrechtlichen Sinn sind Flüchtlinge Menschen, die ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verlassen haben. Diese Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 ist die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. Weltweit waren nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (Anm. 1) im vergangenen Jahr insgesamt 42 Millionen Menschen gezwungen, außerhalb ihrer Heimat Schutz zu suchen. Davon waren 16 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende, 26 Millionen waren zum Teil im eigenen Land vertriebene Menschen. Dabei befindet sich der Großteil der Flüchtlinge weltweit in Entwicklungsländern (vier Fünftel der Flüchtlingsbevölkerung), und nicht in der EU. Nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks lebt die Hälfte der Flüchtlinge weltweit in städtischen Gegenden, ein Drittel in Camps (Anm. 2). „Unglücklicherweise können wir nicht behaupten, dass Wohlstand und Großzügigkeit in einem direkten Verhältnis zu einander stehen“, beklagte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, bei der Vorstellung des Berichts. Es sei schockierend, dass sich die öffentliche Meinung in Industrieländern aufrege, „wenn die Zahl der Flüchtlinge um ein paar Tausend zunimmt“. Die Belastungen in armen Dritte- Welt-Ländern sei sehr viel größer. Die reichen Staaten nähmen nicht genügend Flüchtlinge auf. Damit sind wir bei dem Grundproblem europäischer Asylpolitik: Europa tut zu wenig.
Asyl und Einwanderung sind im Vergleich etwa zu Fragen des Binnenmarktes noch recht junge Bereiche europäischer Politik. Zugleich sind es Politikfelder, die auf den ersten Blick nicht unbedingt für eine Vergemeinschaftung geeignet sind, betreffen sie doch Kernbereiche staatlicher Souveränität, nämlich wem Einreise und Aufenthalt und ggf. Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt zu gewähren ist. Zudem handelt es sich um Fragen, die sich leicht politisch instrumentalisieren bzw. populistisch ausschlachten lassen. Dementsprechend achten die Mitgliedstaaten mit Argusaugen darauf, dass sich Brüssel nicht zu sehr in ihre Angelegenheiten einmischt.

Warum wurde die Asylpolitik Ende der 90er Jahre dennoch zum Bestandteil der Europapolitik? Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch die Schengener Übereinkommen 1993 ergab sich die Notwendigkeit einer gemeinsamen Politik gegenüber Nicht-Unionsbürgern an den EU-Außengrenzen. Es galt also ein einheitliches Vorgehen in der Asyl-, Einwanderungs- und Visapolitik abzustimmen.

Nachdem die Asyl- und Einwanderungspolitik anfangs noch zwischen den Regierungen ausgehandelt wurde, formulierte der Amsterdamer Vertrage im Mai 1999 das Ziel, einen "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" ( Art. 61 EGV) zu schaffen. Bis zum Jahr 2004 sollten zentrale Bereiche der Asyl- und Migrationspolitik europaweit verbindlich sein, also vergemeinschaftet werden.
Auf dem Europäischen Rat von Tampere im Oktober 1999 wurde das entsprechende Arbeitsprogramm beschlossen, das zunächst große Hoffnungen auf die Schaffung eines offenen und transparenten europäischen Asyl- und Einwanderungssystems im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention weckte (Anm. 3).

2004 wurde dann das Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht für den Zeitraum 2005-2010 verabschiedet, das unter dem Einfluss der Ereignisse vom 11. September 2001 einen starken Akzent auf die innere Sicherheit und die Bekämpfung des Terrorismus legte. Im Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik standen trotz EU-weit ständig abnehmender Asylbewerberzahlen Ausbau der Grenzkontrollen und Abwehr von illegaler Einwanderung im Vordergrund. Die Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention geriet ins Hintertreffen. Derzeit wird in Brüssel unter der amtierenden schwedischen Ratspräsidentschaft über das neue 5-Jahresprogramm debattiert, das Stockholmer Programm.

2005 war die erste Phase der Harmonisierung des Europäischen Asylrechts abgeschlossen. Ihr Ziel bestand darin, auf Grundlage gemeinsamer Mindeststandards die rechtlichen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten anzugleichen. Diese liegen nun in Form europäischer „Gesetze“ vor (Richtlinie über Aufnahmebedingungen, Qualifizierungsrichtlinie sowie Asylverfahrensrichtlinie und die erwähnte Dublin II-Verordnung), sind allerdings immer noch nicht in allen EU-Staaten vollständig umgesetzt.

Was hat die erste Phase für den Flüchtlingsschutz gebracht? Hier ergibt sich ein ambivalentes Bild:

Ein negatives Beispiel ist die Asylverfahrensrichtlinie (2005/85/EG), wegen des darin enthaltenen Konzepts des „sicheren Dritt- bzw. Herkunftsstaates“ zurecht viel Kritik von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen erfahren. Die Richtlinie ist ein Beispiel für die Übertragung fragwürdiger Konzepte aus dem nationalen Asylrecht, in diesem Fall aus dem deutschen Asylrecht, auf die gesamte EU. Die Drittstaatenregelung wurde von Deutschland erfolgreich in die Richtlinie hineinverhandelt und hat maßgeblich dazu beigetragen, Schutzstandards europaweit abzusenken. Die pauschale Erklärung, dass ein Staat „sicher" sei, basiert oft auf Formalkriterien, wie etwa der Ratifizierung internationaler Übereinkommen. Die Praxis der Behörden in diesem Staat wird dabei hingegen oft nur unzureichend berücksichtigt. Kommt ein Antragsteller aus einem solchen Staat in die EU, kann er im Zweifel ohne Prüfung seines Ersuchens direkt wieder zurückgeschoben werden. Durch bestehende Rückübernahmeabkommen zwischen Staaten ist dann eine Abschiebung in Verfolgung nicht ausgeschlossen.

