"Alles ist gut gegangen"?

Theologische Anmerkungen zur Debatte um die Beihilfe zum Suizid

„Alles ist gutgegangen“?

Theologische Anmerkungen zur Debatte um die Beihilfe zum Suizid
OKR Joachim Ochel

 „Alles ist gutgegangen.“ Mit diesen Worten wird die französische Schriftstellerin und Drehbuchautorin Emmanuèle Bernheim telefonisch über den  Suizid ihres Vaters informiert. Ihr Vater André – ein Pariser Kunstsammler – war zuvor zum Zweck der Selbsttötung in die Schweiz gereist, um dort die Dienstleistung einer Agentur zur Suizidbeihilfe in Anspruch zu nehmen.

„Alles ist gutgegangen.“ So lautet der Titel eines bemerkenswerten Buches, das vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung erschienen ist.  In einem autobiographischen Bericht wird aus der Perspektive der Tochter der Weg nachgezeichnet, nachdem André Bernheim sich im Alter von 88 Jahren nach einem schweren Schlaganfall entschied, sterben zu wollen, und seine Tochter bat, ihm beim Sterben zu helfen.  Nach etwa einem Jahr und einem letzten gemeinsamen Abendessen in einem Pariser Restaurant bricht André Bernheim mit einem privat organisierten Krankentransporter in die Schweiz auf. Am nächsten Tag kommt am frühen Nachmittag der besagte Anruf.

„Alles ist gutgegangen.“ Schon die unangemessen wirkende Formulierung zeigt, dass wir mit der Beihilfe zum Suizid offensichtlich eine Grenze überschreiten und kaum mehr zum Ausdruck bringen können, was dabei wirklich geschieht, weil geschieht, was eigentlich nicht geschehen darf. Unsere Sprache zeichnet nämlich ein anderes Verhältnis zum Tod nach: Wir sind ihm ausgeliefert, er ereilt uns, holt uns ein, übermannt uns, und wenn er herbeigewünscht wird, dann ist er allenfalls eine Erlösung. Damit bildet unsere Sprache ab, dass wir uns dem Tod gegenüber eigentlich nur passiv verhalten können, dass wir ihn erleiden. Der Ausdruck „alles ist gut gegangen“ wird dem nicht gerecht – im Gegenteil. So reden wir eher nach einer Prüfung, bei unsicheren geschäftlichen Verhandlungen oder einer Reise in unbekanntes Terrain. Bei Angelegenheiten also, bei denen wir alles getan haben, um erfolgreich unser Ziel zu erreichen, wo aber ein Rest Unsicherheit blieb. Und wenn wir dann Erfolg hatten und vielleicht auch ein bisschen Glück hinzukam, dann ist eben alles gut gegangen. Können wir erfolgreich sein mithilfe des selbst herbeigeführten Todes? Glückt der Abschied vom Leben, wenn wir die Hilfe anderer für einen Suizid in Anspruch nehmen? Überfordert uns in der Wirklichkeit nicht erst recht, was wir noch nicht einmal in der Sprache angemessen zum Ausdruck bringen können?

Ist also wirklich alles gut gegangen beim Tod von André Bernheim? Die Intensität, mit der die Autorin ihre höchst ambivalenten Gefühle und Empfindungen beschreibt und dabei auf jedes moralische Urteil über die Entscheidung ihres Vaters verzichtet , zeigt, dass für sie längst nicht alles gut gegangen ist mit diesem letzten Weg, auf dem sie ihren Vater zu begleiten hatte.

André Bernheim nahm den Dienst einer Schweizer Organisation zur Suizidbeihilfe in Anspruch. In seiner Heimat Frankreich sind solche Organisationen und die Beihilfe zum Suizid verboten. Der Deutsche Bundestag steht vor der Frage, ob und wie die Bundesrepublik Deutschland mit der organisierten Suizidbeihilfe umgehen will. Faktisch gibt es auch in Deutschland organisierte Suizidbeihilfe, weil die Rechtslage es erlaubt. So bieten beispielsweise „DIGNITAS Menschenwürdig Leben – Menschenwürdig Sterben e. V.“ und „Sterbehilfe Deutschland“ ihre Dienste an. Soll das so bleiben? Diese Frage ist von hoher gesellschaftlicher Brisanz und fordert nicht nur die Politik, sondern auch Kirchen und Theologie heraus.

Im Folgenden wird zunächst der Sachstand der aktuellen Debatte skizziert. Anschließend werden die zur Diskussion stehenden Fragen aus der Perspektive theologischer Ethik beleuchtet, wobei sich die ethische Reflexion angesichts der Komplexität der Fragestellungen um die notwendige Multiperspektivität bemüht.  Schließlich werden aus den ethischen Überlegungen Ansätze zur Problemlösung entwickelt und die damit verbundenen Konsequenzen benannt.

