"...aus dieser Welt uns nehmen"

Andacht in der Zwölf-Apostel-Kirche Schöneberg

Liebe Schwestern und Brüder,

„Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod; und wenn du uns genommen, lass uns in‘ Himmel kommen, du unser Herr und unser Gott.“

Wie zuversichtlich und vertrauensvoll das klingt: Ich weiß, dass Du, Gott, meinem Leben ein Ende machen wirst, aber ich hoffe, dass du mich auch dann nicht fallen lässt. So zuversichtlich und so vertrauensvoll möchte ich über meinen Tod auch reden können. Leicht ist das nicht. Schon deshalb nicht, weil die meisten Menschen in meiner näheren und weiteren Umgebung nur ungern oder überhaupt nicht an ihren Tod erinnert werden wollen. Innerhalb nur weniger Jahrzehnte haben wir uns jahrhundertealter Bräuche entledigt. Es waren Bräuche, die uns an unsere Endlichkeit erinnerten. Daran, dass wir früher oder später sterben müssen. Wer weiß heute noch von dem Trauerjahr, in dem Trauernde zunächst Schwarz trugen und die schwarze Kleidung allmählich mit dem einen oder anderen helleren Kleidungsstück ergänzten? Für manche Menschen mag das eine Last gewesen sein, für andere aber ein Segen. Ihre Kleidung sagte den Nachbarn und Freunden: Nehmt Rücksicht auf mich. Ich bin in Trauer, und die ist nicht in wenigen Tagen erledigt. Und: An mir könnt ihr ein Jahr lang sehen, dass auch eure Tage gezählt sind. Den Totensonntag im November gibt es immerhin noch, aber er ist vielen zum Ärgernis geworden:  Junge Leute sind verärgert darüber, dass an diesem Tag die Disco geschlossen ist. Auch ihre Eltern murren: Der Weihnachtsmarkt ist bereits aufgebaut, wird aber erst am Montag eröffnet. Dabei war der Totensonntag einmal dazu gedacht, uns innehalten zu lassen: Erinnere dich derer, die vor dir lebten, und denke daran, dass auch du sterben musst. Auch ein dritter Brauch ist in die Krise geraten: die öffentliche Trauerfeier. Immer öfter ist auf Todesanzeigen zu lesen: „Die Trauerfeier findet im engsten Familienkreis statt“ oder: „Die Beerdigung hat in aller Stille stattgefunden.“ So wird Menschen die Gelegenheit genommen, Abschied zu nehmen und sich von einem fremden Sarg oder einer fremden Aschenurne daran erinnern zu lassen: Das wird auch dein Weg sein.

Über die Ursachen dieser Entwicklung zu spekulieren, wird uns kaum weiterführen, und ich bezweifle auch, dass wir sie aufhalten können. Aber ein Zwischenruf sei erlaubt: Wer sich immer wieder an die eigene Vergänglichkeit erinnert, wird nicht ärmer sondern reicher. Wer sich klar macht, dass die eigenen Tage gezählt sind, der erkennt, wie kostbar jeder einzelne dieser Tage ist. Zu kostbar, um ihn mit Belanglosigkeiten zu füllen. Zu wertvoll, um ihn mit sinnlosem Streit zu verbringen. Wer den eigenen Tod vor Augen hat, lebt intensiver. Darauf sollte man nicht warten, bis man im Sterben liegt…

Ich möchte über meinen Tod reden - zuversichtlich und vertrauensvoll. Ich kann das. Ich kann das, weil ich an „unsern Herrn und unsern Gott“ glaube. An unsern Gott, der der Herr über den Tod, auch über meinen Tod, ist. Ich hoffe darauf, dass ich bei ihm geborgen bleibe, auch wenn ich gestorben bin oder anders gesagt: dass ich in den Himmel komme. Mit der Aussicht auf den Himmel will ich auf dieser Erde leben – den Tod vor Augen und trotzdem zuversichtlich.

Mit der Aussicht auf den Himmel will ich mich nicht nur auf meinen Tod sondern auch auf mein Sterben vorbereiten. Wie wohl die meisten Menschen wünsche ich mir, dass ich sanft sterben kann: „Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod.“  Nein, ich möchte nicht, dass mein Sterben mit allen Mitteln verlängert wird, wenn ich nach menschlichem Ermessen nicht ins Leben zurückkehren kann. Und wenn ich sterben muss, möchte ich möglichst wenig Schmerzen und möglichst wenig Angst empfinden. Ich möchte, dass man mir ausreichend Medikamente gegen Schmerz, Übelkeit und Atemnot gibt, selbst wenn das mein Leben um einige Tage oder Wochen verkürzt. Meine Frau und meine Kinder wissen das. Deshalb habe ich ihnen eine Vorsorgevollmacht erteilt. Im Fall des Falles können sie in meinem Namen sprechen und entscheiden. Ich verlasse mich darauf, dass sie gemeinsam mit den mich behandelnden Ärzten Entscheidungen treffen, die in meinem Sinne sind. Andere Menschen haben zusätzlich eine Patientenverfügung verfasst. Auch das ist ein guter Weg, sich auf sein Sterben vorzubereiten.

„Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod.“  Diese Bitte richte ich ausdrücklich nicht an den Arzt, der mich vielleicht in meinen letzten Lebenstagen begleitet. In Deutschland dürfte ohnehin kein Arzt und keine Ärztin einer solchen Bitte entsprechen; die so genannte „Tötung auf Verlangen“, auch „aktive Sterbehilfe“ genannt, ist bei uns verboten. Ich bin davon überzeugt, dass auch Gott sie nicht will. Er, „unser Herr und unser Gott“, ist es, der uns unser Leben gegeben hat und er allein hat das Recht, es uns zu nehmen – wann und wie er es will.

„Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod.“  Diese Bitte richte ich auch ausdrücklich nicht an andere Menschen und schon gar nicht an Vertreter so genannter „Sterbehilfeorganisationen“. Sterbehilfeorganisationen versetzen schwer kranke Menschen in die Lage, sich selbst zu töten, wenn sie ihr Leiden nicht mehr ertragen können. Sie verschaffen tödliche Medikamente, bereiten sie zu und sorgen dafür, dass selbst ein gelähmter Mensch das Gift zu sich nehmen kann. Ich kann nachvollziehen, dass hier Menschen anderen Menschen Leid ersparen wollen. Trotzdem hoffe ich, dass der Deutsche Bundestag im Herbst solche Organisationen verbietet. Soll es denn wirklich normal werden, dass schwer kranke Menschen sich das Leben nehmen? Wird sich dann womöglich rechtfertigen müssen, wer noch leben will – trotz der Belastung, die er für die Angehörigen und für Pflegekasse darstellt? Gott hat uns Menschen das Leben gegeben. Niemand muss vor sich selbst oder anderen Menschen begründen, warum er leben möchte.

„Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod.“  Diese Bitte richte ich mit dem Dichter Matthias Claudius allein an „unsern Herrn und unsern Gott“.

Liebe Schwestern und Brüder, wer das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ im Evangelischen Gesangbuch aufschlägt, der wird schnell feststellen: Dies ist nicht das einzige Abendlied, das eine „Sterbestrophe“ hat. So schreibt Cornelius Becker im Jahr 1602 das Lied „Mit meinem Gott geh ich zur Ruh“. In der letzten Strophe heißt es: „Befiehl den lieben Engeln dein, dass sie stets um und bei uns sein; all Übel von uns wende. Gott Heilger Geist, dein Hilf uns leist an unserm letzten Ende.“ In dem Lied „Nun ruhen alle Wälder“ dichtet Paul Gerhardt 1647: „Nun geht, ihr matten Glieder, geht hin und legt euch nieder, der Betten ihr begehrt. Es kommen Stund und Zeiten, da man euch wird bereiten zur Ruh ein Bettlein in der Erd.“ Und dann ist da noch das Lied „Bleib bei mir Herr! Der Abend bricht herein.“ aus dem Jahr 1952. Theodor Werner hat den ursprünglich englischen Text wie folgt übertragen: „Halt mir dein Kreuz vor, wenn mein Auge bricht; im Todesdunkel bleibe du mein Licht. Es tagt, die Schatten fliehn, ich geh zu dir. Im Leben und im Tod, Herr, bleib bei mir.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Fürbitten:

Lebendiger Gott,

wir danken dir, dass wir dein sind und bleiben – am Abend dieses Tages wie am Abend unseres Lebens. Wenn Finsternis uns verschlingen will, dann lass dein Licht umso heller leuchten.
Wir bitten dich für alle, die in dieser Nacht nicht zur Ruhe kommen, weil Schmerzen oder Sorgen sie drücken: Nimm von ihnen, was sie quält und schenke ihnen eine gute Nacht.
Wir bitten dich für alle, die in dieser Nacht für andere wach bleiben – für die Ärztinnen und Ärzte, die Schwestern und Pfleger, für die Beschäftigten bei der Polizei und der Feuerwehr: Gib, dass sie dieses Opfer weiter gern bringen, Bestätigung in ihrem Beruf erfahren und den Mut nicht sinken lassen.

Wir bitten dich für alle, die in dieser Nacht auf der Lauer liegen, um anderen Menschen zu schaden oder sie gar zu töten: Wende ihre Gefühle und Gedanken zum Frieden.
Wir bitten dich für alle, die in dieser Nacht sterben. Schenke ihnen einen sanften Tod und nimm sie auf in dein ewiges Reich.
Das bitten wir durch Jesus Christus, deinen Sohn, der mit dir in der Einheit des Heiligen Geistes lebt und Leben schafft jetzt und in Ewigkeit. Amen.