Ein positives Beispiel, wie Europa den Flüchtlingsschutz verbessern kann, war hingegen die Einigung über die sog. Qualifikationsrichtlinie (2004/83/EG). Hier ist es gelungen, den Grundstein zu einer einheitlichen Flüchtlingsdefinition in der EU zu legen und gleichzeitig verbindliche Grundlagen für die Anerkennung von Schutzbedürftigen und deren Rechten im Aufnahmeland zu schaffen. Dank dieser europäischen Regelung auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention konnte somit auch endlich die Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung im deutschen Zuwanderungsgesetz verankert werden. Außerdem wurde zumindest in dieser Richtlinie auch die Gewährung anderer Formen von Schutz für Personen, die nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, also z.B. Bürgerkriegsflüchtlinge, festgeschrieben.

Mit der derzeit laufenden zweiten Phase der Asylrechtsharmonisierung sollen höhere Standards, ein höheres Maß an vergleichbarem Schutz sowie ein größeres Maß an Solidarität unter den Mitgliedstaaten erreicht werden. Wie das Schicksal irakischer oder auch tschetschenischer Flüchtlinge eindrücklich illustriert, ist die Europäische Union von diesen Zielen aber noch weit entfernt. So unterscheiden sich z.B. die Anerkennungsraten für Flüchtlinge von Staat zu Staat immer noch signifikant. Während irakische Flüchtlinge im ersten Quartal 2007 in Schweden in erster Instanz zu 1,7,% als Flüchtling und zu 73% als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt wurden, lag die Anerkennungsquote in Griechenland oder der Slowakischen Republik bei 0 (Anm. 4). Von einem gemeinsamen transparenten und fairen Asylsystem mit vergleichbar hohen Schutzstandards kann in der EU trotz der geschaffenen Regelungen also noch lange nicht die Rede sein. Dennoch lässt sich auf diese Mindeststandards aufbauen und die Europäische Kommission hat in diesem Jahr einige bedenkenswerte Verbesserungsvorschläge zu den bestehenden Asylrechtsinstrumenten vorgelegt. Diese sind jedoch bei den EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, auf wenig Gegenliebe gestoßen. Schlechte Zeiten für den Flüchtlingsschutz in Europa? – Ich fürchte ja, zumal sich derzeit in der EU ein Trend abzuzeichnen beginnt, der darauf hindeutet, dass es eher zu weiteren Beschneidungen der Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden als zur Stärkung ihrer Position kommen wird.

Warum ist das so?

Die Asylpolitik der EU basiert zwar auf Vorschlägen der Europäischen Kommission, wird aber letztlich von den Mitgliedsstaaten und deren Regierungen bestimmt und ausgestaltet. Diese orientieren sich in ihrer Politik nicht nur am internationalen Völkerrecht und Menschenrechtskonventionen, sondern auch an Meinungsumfragen und Wahlterminen.

Auch wenn sich die EU gerne als Hort von Demokratie und Rechtstaatlichkeit darstellt, ist die Bilanz ihrer bisherigen Asylpolitik ernüchternd. Wie eingangs in dem Zitat des UN-Flüchtlingskommissars erwähnt, sind es hauptsächlich Länder in Afrika und Asien, in denen Flüchtlinge Aufnahme finden. Bei der Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten gibt es außerdem zunehmend Situationen, in denen eine Abgrenzung schwierig oder gar unmöglich ist. Immer häufiger sind politische Verfolgung, wirtschaftliche Not und Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen zu einem komplexen Ursachengeflecht verwoben. Für viele Betroffene ist die Unterscheidung aber lebenswichtig, weil bislang nur Flüchtlinge unter wirksamem internationalen Schutz stehen, während die Behandlung von Migranten weitgehend im Zuständigkeitsbereich der Staaten liegt.
Anstatt Schutzsuchenden Sicherheit zu bieten, konzentrieren sich die politischen Kräfte jedoch auf die Abwehr sog. „illegaler Zuwanderung“. Auf den Treffen der europäischen Justiz- und Innenminister mangelt es nicht an Ideen zur besseren Ausstattung der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX, an Vorschlägen für weitere Rückübernahmeabkommen mit Nicht-EU-Staaten oder an Kooperation bei gemeinsamen Abschiebeaktionen. Wenn es aber darum geht, Solidarität mit Staaten an den EU-Außengrenzen zu zeigen, eine gemeinsame Politik der legalen Einwanderung zu bedenken oder Flüchtlinge aus Drittstaaten aufzunehmen, tut man sich schwer. In Zeiten einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise gerät der Einsatz für Verfolgte und Schutzsuchende schnell aus dem Fokus. An Hand von drei aktuellen Beispielen aus der Gesetzgebung und der Praxis der Mitgliedstaaten möchte ich Ihnen im folgenden schlaglichtartig die derzeitige Lage von Flüchtlingen und Migranten in der EU illustrieren und komme damit zu Punkt II meines Vortrags.