Der Sachverhalt im politischen Entscheidungsprozess

Bereits im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP wurde 2009 vereinbart, die gewerbsmäßige, also kommerzielle Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung unter Strafe zu stellen. Durch die Einführung eines eigenen Straftatbestandes sollte der Kommerzialisierung der Suizidhilfe entgegen gewirkt und dem Eindruck in der Öffentlichkeit begegnet werden, es handele sich dabei um eine gewöhnliche Dienstleistung, wie auch die Selbsttötung eine Normalität sei. Am 29. November 2012 wurde ein von der Bundesregierung bereits beschlossener Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag zur ersten Beratung vorgelegt.  Im Sinne des Koalitionsvertrages schränkte der Entwurf die Strafbarkeit auf die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung ein. Dazu sah er die Schaffung eines neuen Straftatbestandes im Strafgesetzbuch vor; dort sollte § 217 Gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung mit folgenden Bestimmungen eingeführt werden:

(1) Wer absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ein nicht gewerbsmäßig handelnder Teilnehmer ist straffrei, wenn der in Absatz 1 genannte andere sein Angehöriger oder eine andere ihm nahestehende Person ist.
Im Hintergrund dieses Gesetzgebungsentwurfs stand die bis heute unverändert gültige Rechtslage, dass in Deutschland die Selbsttötung und die Beteiligung daran als solche nicht strafbar sind. Ebenfalls ist ein medizinisch indizierter Behandlungsabbruch eines Todkranken nicht strafbar. Strafbar hingegen ist nach § 216 Strafgesetzbuch die Tötung auf Verlangen.

In diesem Zusammenhang treten in der öffentlichen Debatte noch weitere Begriffe auf, die der Differenzierung bedürfen:

• Im Blick auf einen Behandlungsabbruch spricht man gelegentlich auch von „passiver Sterbehilfe“. Passive Sterbehilfe bedeutet, dass man etwas unterlässt, dass man eine lebensverlängernde Maßnahme also entweder überhaupt nicht erst beginnt oder sie nicht fortführt. Passive Sterbehilfe heißt also, man lässt das Sterben zu. Der Patient stirbt aufgrund der Krankheit und es wird eben nichts dagegen getan. Durch die Gesetzeslage zu Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ist eine verlässliche Rechtslage geschaffen, die den Patientenwillen für diese Entscheidungssituationen maßgeblich macht.

• Oft hört man in der Diskussion auch den Begriff der „aktiven Sterbehilfe“. Dieser Begriff verschleiert, dass es sich dabei eigentlich um eine Tötung auf Verlangen handelt. Bei der aktiven Sterbehilfe würde ein Patient aufgrund seiner Krankheit noch nicht versterben, sondern er wird dadurch getötet, dass man ihm ein todbringendes Medikament verabreicht.

• Beim „assistierten Suizid“ oder der „Beihilfe zur Selbsttötung“ ist es so, dass der Suizidant sich selber tötet. Die Tatherrschaft liegt also beim Patienten, der aber Hilfe braucht, um das geeignete Medikament zum Suizid zur Verfügung gestellt zu bekommen. Leisten Ärzte in maßgeblicher Weise diese Beihilfe, so spricht man vom „ärztlich assistierten Suizid“. Die Besonderheit besteht darin, dass Ärzte durch die sog. „Garantenpflicht“ eine Behandlungspflicht haben, die andere Menschen nicht haben und deren Vernachlässigung unter Umständen dazu führen kann, einen ärztlich assistierten Suizid rechtlich als Totschlag durch Unterlassen zu bewerten.

• Ein weiterer Begriff ist eigentlich ein Unwort: „indirekte Sterbehilfe“. Dabei werden in der Regel Schmerzmedikamente gegeben, die in hoher Dosierung dazu führen, dass der Tod zu einem früheren Zeitpunkt eintritt, als er ohne diese Medikamentengabe eintreten würde. Das ist allerdings oft ein Irrtum. Denn gerade die Schmerzmedikation kann durch die Entspannung des Körpers und die Wegnahme von Stress unter Umständen sogar zu einem längeren Leben führen. Deshalb ist es sinnvoll, den Begriff der „indirekten Sterbehilfe“ aus der Debatte zu entfernen. Denn entweder ist es wirklich eine Therapie, dann sollte man sie auch so nennen, weil es eine gerechtfertigte Schmerztherapie ist – vielleicht mit Nebenwirkungen. Oder man überdosiert in der Absicht, den Tod früher herbeizuführen. Dann ist es aber bei Licht betrachtet eine Tötung.
Beim Gesetzgebungsverfahren zum assistierten Suizid bestand und besteht die rechtssystematische Problematik darin, stimmig zu begründen, unter welchen Bedingungen eine assistierende Beteiligung an einem Suizid pönalisiert – also unter Strafandrohung gestellt – werden kann, wo doch der Suizid selbst straffrei ist. Mit dem 66. Deutschen Juristentag von 2006 hat die Bundesregierung sich deshalb zunächst darauf kapriziert, ein Handeln aus Gründen gewerbsmäßigen Gewinnstrebens unter Strafandrohung zu stellen. So wurde in der Begründung des Gesetzesentwurfs von 2012 ausgeführt: „Unter Strafe gestellt wird die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung. Konkret werden Handlungen pönalisiert, mit denen anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung gewerbsmäßig vermittelt, gewährt oder verschafft wird, und dies in der Absicht geschieht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern.“ Und im Blick auf die Gründe der Pönalisierung wurde ergänzt: „Die Kommerzialisierung der Sterbehilfe lässt befürchten, dass sich Menschen zur Selbsttötung verleiten lassen, die dies ohne ein solches Angebot nicht tun würden. Denn durch die Kommerzialisierung der Suizidhilfe und ihre Teilnahme am allgemeinen Marktgeschehen kann in der Öffentlichkeit nicht nur der Eindruck entstehen, hierbei handele es sich um eine gewöhnliche Dienstleistung, sondern auch für die Selbsttötung selbst kann der fatale Anschein einer Normalität erweckt werden.“

In der Diskussion des Gesetzentwurfes von 2012 haben sich beide Kirchen dafür ausgesprochen, nicht nur die gewerbsmäßige – also gewinnorientierte – Suizidbeihilfe unter Strafe zu stellen, sondern jede Form organisierter – juristisch formuliert: geschäftsmäßiger – Beihilfe zur Selbsttötung. Hintergrund dieser Forderung war die Erkenntnis, dass sich einschlägige Organisationen in Erwartung der neuen Gesetzeslage in gemeinnützig arbeitende Vereine umgewandelt hatten und in neuem Gewand ihr altes Geschäft mit dem Suizid weiter betrieben.

Hatte der Entwurf im November 2012 die erste Lesung noch ohne Widerspruch passiert, so waren in der Zwischenzeit viele Parlamentarier hellhörig geworden und plädierten für eine Verschärfung der Bestimmungen oder zumindest für eine gründlichere parlamentarische Debatte. Zudem entwickelte sich eine öffentliche Diskussion, die mehrheitlich dem Entwurf kritisch gegenüberstand, weil er die eigentliche Absicht verfehlen würde. Pointiert beklagte der Medizinethiker Axel W. Bauer beispielsweise: „Das Vorhaben ist in etwa so sinnvoll, als wollte man an der Nordsee das Bergsteigen verbieten.“  Und es wurde die Frage aufgeworfen, ob und warum nur ein die Suizidförderung begleitendes Gewinnstreben diese ins Unrecht setze. Demgegenüber sei die Suizidförderung als solche zu missbilligen. „Die Kommerzialisierung fügt ihr keinen wesentlichen ethischen Malus hinzu“.  Auch der Deutsche Ethikrat riet in einem eindeutigen Votum von einer Beschlussfassung ab. 

Im Anschluss an das Spitzengespräch des Rates der EKD mit dem Präsidium der CDU am 22. April 2013 konnte von dem Einverständnis berichtet werden, „dass über den vorliegenden Entwurf hinaus eine Strafbarkeit jeder geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe notwendig sei.“  Der aus dem FDP-geführten Justizministerium stammende Entwurf wurde endgültig von der Agenda genommen.

Auch wenn beide Kirchen sich sehr dafür einsetzten, gab es im Koalitionsvertrag der seit dem Dezember 2013 regierenden großen Koalition keine entsprechenden Festlegungen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe – ein ehemaliges Mitglied des Rates der EKD – hat dann aber unmittelbar nach der Regierungsbildung durch ein Interview mit der FAZ am 20. Januar 2014 das Thema wieder prominent auf die Agenda gesetzt: „Jede Form der Selbsttötungshilfe muss verboten werden.“  Nach internen Abstimmungen in den Regierungsfraktionen haben sich die Fraktionsvorstände von CDU/CSU und SPD Ende April 2014 bei ihrer Klausurtagung auf dem Petersberg bei Bonn darauf verständigt, die anstehenden Fragestellungen breit im Parlament zu debattieren, um dann unter Auflösung des Fraktionszwangs auf dem Wege von Gruppenanträgen im Herbst 2015 zu einer Beschlussfassung zu kommen. „Seit einigen Jahren sind in Deutschland Vereinigungen aktiv, die Hilfeleistungen zur Selbsttötung anbieten. Wir müssen als Gesellschaft daher die Entscheidung treffen, ob wir diese Art von Sterbehilfe wollen. Diese ethische Grundfrage soll jede Abgeordnete und jeder Abgeordneter für sich selbst beantworten. Zugleich halten wir eine umfassende Auseinandersetzung mit den ethischen und rechtlichen Fragen im Parlament und auch außerhalb für erforderlich … Die Koalitionsfraktionen beabsichtigen, durch ihre Vorgehensweise auch in der Öffentlichkeit eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Mitmenschen am Lebensende und den Grundwerten unserer Gesellschaft auszulösen.“  Das verabredete Verfahren hat in der Öffentlichkeit viel Zustimmung gefunden. Die öffentliche Debatte hat inzwischen Fahrt aufgenommen. Wie verhalten sich nun die Evangelische Kirche und die Theologie zu den skizzierten Fragestellungen?