II. Aktuelle Beispiele

1. In Österreich zeichnet sich in diesem Herbst die Novelle des Asyl- und Fremdenrechts - wie von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen kritisiert - hauptsächlich durch Verschärfungen und Pauschalverdächtigungen aus. Die Möglichkeiten, Asylsuchende in Haft zu nehmen, werden ausgeweitet, ihr Rechtsschutz eingeschränkt. Der Verdacht des Missbrauchs des Asylrecht durch Fremde zieht sich wie ein roter Faden durch den Gesetzesentwurf, ebenso wie die „mannigfachen, überschießenden Strafmaßnahmen und die zahlreichen Querverbindungen zum Strafrecht. Dadurch tritt der eigentliche Zweck des Gesetzes, nämlich der Schutz von schutzbedürftigen Personen völlig in den Hintergrund.“ (Anm.5).

2. Human Rights Watch hat am 21. September einen Bericht vorgestellt, der belegt, dass Italien afrikanische Schutzsuchende auf hoher See abfängt und sie zur Rückkehr nach Libyen zwingt, ohne zu prüfen, ob ihnen der Flüchtlingsstatus zusteht oder andere Gefährdungen vorliegen. In Libyen werden viele der Rückkehrer dann unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert und oft auch misshandelt. Der Bericht stützt sich auf die Befragung von 91 Migranten, Asylsuchenden und Flüchtlingen. In dem Bericht wird der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX vorgeworfen, in völkerrechtswidrige Rückschiebungen verwickelt gewesen zu sein (Anm. 6). So soll etwa ein deutscher Helikopter bei einem Einsatz, koordiniert von FRONTEX, die italienischen Küstenwache am 18. Juni 2009 dabei unterstützt haben, ein Boot mit 75 Menschen an Bord aufzugreifen, um es dann in libysche Gewässer zurückzudrängen.

3. Am 22. September diesen Jahres hat die französische Polizei ein illegal errichtetes Flüchtlingslager am Ärmelkanal, den sog. „Dschungel“ bei Calais geräumt. Dort harrten mehrere hundert Flüchtlinge vor allem aus Afghanistan aus, die über den Ärmelkanal nach England gelangen wollten. Nach Angaben der örtlichen Behörden griff die Polizei 278 Einwanderer auf, darunter 132 Minderjährige. Einwanderungsminister Eric Besson erklärte, die wilde Siedlung sei kein Flüchtlingslager, "sondern der Stützpunkt der Schleußer" in Nordfrankreich. (tagesschau, 22. September 2009). Was Besson nicht erwähnt hat, der „Dschungel“ ist auch deshalb entstanden, weil die französische Regierung Gelder für ein von der CARITAS betriebenes Flüchtlingsheim gestrichen hatte. Am 21. Oktober wurden trotz Protesten von Menschenrechtsorganisationen auf dem Luftweg drei Afghanen aus dem aufgelösten Lager nach Kabul abgeschoben. Einwanderungsminister Besson rechtfertigte die Rückführung mit dem Argument, dass in der Region Kabul für die drei kein Sicherheitsrisiko bestehe. Rückführungen seien notwendig, um die französische Einwanderungspolitik glaubhaft zu machen. (Radio France Internationale, 21. Oktober 2009).

Soweit ein Blick auf Tendenzen in der Gesetzgebung und der Praxis der EU-Mitgliedstaaten. Sie verdeutlichen, dass Flüchtlinge und Migranten unvermindert unserer Fürsprache und Unterstützung bedürfen. Unsere Kirche muss in dieser Gesellschaft weiterhin die Rolle einer Mahnerin übernehmen. Sie darf nicht müde werden, die Rechte von Migranten und Flüchtlingen zu verteidigen und auf Missstände aufmerksam zu machen. Damit komme ich zum letzten Punkt meines Vortrags:

III: Was kann Kirche konkret tun?

Migration geschieht. Flucht, Vertreibung und Wanderung haben seit jeher die Menschheitsgeschichte geprägt. Auch in der Bibel begegnen uns Menschen, die aus den verschiedensten Gründen wie Hungersnot oder Bürgerkrieg unterwegs sind. Die Israeliten selbst waren Flüchtlinge und diese Erfahrung wird zum Gebot: „Ihr sollt euch gegen den Fremdling, der sich bei euch aufhält, benehmen, als wäre er bei euch geboren, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen.“ (3. Mose 19:34).

Generell gilt, dass der weitaus größte Teil der weltweiten Wanderungsbewegungen – wie bereits erwähnt- in und zwischen armen Ländern stattfindet und sich in sehr unterschiedlicher Weise auf die Weltregionen verteilt. Es ist abzusehen, dass diese Wanderungsbewegungen aufgrund der wirtschaftlichen Globalisierung, von Kriegen und Umweltkatastrophen zunehmen werden. Wir müssen diese Realität anerkennen und uns darauf einstellen.