Theologische Perspektiven

Grundsätzlich gründet eine verantwortungsvolle evangelische Position auf Wahrnehmungen zur Problematik des Assistierten Suizids aus verschiedenen Perspektiven:
In einer anthropologischen Perspektive muss der Suizid als praktisch ausgeführter Widerspruch zum Leben und damit zu den Voraussetzungen menschlicher Selbstbestimmung begriffen werden. Im Suizid widerspricht der Einzelne dem Impuls, aus dem er lebt, widerlegt die Absichten, die sein Handeln bis dahin geleitet haben, und stellt sich in den Gegensatz zu allen, die zu seinem Dasein beigetragen haben. So betrachtet ist der Suizid gerade nicht als Vollzug menschlicher Selbstbestimmung zu interpretieren, sondern ihre radikale Außerkraftsetzung.  Dennoch hat der Mensch die – in Barthscher Diktion formuliert – „unmögliche Möglichkeit“ zum Suizid.
In theologischen Kategorien ausgedrückt ist die Selbsttötung als ein dem Wesen des Menschen in seiner Bezogenheit auf Gott widersprechender Versuch zu verstehen, ein definitives Urteil über den Wert oder Unwert des eigenen Lebens zu sprechen. Aufgrund ihrer Irreversibilität kommt die Selbsttötung einer endgültigen Absage an die Hoffnung gleich, dass der Mensch im Vertrauen auf Gottes Hilfe jede Lebenssituation annehmen und bestehen könne und es kein aussichtsloses menschliches Leiden gebe.
Der Suizid ist somit moralisch nicht zu billigen. „Aus christlicher Perspektive ist die Selbsttötung eines Menschen grundsätzlich abzulehnen, weil das Leben als eine Gabe verstanden wird, über die wir nicht eigenmächtig verfügen sollen“ – so der Rat der EKD in einer Erklärung zur Debatte über die Beihilfe zur Selbsttötung vom 19. November 2012.

Das Leben als eine Gabe zu begreifen, ist eine Haltung, die aus dem Glauben erwächst und die zuallererst für das je eigene Leben eingenommen wird. Tragfähig ist sie letztlich nur in Form einer individuellen Aneignung, die sich in eine persönliche Lebenshaltung überträgt. So sehr mit guten theologischen Gründen diese Haltung als dem wahren Wesen des Menschen gemäß erachtet wird, so wenig kann sie universalisierend einfach für alle Menschen voraussetzt und ihnen gleichsam aufoktroyiert werden. Ja, man muss sogar der Tatsache Rechnung tragen, dass auch ein Christ nicht einmal für sich selbst ausschließen kann, in eine Lage kommen zu können, in der der Wunsch nach dem selbst herbeigeführten Tod übermächtig wird. Die Aussage, dies sei ein Verstoß gegen den Gabecharakter des menschlichen Lebens, schützt nicht vor solchen Extremsituationen. Für den Christen besteht die religiöse Aufgabe deshalb zunächst darin, sich selbst darauf vorzubereiten, auch solche schweren Prüfungen aus Gottes Hand anzunehmen und ihnen im Vertrauen auf Gott standzuhalten. Im Blick auf andere wird ein Christ das Seine dazu beizutragen, dass die ihm anvertrauten Nächsten nicht in solche Lagen kommen. Kommen sie hinein, so wird er ihnen dabei helfen, solche Situationen im Glauben zu bestehen. Und er wird ihnen auch dann nahe zu sein versuchen, wenn sie den Weg zu einem selbst herbeigeführten Tod beschreiten.

Die theologische und moralische Beurteilung des Suizids schließt nämlich aus seelsorglicher Perspektive den Respekt gegenüber Suizidanten nicht aus. Bereits 1989 hatten der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz gemeinsam erklärt: „In der Selbsttötung verneint der Mensch sich selbst. Vieles kann zu einem solchen letzten Schritt führen. Doch welche Gründe es auch sein mögen – keinem Menschen steht darüber von außen ein Urteil zu. Die Beweggründe und die Entscheidungsmöglichkeiten eines anderen bleiben ebenso wie eventuelle Auswirkungen einer Krankheit im Letzten unbekannt. Für Christen bedeutet die Selbsttötung eines anderen Menschen eine enorme Herausforderung. Ein Christ kann diese Tat im Letzten nicht verstehen und nicht billigen und kann dem, der so handelt, seinen Respekt doch nicht versagen. Eine Toleranz gegenüber dem anderen noch über das Verstehen seiner Tat hinaus ist dabei gefordert. Doch die Selbsttötung billigen und gutheißen kann der Mensch nicht, der begriffen hat, dass er nicht nur für sich lebt. Jeder Selbsttötungsversuch kann für ihn nur ein ‚Unfall‘ oder ein Hilfeschrei sein.“

Die Haltung des Respekts gegenüber Menschen in verzweifelten Situationen hat der Rat der EKD 2008 in seiner Orientierungshilfe „Wenn Menschen sterben wollen“  auch auf die Problematik der Beihilfe zur Selbsttötung bezogen. „Wenn … das Evangelium den Menschen in der Freiheit des eigenen Gewissens anspricht, dann schließt das Respekt gegenüber der Sicht anderer auf ihr Leben ein, noch dazu, wenn diese in Verbindung steht mit einer schweren, leidvollen Krankheit. Man wird dann aber auch zu respektieren haben, wenn ein anderer Mensch in solcher Lage zu der Entscheidung gelangt, sein Leben zu beenden, und wenn Dritte ihm dabei helfen, auch wenn man selbst dies nicht bejahen kann oder tun könnte. Wer Situationen schweren Leids erlebt hat, der wird sich hier jedes Urteils enthalten. Und vielleicht weiß er auch um den schweren Gewissenkonflikt, der in solchen Situationen aus der eindringlichen Bitte um Beistand bei der Beendigung des eigenen Lebens erwachsen kann. Ja, es mag Grenzfälle geben, in denen sich Menschen um eines anderen willen genötigt sehen können, etwas zu tun, das ihrer eigenen Überzeugung und Lebensauffassung entgegensteht.“
Zugleich hat der Rat bereits 2008 organisierte Suizidbeihilfe abgelehnt. Als tragendes Argument für ein Verbot der Aktivitäten von Suizidbeihilfe¬organisationen dient die „gesellschaftliche Signalwirkung, die den assistierten Suizid in die Nähe einer ‚normalen‘ Option am Lebensende rückt.“ Die Forderung eines Verbotes von Sterbehilfeorganisationen wird mit der Erwartung begründet, „Beihilfe zum Suizid werde dann nicht mehr nur in einem individuellen Einzelfall geleistet, sondern sie werde zu einem Dienstleistungsangebot und … Teil des Marktgeschehens.“ Zudem würde die Politik in einen Druck zur gesetzlichen Regelung der Sterbehilfeorganisationen geraten, der vor „das Problem einer staatlichen Zertifizierung und Legitimierung solcher Organisationen stellen“ würde. Der Rat der EKD hat diese Position im Herbst 2012 noch einmal bekräftigt: „Jede Form organisierter Suizidbeihilfe ist abzulehnen.“ 

Um das Gewicht dieser sozialethischen Argumentation zu verstehen, muss man sich das Ausmaß der Suizidproblematik in unserer Gesellschaft vor Augen führen. In Deutschland wurden im Jahr 2011 10.144 Suizide registriert. Eine hohe Dunkelziffer nicht erfasster Suizide kommt hinzu. Bei der Anzahl der Selbsttötungsversuche muss von einem Faktor 10 ausgegangen werden. Die Zahl der Suizidtoten ist höher als die Summe der Unfalltoten, Aidstoten und der Toten nach harter Drogensucht und Schwerverbrechen. Man nimmt an, dass jeder Suizidtote im Durchschnitt sechs unmittelbar Betroffene hinterlässt – nicht selten schwer traumatisiert und selbst suizidgefährdet. In der Diskussion um den assistierten Suizid ist deshalb zu berücksichtigen, welche fatalen gesellschaftlichen Wirkungen im Blick auf eine Verharmlosung und Normalisierung des Suizids eintreten können. „Anstatt seine Verwirklichung weiter zu erleichtern, müsste dem Suizid die soziale Anerkennung versagt bleiben“ fordert in diesem Sinne der Medizinethiker Axel. W. Bauer.

Dieses Plädoyer wird gestützt durch die medizinische Wahrnehmung von Suizidalität. Von den etwa 10.000 Suiziden, die in Deutschland jährlich registriert werden müssen, erfolgen die allermeisten aufgrund krankhafter psychischer Störungen, wie sie durch Depressionen, Schizophrenien, chronischen Alkoholismus etc. verursacht werden. Andere Suizide und Suizidversuche werden aus situativer Verzweiflung unternommen, die dem Betroffenen sein Leben akut unerträglich erscheinen lässt, aber aller Voraussicht nach behebbar wäre. In der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle haben solche Suizidversuche appellativen Charakter. Solche Selbsttötungen sind Unglücksfälle, die es zu verhindern gilt. Oder pointiert: „Psychisch Kranke brauchen fachmännische Hilfe und keine Fahrkarte in den Tod.“  Damit wird das Phänomen des „Bilanzsuizids“ oder der Wunsch eines unheilbar Kranken zu sterben nicht in Abrede gestellt. Wohl aber wird auch aus medizinischer Sicht einem irreführenden Verständnis des Suizids als eines „Freitodes“ oder gar seiner Heroisierung als „Akt menschlicher Selbstbestimmung“ vehement widersprochen.

Der Suizidwunsch Suizidwilliger ist zudem – das bestätigt auch die seelsorgliche Erfahrung – oft ein höchst ambivalentes Phänomen, weil Lebenswille und Todeswunsch miteinander ringen. In einem Interview der ZEIT mit Inge Jens vom Februar 2014 findet sich dafür ein eindrücklicher Beleg. Ihr Sohn Tilmann Jens hatte 2009 die schwere Demenzerkrankung seines Vaters öffentlich gemacht. „Demenz. Abschied von meinem Vater“ war der Titel seines lebhaft diskutierten Buches. Im Interview blickt nun die Ehefrau Inge Jens nach zweiundsechzig Ehejahren auf den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt zurück:

„ZEITmagazin: Im vergangenen Sommer ist Ihr Mann gestorben. Er hatte sich vor seiner Erkrankung für Sterbehilfe ausgesprochen. Haben Sie eine Regelung für Ihren Tod getroffen? Jens: Wir hatten eine gleichlautende Patientenverfügung, die vorsieht, alle lebensverlängernden Maßnahmen zu unterlassen. In lichten Momenten sagte mein Mann: ‚Nicht totmachen, nicht totmachen‘, aber auch: ‚Ich will nicht mehr. Ich will sterben.‘ Als Gesunder hat er für Sterbehilfe plädiert, und als Kranker hat er leben wollen. Mit dieser Erkenntnis bin ich noch lange nicht fertig. Doch wer hätte das Recht gehabt, ihn umzubringen? Ob ich richtig oder falsch entschieden habe, werde ich nie erfahren, damit muss ich leben. Ich weiß nicht, ob ich, wenn ich in dem Zustand sein werde, dann nicht auch leben will. Ich bin nicht besonders fromm, aber das muss ich einer mich übersteigenden Kraft anheimstellen.“