Der Umgang mit den Fremden ist und bleibt dabei stets auf´s Neue eine Herausforderung für alle: Man muss miteinander umgehen lernen, einander kennen lernen, sich aber auch aneinander reiben und auseinandersetzen. Das kann mühsam sein. Das kann konfliktträchtig sein. Das Wort von Max Frisch zu den italienischen Gastarbeitern in der Schweiz: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen“, bringt es auf den Punkt. Zuwanderer bringen ihre Sprache, Religion, Kultur, Tradition in die „neue Heimat“ mit. Es sind Menschen wie Du und ich und doch wieder ganz anders als wir. „Es herrscht Konjunktur, aber kein Entzücken im Lande“, so Frisch weiter. Gerne gerät in Vergessenheit, dass ohne Zuwanderer, oft übrigens gerade die irregulär aufhältigen, bestimmte Branchen, etwa Bau, Gastronomie, Pflege oder Landwirtschaft gar nicht auskommen könnten.
Was wir allerdings in Deutschland auch beobachten – und davon wissen sicherlich diejenigen von Ihnen zu berichten, die aus der Lausitz gekommen sind –  ist eine starke Binnenwanderung von Ost nach West sowie eine zunehmende Auswanderung von Deutschen. „Im Jahr 2008 war Deutschland erstmals ein Auswanderungsland, mehr Menschen haben das Land verlassen als Menschen, die eingewandert sind,“ so NRWs Integrationsminister Armins Laschet (am 21. Oktober in FAZ). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zogen außerdem zwischen 1991 und 2007 rund 3,1 Mill. Menschen aus den neuen Bundesländern und Berlin in das frühere Bundesgebiet und nur rund 2,2 Mill. in die umgekehrte Richtung (Anm. 7).

Dazu kommt: „Deutschlands Bevölkerung nimmt ab, die Menschen in unserem Land werden immer älter“. Unter dieser Überschrift wird das Statistische Bundesamt am 18. November die Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung bis 2060 vorstellen. Armin Laschet spricht angesichts dieser Prognosen von der Herausforderung, eine „dritte deutsche Einheit“ zu gestalten. „Nur wenn es uns gelingt, diejenigen unter uns, die eine Zuwanderungsgeschichte haben, zu wirklichen Teilhabern dieses Staates zu machen, nur wenn sie Träger des eigenen und Motor des gesellschaftlichen Aufstiegs werden, kann auch diese dritte deutsche Einheit gelingen“ (FAZ, 21.Oktober 2009).

Für unsere Kirche ergibt sich aus diesen Gegebenheiten die Möglichkeit, auf drei Ebenen aktiv zu werden: in der politischen Auseinandersetzung, als Impulsgeberin in die Gesellschaft und in der Gemeindearbeit. Bitte sehen Sie mir nach, dass ich aufgrund meiner Tätigkeit in einem politischen Umfeld einen Schwerpunkt auf den ersten der genannten Punkte legen möchte

1. Die politische Debatte

Gerade kirchliche Einrichtungen haben sich stets in besonderem Maße für Einwanderer und Flüchtlinge engagiert. Das sage ich hier auch gerade im Hinblick auf den vorbildhaften Einsatz Ihrer Landeskirche in Fragen des Kirchenasyls. An zwei aktuellen Beispielen möchte ich Ihnen verdeutlichen, dass auch die Probleme der europäischen Asylpolitik uns alle angehen, wir auch hier als Kirche gefordert sind, uns „um Gottes Willen“ einzumischen. Denn sie betreffen grundsätzliche Menschenrechtsfragen, deren Lösung auch in unserer Verantwortung liegt.

a) Die Menschenrechtssituation an den Außengrenzen der EU

Warum sind Berichte von ertrunkenen Bootsflüchtlingen vor Malta, Spanien und Italien oder über unmenschlichen Haftbedingungen in Griechenland immer wieder an der Tagesordnung? Das hängt neben eingeschränkten Möglichkeiten der legalen Migration u.a. mit der Dublin II Verordnung  (Verordnung Nr. 343/2003)zusammen.

Grundgedanke dieser Verordnung ist, dass jeder Asylsuchende nur einen Asylantrag innerhalb der Europäischen Union stellen können soll. Grundsätzlich ist der Mitgliedstat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, der die Einreise veranlasst bzw. nicht verhindert hat. Stellt der Asylsuchende dennoch in einem anderen Mitgliedstaat seinen Asylantrag, wird kein Asylverfahren durchgeführt und der Asylsuchende in den zuständigen Staat rücküberstellt. Dabei beruht die Regelung auf der Prämisse, dass in der EU vergleichbare Schutzstandards für Flüchtlinge gelten. Wie bereits erläutert, ist dies aber gerade nicht der Fall.

Als Kirchen machen wir in Brüssel wie auch in Berlin immer wieder darauf aufmerksam, dass die Staaten an den EU-Außengrenzen mit der Aufnahme der Flüchtlinge überfordert sind. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb mehrfach drohende Überstellungen von Asylsuchenden im Dublinverfahren nach Griechenland ausgesetzt (Anm. 8). In den Beschlussgründen wird auf den „europarechtlichen Grundsatz der Solidarität“ verwiesen (Anm. 9).

Eine Überarbeitung der Dublin II-Verordnung ist also dringend geboten, damit die Last der Verantwortung auch von den Staaten geteilt wird, die aufgrund ihrer geographischen Lage an sich nicht für die Prüfung der Asylanträge zuständig sind. Für Flüchtlingsschutz ist aber ganz Europa verantwortlich.