Nimmt man die Ambivalenz wahr, von der hier beispielhaft berichtet wird, so zeigt sich auch unter diesem Gesichtspunkt, dass das Angebot von Suizidbeihilfeorganisationen oft genug der tatsächlichen Situation von Suizidwilligen nicht gerecht wird. Es ist auf dramatisch inhumane Weise unterkomplex, den Wunsch eines Menschen zu sterben aus der Mitgliedschaft in einem Verein oder der Zahlung einer Gebühr abzuleiten. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass zur Zeit gegen die beiden Hauptprotagonisten von „Sterbehilfe Deutschland e. V.“ – den ehemalige Justizsenator der Hansestadt Hamburg, Roger Kusch, und den Psychiater Johann Friedrich Spittler – Anklage erhoben wird. Ihnen wird vorgeworfen, zwei über achtzig Jahre alte Frauen, die sich 2012 mit ihrer Beihilfe das Leben nahmen, förmlich in den Suizid getrieben zu haben.
Welche Ansätze zur Problemlösung ergeben sich nun und welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen?

Ansätze zur Problemlösung und Konsequenzen

Zunächst einmal ist daran zu appellieren, bei der Debatte um den assistierten Suizid mit großer Bedachtsamkeit zu argumentieren. Dies gilt besonders, wenn Bezüge zum Selbstbestimmungsrecht und zur Menschenwürde hergestellt werden.

Angesichts von 10.000 Suizidtoten in Deutschland wäre es fatal, wenn durch einen falschen Zungenschlag in der Debatte um den assistierten Suizid ein Verständnis des Suizids als Ausdruck von Selbstbestimmung etabliert würde. Die Suizidalität in einer Gesellschaft ist eine fragile Angelegenheit. Suizid ist nicht allein eine Angelegenheit des Individuums. Suizidraten hängen – das zeigt der internationale Vergleich – von kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Entwicklungen ab. Ein dominantes Verständnis des Suizids als eines „selbstbestimmten Freitodes“ kann dramatische gesellschaftliche Konsequenzen haben. 

Im Blick auf untragbare Argumentationen mit einer falsch verstandenen Menschenwürde hat sich schon der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering Anfang des Jahres mit einem fulminanten Beitrag in der Süddeutschen Zeitung zu Wort gemeldet: „Ich widerspreche dem Plädoyer für die aktive Sterbehilfe. Denn was da im Gange ist, ist nicht zu übersehen. Hier soll aus Angst vor dem unsicheren Leben ein sicheres Ende gesucht und der präventive Tod zur Mode der angeblich Lebensklügsten gemacht werden. Viele nicken beifällig, wenn die Geschichte vom süßen freien Tod erzählt wird. Die Heroisierung der Selbsttötung in manchen Medien – wenn sich die Person als Identifikationsmuster eignet – kommt hinzu.“ Und dann bezieht sich Franz Müntefering auf Udo Reiter, den ehemaligen Intendanten des MDR und einen der Hauptprotagonisten der Sterbehilfe, der von sich sagte: „Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen. Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern.“ Franz Müntefering reagiert darauf so: „Wenn Altsein wirklich so trottelig und wertlos ist und außerdem in seiner Massenhaftigkeit auch recht kostenträchtig – muss man dann den Menschen nicht rechtzeitig abraten davon und ihnen zum runden Geburtstag einen kostenlosen süßen Auf-immer-Einschlaftrunk andienen? Win-win? Die Erbenkonten werden nicht für Trotteligkeiten verplempert. Das ist polemisch? Ja, und zwar zu Recht. Die Würde des Menschen hat nichts zu tun damit, ob er sich selbst den Hintern abputzen kann. Nichts damit, ob er bis 100 zählen und ob er sich erinnern kann. Es gibt Menschen, die können das nie, und solche, die können das nach Krankheiten oder Unfällen oder altersbedingt nicht mehr. Lebten sie nicht in Würde?“  Man muss Franz Müntefering dankbar sein für diese Klarheit und ihm von kirchlicher Seite beipflichten.

Aus theologischer Perspektive wird man sodann die Forderung nach einem Verbot von Organisationen zur Suizidbeihilfe bekräftigen. In welcher Form dieses Verbot juristisch realisiert werden kann, ist eine schwierige Frage, die einer eigenen rechtswissenschaftlichen Reflexion bedarf. Dabei ist vor allem die strafrechtliche Relevanz organisierter Suizidbeihilfe klärungsbedürftig. Das sollte aber nicht den entschiedenen Willen beeinträchtigen, um der Humanität des Miteinanders willen der hochproblematischen Praxis organisierter Suizidbeihilfe wirksam rechtsstaatlich entgegen zu treten. Das ist auch deshalb notwendig, weil beim Sterben in Würde die Menschlichkeit einer ganzen Gesellschaft auf dem Spiel steht.