Durch Besuche in Flüchtlingslagern auf der griechischen Insel Lesbos 2008 und in diesem Jahr auf Malta konnten sich Kirchendelegationen, an denen ich teilgenommen habe, außerdem selbst ein Bild von den inhumanen Haftbedingungen machen unter denen Menschen, auch Minderjährige, festgehalten werden, und sich davon überzeugen, dass unter den boat people in vielen Fällen tatsächlich Schutzsuchende aus Krisenregionen sind. Afghanen, Iraner und Iraker kommen über die Türkei nach Lesbos, Somalier über Lybien nach Malta. Im Lichte der jüngsten Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts muss weiter an die Bundesregierung appelliert werden, von Rücküberstellungen an Staaten abzusehen, deren Asylsysteme überlastet sind und die Schutzsuchende wie z.B. auf Malta während des laufenden Asylverfahrens bis zu 12 Monaten inhaftieren. Die Dublin-II Verordnung muss um funktionierende Solidaritätsmechanismen bzw. ein gerechtes Verteilungssystem erweitert werden, so wie es die Europäische Kommission vorgeschlagen hat. Schutzsuchende und Migranten müssen auf hoher See gemäß geltendem Völkerrecht behandelt und nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Die Rolle von FRONTEX und die Beteiligung der Bundesrepublik an den Einsätzen sollten kritisch hinterfragt und durch unabhängige Beobachter begleitet werden. Diese Botschaft gilt es in den Gemeinden, in Akademien und Fachgremien, mit Artikeln und Synodenbeschlüssen immer wieder stark zu machen.

b) Neuansiedlung von Flüchtlingen

Am 5. Dezember 2008 legte das Bundesministeriums des Innern per Anordnung fest, 2500 besonders schutzbedürftige irakische Flüchtlinge aus den Erstaufnahmestaaten Syrien und Jordanien in Deutschland aufzunehmen (Anm. 10). Dieser Entscheidung ging eine Einigung der europäischen Justiz- und Innenminister im November 2008 voraus, 10 000 irakische Flüchtlinge aufzunehmen. Es war der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble, der diese Initiative zunächst im Hinblick auf verfolgte Christen gestartet hatte. Als besonders schutzbedürftig gelten nach der Anordnung Flüchtlinge, die auf absehbare Zeit keine Aussicht auf Rückkehr in den Irak oder auf Integration in einem der Nachbarstaaten des Iraks haben. Darunter fallen laut Aufnahmeanordnung Angehörige im Irak verfolgter Minderheiten, insbesondere religiöser Minderheiten, Personen, die besonderer medizinischer Hilfe bedürfen (einschließlich traumatisierter Personen sowie Opfer von Folter) sowie allein stehende Frauen mit familiären Unterhalts- bzw. Betreuungspflichten. Bisher sind 1437 Flüchtlinge in Deutschland angekommen (Anm. 11). Diese Aufnahmeaktion könnte der Beginn eines dauerhaften Engagements für besonders Schutzbedürftige im Rahmen des sog. Resettlement sein.

Zehn der 27 EU-Mitgliedstaaten (Dänemark, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, die Niederlande, Rumänien, Schweden und die tschechische Republik sowie Norwegen als assoziierter Staat) unterhalten bereits eigene Resettlementprogramme. Unter „Resettlement“ versteht man die Neuansiedlung von durch den UNHCR anerkannten, besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen aus Nicht-EU-Staaten, die weder in ihre Heimat zurückkehren noch im Erstasylland integriert werden können.

In Deutschland schien der Bundesregierung der Zeitpunkt für die Einführung eines entsprechenden nationalen Programms bisher noch nicht gekommen (Anm. 12). Die Europäische Kommission hat sich jedoch seit geraumer Zeit immer wieder für ein europäisch koordiniertes Programm ausgesprochen. Nun hat sie am 2. September 2009 (Anm. 13) einen konkreten Vorschlag dazu unterbreitet. Er sieht eine engere politische und praktische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten vor, um Effizienz und Kosteneffizienz der Neuansiedelungsaktivitäten, aber auch die humanitäre und strategische Wirkung zu erhöhen.

Wir erhoffen uns, dass die nun gewonnenen positiven Erfahrungen bei der Aufnahme der Iraker und die erarbeiteten Strukturen genutzt werden, um ein dauerhaftes Resettlementprogramm in Deutschland einzurichten und Flüchtlingen eine neue Lebensperspektive zu bieten. Gemeinden und Diakonie tragen viel zur gelingenden Integration bei. Auch kann der europäische Vorschlag einen weiteren Anreiz für ein Mitmachen der Bundesregierung bieten. Kampagnen wie die von der EKBO unterstütze „Save me – Eine Stadt sagt ja“- Kampagne setzen wichtige Zeichen für die Aufnahmebereitschaft unserer Gesellschaft für Verfolgte und Schutzsuchende und erhöhen den Druck auf die Politik, sich verbindlich im Flüchtlingsschutz zu engagieren.
Neben diesen asylpolitischen Diskussionen bleibt es leider weiterhin angezeigt, sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zu positionieren, wie Sie das beispielsweise mit dem Beschluss der Landessynode vom 16. Mai diesen Jahres nachdrücklich getan haben. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass diese Geisteshaltungen mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar sind.

Fremdenfeindliche und nationalistische Parteien haben in fast allen europäischen Staaten erschreckenden Zulauf und zogen bei den Europawahlen im Juni sogar in das Europäische Parlament ein (Großbritannien: British National Party; Niederlande: Partij vor de Freijheid, Geert Wilders, Finnland: Partei „Wahre Finnen“, Rumänien: Die Großrumänienpartei, Österreich: FPÖ etc. ).

Wohl auch aus der Berechnung heraus, keine weiteren Stimmen an diese Parteien zu verlieren, gibt es in einigen EU-Staaten den Reflex, das Ausländerrecht zu verschärfen bzw. mit harter Hand gegen Fremde vorzugehen. Angst statt Schutz. Hartes Durchgreifen vor ausgewogenem Handeln. Hier muss Kirche energisch widersprechen.