Aus den Erfahrungen der Palliativmedizin weiß man, dass Menschen, die nach einem schnellen Tod rufen, eigentlich nicht sterben wollen. Sie wollen „nur“ nicht leiden. Und wenn man ihr Leiden lindern und ihnen die Angst davor nehmen kann, so verlangen sie in der Regel weder Sterbe- noch Suizidbeihilfe.  Die wirksamsten Antworten auf die organisierte Suizidbeihilfe sind somit bedarfsgerechte Angebote der Palliativmedizin. Dazu gehört auch ein Selbstverständnis ärztlichen Handelns, das den Menschen die Angst nimmt, gegen den eigenen Willen ad ultimo Objekt einer lebensverlängernden Hochleistungsmedizin zu sein. Hier ist auch eine Medizin des Einvernehmens mit den Patienten gefragt, die die medizinischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung nicht ausreizt. Zudem begleitet die Hospizarbeit Menschen verlässlich an ihrem Lebensende und die kirchliche Seelsorge kann eine Haltung stabilisieren, sich auch im Schweren Gott anzuvertrauen. „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet!“ So loben Christen den „mächtigen König der Ehren“ und so erhoffen sie es auch für ihre letzten Stunden. Die Hospizarbeit sowie die palliativmedizinischen und seelsorglichen Möglichkeiten sind vorrangig zu stärken und es wäre ungemein viel gewonnen, wenn die Diskussionen zum assistierten Suizid diesbezüglich zu nachhaltigen Verbesserungen beitragen würden.

Doch trotz aller Bemühungen wird sich nicht gänzlich vermeiden lassen, dass unter bestimmten Umständen manche Menschen an ihrem Lebensende auch eine Option auf einen Suizid und auf Beihilfe dazu haben möchten. Ja, es ist nicht auszuschließen, dass Beihilfe zum Suizid im Einzelfall als die unabwendbare Reaktion auf eine nach menschlichem Ermessen unerträgliche und ausweglose Situation erscheint. Beihilfe zum Suizid kann dann aber immer nur ultima ratio sein; sie verlangt Mut zur Übernahme persönlicher Verantwortung unter Verzicht auf rechtliche Absicherungen. Eine solche Entscheidung muss zweifelsfrei dem nicht nur akuten, sondern dauerhaften Todeswunsch eines Menschen entsprechen, der manifest und bei vollem Bewusstsein für sich selbst keine Lebensperspektiven mehr sehen kann. Verantwortungsübernahme bei der Assistenz zum Suizid setzt deshalb eine intime Kenntnis der Biografie und der Krankengeschichte der betroffenen Person voraus und bedarf einer zwischenmenschlichen Beziehung, die ermöglicht, wirklich im Einvernehmen mit dem bzw. der Betroffenen zu handeln.

Wer kann dem entsprechen und das leisten? Natürlich hat man zuvorderst an Angehörige zu denken. Aber fehlt Angehörigen nicht die notwendige Distanz? Und werden sie mit solchen Entscheidungen nicht überfordert oder extrem belastet? Können sie die Entscheidung über Leben und Tod eines ihnen Nahestehenden treffen, ohne dass eigene Wünsche und Befindlichkeiten eine Rolle spielen? Und besteht nicht das Risiko, dass die Beihilfe zum Suizid unprofessionell durchgeführt wird und zusätzliches Leid verursacht? Und nicht zuletzt: Welche Option können Menschen haben, die vereinsamt leben? So richtet sich der Blick unweigerlich auch auf das medizinische Personal, in erster Linie auf die Ärzteschaft. Die praktizierende Katholikin Christiane Woopen – Gynäkologin, Professorin für Medizinethik und Vorsitzende des Deutschen Ethikrates –  hat in einem Interview mit dem Spiegel diese Blickrichtung befürwortet:

„Spiegel: Würden Sie aufgrund Ihrer Erfahrung sagen: Es ist in jedem Fall möglich, einen Patienten mit Sterbewunsch durch intensive Beschäftigung von diesem Wunsch abzubringen? Woopen: Das würde ich mir nicht anmaßen. Ich halte es für möglich, dass trotz intensiver Begleitung, idealer palliativmedizinischer Betreuung und hervorragender psychologischer Begleitung Menschen zu der Überzeugung kommen, dass das für sie der richtige Weg ist. Spiegel: Und dann sollten sie ihn auch gehen können? Woopen: Ja. Spiegel: Mit Hilfe ihres Arztes? Woopen: Wenn der Arzt es mit seinem Gewissen vereinbaren kann: Ja. Dazu gehört zuvor, dass es in einer langen Beziehung zum Patienten intensive Gespräche gibt, in denen der Arzt zusammen mit einem Psychologen oder Seelsorger sehr achtsam hinhört, wie man die Hoffnungslosigkeit überwinden und dem Todeswunsch begegnen kann. Spiegel: Die organisierte Ärzteschaft sieht das bislang anders. Ihre Berufsordnung verbietet es Ärzten, Patienten beim Suizid zu helfen. Woopen: Beihilfe zur Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe. Aber der Arzt kennt den Patienten und seine Situation am besten. Deshalb sollte der Arzt als Ansprechpartner zur Verfügung stehen und nicht irgendein Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, zum Tod zu verhelfen. Um den Arzt zu stärken, müsste die Ärzteschaft aber die ärztliche Gewissensentscheidung unter bestimmten Voraussetzungen ausdrücklich anerkennen.“ 