Schließlich sollte Kirche auch in der Debatte um legale Einwanderung klarer Stellung beziehen. Mit der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon eröffnen sich neue Spielräume in der Migrationspolitik. So gilt künftig für diesen Bereich das Prinzip der Mehrheitsentscheidung im EU-Ministerrat. Auch das Europäische Parlament ist künftig Mitgesetzgeber und wird nicht lediglich angehört. Das bedeutet, dass besonders zuwanderungskritische Regierungen entsprechende europäische Gesetzvorhaben nicht mehr per Einzelveto blockieren können.

Meines Erachten brauchen wir dringend einen Paradigmenwechsel in der Migrationsdebatte. Migration geschieht. Migration bietet Chancen. Nicht alle Migranten sind gering qualifiziert und belasten unsere Sozialkassen. Vielmehr brauchen wir, braucht unsere Wirtschaft, Zuwanderung, um zukunftsfähig zu bleiben. Der amerikanische Gemeinplatz, dass Vielfalt und Heterogenität eine Gesellschaft stärken und ihr Dynamik verleihen (Anm. 14), sollte auch in Europa ernsthafter diskutiert werden.

Wenn die EU im internationalen Vergleich wirtschaftlich in der ersten Liga mitspielen möchte, muss sie attraktivere Rahmenbedingungen z. B. für hochqualifizierte Fachkräfte schaffen. Dafür brauchen wir eine gemeinsame, aufeinander abgestimmte, europäische Einwanderungspolitik und die bestehenden Probleme bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen und Qualifikationen müssen gelöst werden. Zugleich gilt es, die Rechtstellung von gering Qualifizierten und Saisonarbeitnehmern zu stärken, um sie vor Ausbeutung und Diskriminierung zu schützen. Darüber hinaus müssten Einwanderungs- und Entwicklungspolitik mehr als bisher miteinander vernetzt werden. Nur so kann „brain drain“ verhindert und sichergestellt werden, das sich das Entwicklungspotential von Migration nachhaltig entfaltet. Schließlich darf die Situation der Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität nicht länger aus der Migrationsdebatte ausgeklammert werden. Hier ist es an der Zeit, zu gewährleisten, dass die Menschen Zugang zu Gesundheitsversorgung erhalten und die Möglichkeit, Lohn für geleistete Arbeit einzuklagen.

2. Kirche als Impulsgeberin

Unter den Vorzeichen global beschleunigter Mobilität entstehen neue Herausforderungen an Politik, Kirche und Gesellschaft, den Menschen bei der Suche nach einer persönlichen Zugehörigkeit behilflich zu sein. Dazu gehört auch, die bestehenden Ängste vor Fremden ernst zu nehmen. Nicht jeder empfindet diese Entwicklung hin zu einer mobilen, bunten, multi-ethnischen und multi-religiösen Gesellschaft als Chance. Viele fürchten, von Vielfalt und Beliebigkeit überrollt zu werden und fühlen sich in ihrer Identität in Frage gestellt oder sogar bedroht. Infolge hoher Arbeitslosigkeit und massiver sozialer Probleme bestimmen in vielen Fällen Abgrenzungstendenzen und Entfremdung das Verhältnis zwischen deutscher und zugewanderter Bevölkerung. Dazu kommt die Schwierigkeit, bestehende Ängste und Integrationsprobleme offen ansprechen zu können, ohne dem Verdacht des Rechtsextremismus ausgesetzt zu werden.

Ich meine, dass Kirche auch auf diesem schwierigen Terrain, Integrationsprobleme zu benennen, ohne in dumpfe Ressentiments abzugleiten, eine wichtige Brückenfunktion zukommt. Sie kann den Raum für offenen Austausch und ehrliche Diskussionen bieten. Brücke zwischen Menschen zu sein, das heißt „Klarheit und gute Nachbarschaft“, das heißt aber auch für Solidarität mit Schwächeren eintreten und Pauschalurteilen und der Abqualifizierung ganzer Bevölkerungsgruppen entschieden entgegen zu treten.
Es geht schließlich auch darum, im gesellschaftlichen Bewusstsein, Menschen nicht verloren zu geben, sondern im wahrsten Sinne des Wortes zu integrieren und die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen zu stärken. In diesem Kontext kommt dem evangelischen Bildungsbegriff eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, denn an der Bildungsfrage wird sich unsere Zukunftsfähigkeit entscheiden. Es stellt sich in diesem Kontext die Frage, welche Rolle evangelische Schulen bei der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund spielen können?

Bei allem Verständnis für klare Integrationsvorgaben, wie sie etwa der Koalitionsvertrag aufstellt, allen voran die Beherrschung der deutschen Sprache, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass gelingende Integration mehr darstellt als eine gegenseitige Verpflichtung, die per Vertrag geregelt oder aufoktroyiert werden kann. Integration ist ein Prozess gegenseitigen Lernens und Verstehens und erfordert von beiden Seiten Zugeständnisse.

Der Mensch ist unendlich viel mehr als das, was er leistet: diese Erkenntnis gehört zum Herzstück des Protestantismus. Der Mehrwert besteht gerade in der vorgegebenen und unantastbaren Würde des Menschen vor aller Produktivität. Auch weniger Begabte, oder „Bildungsverlierer“ müssen Möglichkeiten erhalten, ihre individuellen Talente und Fähigkeiten in die Gesellschaft einzubringen, befähigt und beteiligt zu werden. „Integrationsunwillige“ dürfen nicht sich selbst überlassen und abgeschrieben werden.

In seinem Beitrag „Zusammenleben gestalten“ (Anm. 15) aus dem Jahr 2002 stellte der Rat der EKD fest: „Dem Begriff ‚Integration’ kommt ... in der gegenwärtigen Diskussion eine Schlüsselrolle zu. Integration ist ein kontinuierlicher Prozess. Sein Ziel ist die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Dieser Prozess schließt für die Hinzukommenden die Übernahme von Rechten und Pflichten der aufnehmenden Gesellschaft ein.“ Voraussetzung dafür ist, dass die Zuwanderer die Verkehrssprache des aufnehmenden Landes hinreichend erlernen.

Dieser Beitrag macht darauf aufmerksam, dass der Kern des Zusammenlebens, die „Partizipation” in einer Gesellschaft so organisiert werden muss, dass alle, nicht nur mithalten, sondern auch mitmachen können, sei es im Bereich der Bildung, Gesundheit und auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Teilhabe an Freizeit, Politik oder Medien.
Gerade hier sind immer noch erhebliche Defizite feststellbar. Für die Kirche sind das Recht auf Teilhabe und die Berechtigung zur Partizipation untrennbar mit der Menschenwürde verbunden. Dementsprechend stellt sich auch die Frage, wie Kirche und kirchliche Einrichtungen in ihrem Alltag mit Menschen anderer Herkunft und Sprache umgehen bzw. wie sie mit gutem Beispiel voran gehen.

„Solidarität beginnt mit der Einbeziehung der Zuwanderer in das Leben der Kirchen und ihrer Gremien. In der Kirche kann es keine "Ausländer" geben, denn alle sind eins in Christus.“ (Anm. 16). Dieser Anspruch ist seit der Verabschiedung des Gemeinsamen Wortes der Kirchen aus dem Jahr 1997 noch dringlicher geworden.

Die Beteiligung und Mitarbeit von Christinnen und Christen anderer Sprache und Herkunft in kirchlichen Diensten und Einrichtungen ist erwünscht und möglich (Anm. 17), wie sich nicht zuletzt in der Wahl von Herrn Dr. Fidon Mwombeki, Generalsekretär der Vereinten Evangelischen Mission, Wuppertal in den Rat der EKD auf der Synode in Ulm gezeigt hat. Sie verdeutlicht den umfassenden und integrativen Charakter der christlichen Gemeinschaft. Auch einzelne Kirchenordnungen bieten schon vielfältige Ansatzpunkte für die Einbeziehung von MigrantInnen. In der Diakonie ist ein Prozess der interkulturellen Öffnung eingeleitet worden. Auch auf der Ebene der Landeskirche, in kirchlichen Gremien und in der Gemeindearbeit  sollten Fragen nach Partizipation, Einbindung und interkultureller Öffnung noch intensiver debattiert werden.

Mehr noch stellt uns der Umgang mit Menschen anderer Religion, mit der religiösen Pluralität in unserer Gesellschaft, die Selbstverständliches hinterfragt, vor große Herausforderungen. Wie kann es Kirche gelingen, mögliche gesellschaftliche Konflikte abzumildern oder noch besser konstruktiv zu wenden? Meiner Meinung nach ist es für die Zukunft unser Kirche unabdingbar, angesichts sich verändernder gesellschaftspolitischer Umstände, in einer Zeit hoher Kirchenaustrittszahlen und einer insbesondere in den Großstädten multi-religiös geprägten Öffentlichkeit eine innerkirchliche Debatte darüber zu führen, wie wir das Staatskirchenrecht zukunftsfähig ausgestalten können. Wir dürfen es nicht den Gerichten überlassen, die künftige Richtung vorzugeben, sondern sollten die weiten Spielräume, dies uns dieses Rechtsgebiet eröffnet, beherzter nutzen. Ein „religionsverfassungsrechtlicher“ Ansatz, der die Weimarer Religionsartikel maßgeblich vom Grundrecht der Religionsfreiheit her versteht und nicht als „für die Kirchen vorgehaltenes institutionelles Sonderarrangement“ könnte hier neue Wege eröffnen (Anm. 18).

3. Damit komme ich abschließend zu der Rolle der Gemeinden.

Die Kirchen haben die Erfahrung gemacht, dass ökumenische Offenheit und Dialogbereitschaft Bereicherung schaffen können (Anm.19). Die immer vielfältiger werdende Präsenz von verschiedenen Konfessionen, Traditionen und Kulturen in Städten wie Berlin bietet die Chance für eine noch umfassendere Ökumene, z.B. durch gemeinsame Gottesdienste oder Fürbittandachten, gegenseitige Einladungen, gemeinsame Predigtvorbereitung oder Kanzeltausch. Natürlich stellen die in manchen Migrantengemeinden geprägten neuen Formen des Christseins neue Herausforderungen an unsere Bereitschaft zum Dialog (Anm. 20). Aber ich kann mich der Einschätzung des Migrationsbeauftragten Ihrer Landeskirche Hans Thomä in seinem Referat vor der Kreissynode Neukölln nur anschließen, wenn er in Abwandlung eines Bischofswortes sagt: „Evangelische Gemeinden, die sich für Menschen mit Migrationshintergrund öffnen, schwächen damit nicht ihren evangelischen Charakter. Im Gegenteil werden Sie sich ihrer evangelischen Prägung gerade dann bewusst werden, wenn sie sich zu einer solchen Öffnung bereit finden.“
1996 stellte die EKD fest, dass die Zusammenarbeit mit christlichen Gemeinden fremder Sprache oder Herkunft noch mehr zu einer Selbstverständlichkeit im kirchlichen und ortsgemeindlichen Alltag werden müsse. In einer Handreichung gab sie konkrete Anregungen zur Zusammenarbeit mit den internationalen Gemeinden (Anm. 21). In ihrer Intention hat die Handreichung auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren.

Für die Gemeinde muss es Aufgabe bleiben, sich dem Fremden verpflichtet zu fühlen, einladend und gastfreundlich zu sein. Das geschieht bereits auf vielfältige Weise in Umsetzung des diakonischen Auftrags der „Kirche für andere“ in der praktischen Arbeit, sei es durch Sprachpatenschaften, die Zusammenarbeit mit Migrantengemeinden, die Migrationsdienste oder Projekte der Nachbarschaftshilfe. Die Ausstellung heute führt uns an Hand wunderbarer Beispiele einmal mehr den Ideenreichtum und das Engagement von Kirche und Diakonie für Fremde vor Augen geführt.

Ich hoffe, mein Vortrag hat Sie in Ihrer Entscheidung bestätigt, sich weiter mit diesem komplexen Thema auseinander zusetzen und auch die europäischen Entwicklungen im Blick zu behalten. Wie Sie sicherlich bereits wissen, hat die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) gemeinsam mit der Kommission der Kirchen für Migranten in Europa (CCME) das Jahr 2010 als „Jahr der Europäischen Kirchen zu Migrantion“ ausgerufen. Es würde sich anbieten Ihre vielfältige Projektarbeit auch in diesem Rahmen darzustellen, zu vertiefen und sichtbar zu machen.

Meiner Meinung nach sind Migration und kultureller bzw. religiöser Pluralismus genau die politischen Themen, die unsere Zukunft bestimmen werden und die uns deshalb nicht gleichgültig lassen dürfen.

Der Arbeitsbereich Migration und Integration im Bereich der Landeskirche und in der Diakonie leistet mit seiner Arbeit einen unverzichtbaren Beitrag zur Zukunftsfähigkeit Ihrer, unserer Kirche. Ich würde mich freuen, wenn nach dieser Synode in noch mehr Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftliche Realität von Migration stattfinden würde. Die Zeit ist reif.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 



Anm. 1: UNHCR Studie: Asylum in the European Union- A study of the implementation of the Qualification directive“, Executive Summary, S. 10.
Anm. 2: Stellungnahme Amnesty International Österreich zum Fremdenrechtspaket 2009.
Anm. 3: HRW Bericht: „Pushed back, pushed around”
Anm. 4: http://www.hrw.org/en/node/85585
Anm. 5:  http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Querschnittsveroeffentlichungen/WirtschaftStatistik/Bevoelkerung/Bevoelkentwicklung2007,property=file.pdf
Anm. 6: BVerfG, Beschluss vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09); BVerfG, Beschluss vom 23. September 2009 (2 BvQ 68/09).
Anm. 7: BVerfG, Beschluss vom 9. September 2009 (2 BvQ 56/09).
Anm. 8: Vgl. Anordnung des Bundesinnenministeriums des Innern gemäß § 23 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz zur Aufnahme bestimmter Flüchtlinge aus dem Irak vom 5. Dezember 2008; vgl. z.B. http://www.bravors.brandenburg.de/sixcms/detail.php?gsid=land_bb_bravors_01.c.47782.de (abgerufen am 11. Oktober 2009)
Anm. 9: Vgl.:http://www.bamf.de/cln_101/nn_1629628/DE/Migration/AufnahmeverfahrenIrak/aufnahmeverfahren-irak-03-inhalt.html (Stand 23. September 2009).
Anm. 10: Vgl. z.B. den Vortrag des Parlamentarischen Staatssekretärs des Bundesministeriums des Innern Peter Altmaier auf dem Symposium zum Flüchtlingsschutz am 24. 6. 2008 in Berlin, "Die Aufnahme irakischer Flüchtlinge in Deutschland", abgedruckt in ZAR 2008, 249, 251.
Anm. 11: (COM (2009) 447/4).
Anm. 12: Dr. Michael Werz, Adjunct Professor am BMW Center for German and European Studies an der Universität von Georgetown in Washington DC, Europa fragt: Wer sind wir? Migrationspolitik im 21. Jahrhundert, siehe auch: http://www.boell.de/weltweit/europanordamerika/europa-nordamerika-6827.html
Anm. 13: Zusammenleben gestalten, EKD-Texte 76, Hannover 2002, S.16
Anm. 14: "... und der Fremdling, der in deinen Toren ist." Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, Gemeinsame Texte 12, 1997, Ziff. 214.
Anm. 15: Vgl. Richtlinie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland nach Art. 9 Buchst. b Grundordnung über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 4. Juli 2005.
Anm. 16: Prof. Hans Michael Heinig: Religiöser Pluralismus, Religionsfreiheit und Toleranz., Vortrat in der FES, 5. November 2009.
Anm. 17: EKD Texte 76, Ziff. 9 ff.
Anm. 18: Präses Alfred Buß: Vielfalt anerkennen und gestalten in Diakonie Perspektiven 2009, Danken und Dienen, S.6ff.
Anm. 19: Zur ökumenischen Zusammenarbeit mit Gemeinden fremder Sprache oder Herkunft; Eine Handreichung des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Texte 59, Hannover, Dezember 1996.