In der deutschen Ärzteschaft ist diese Position strittig. Die Bundesärztekammer hatte auf dem Deutschen Ärztetag im Jahr 2011 den § 16 „Beistand für Sterbende“ der Musterberufsordnung (MBO) neu gefasst: „Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Diese Änderung der MBO wurde durch die Landesärztekammern, deren Ordnungen allein letztlich verbindlich sind, inzwischen unterschiedlich umgesetzt. Zehn von siebzehn Landesärztekammern haben das strikte Verbot der Musterberufsordnung übernommen. Die Situation der Uneinigkeit in einer so zentralen Frage ist unbefriedigend. Deshalb muss nicht zuletzt auch im Blick auf den Meinungsbildungsprozess in der Ärzteschaft gefragt werden, ob sich Evangelische Kirche und Theologie dem von der Vorsitzenden des Ethikrates empfohlenen Schritt anschließen können.

Bereits die Orientierungshilfe der EKD zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung aus dem Jahr 2008 plädierte vorsichtig im Sinne der ethischen Tradition der „Epikie“ – also der Einzelfallgerechtigkeit – für diese Öffnung.  Klärungsbedürftig blieb jedoch bis heute die Frage, ob und in welcher Form sich der Respekt gegenüber ärztlichen Gewissensentscheidungen in solchen Grenzbereichen auch in der ärztlichen Berufsordnung niederschlagen kann und soll.

Voraussichtlich könnte tatsächlich mit einer solchen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis zielenden und im öffentlichen Bewusstsein verankerten Perspektive dem Unwesen der Organisationen zur Suizidbeihilfe auf wirksame Weise begegnet werden. Diesen Organisationen würde schlicht die Klientel entzogen, wenn Menschen sich auch in der Ambivalenz ihrer Lebens- und Todessehnsucht gut bei ihren Ärzten aufgehoben und vorbehaltlos angenommen wüssten. Und man wird ebenfalls vermuten können, dass diese Option – eine verantwortungsvolle Praxis vorausgesetzt – eher selten in Anspruch genommen würde. Erfahrungen aus dem US-amerikanischen Bundesstaat Oregon deuten in diese Richtung. Bei einer solchen Öffnung muss aber gewährleistet bleiben, dass sie nicht unter der Hand zum Einstieg in die Praxis aktiver Sterbehilfe wird. Zudem darf das Vertrauen in den der Ethik des Lebens verpflichteten Berufsstand der Ärzte bzw. der Ärztinnen nicht Schaden nehmen und ein entsprechendes eindeutiges berufliches Selbstverständnis nicht verunklart werden. Die Beihilfe zum Suizid muss ultima ratio bleiben und kann deshalb niemals – wie bereits der frühere langjährige Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, formulierte – eine reguläre ärztliche Aufgabe sein. Auch Ärzte sollten sie nicht in organisierter Form betreiben dürfen und schon gar nicht darf sie in eine abrechenbare Leistung umschlagen. Wohl aber kann sie als eine persönlich zu verantwortende Tat in einer Grenzsituation in Betracht kommen. Das setzt allerdings auch ein entsprechendes Patient-Arzt-Verhältnis und eine angemessene Beratungspraxis im Alltag der Kliniken und vor allem der Arztpraxen voraus. Zudem müssten – etwa in Form einer Berichts- oder Rechenschaftspflicht – Vorkehrungen getroffen werden, damit tatsächlich aus der ultima ratio kein Regelfall wird  und eine solche Öffnung keine der organisierten Suizidbeihilfe vergleichbaren gesellschaftlichen Wirkungen entfaltet.

Im Blick auf den Suizid und die Beihilfe zum Suizid – das ist die Quintessenz der Überlegungen – würde unsere Gesellschaft somit gut daran tun, einen Raum offenzuhalten, wo nur die Verantwortung des Gewissens vor sich selbst, vor den anvertrauten Mitmenschen und vor Gott zählt. In diesem Raum kann das Recht schweigen. Eine humane Gesellschaft wird diesen Raum aber so umfrieden, dass einerseits den Ängsten der Menschen vor einem unwürdigen Lebensende und einem inhumanen Sterben Raum gegeben wird und andererseits die Humanität einer Gesellschaft selbst nicht Schaden nimmt.

Wie ermöglichen wir ein würdiges Leben am Lebensende und ein humanes Sterben? Das ist die eigentliche Frage an unsere Gesellschaft hinter der Thematik des assistierten Suizids. In der Zuspitzung „Wie wollen wir gemeinsam am Ende leben? Wie will ich sterben?“ richtet sie sich höchst persönlich an jeden Einzelnen. Zu Gesprächen über diese Frage brauchen wir Raum und Zeit – Raum und Zeit in unseren Partnerschaften, Familien, Freundeskreisen, Kirchengemeinden, in der Arzt-Patienten-Beziehung, in unserer Gesellschaft im Ganzen. Erst solche Gespräche werden der Würde des Menschen gerecht und jede politische Lösung wird nur tragen, wenn sie den in solchen Gesprächen zum Ausdruck kommenden Überzeugungen, Ängsten, Gefühlen und individuellen  Wünschen Stand zu halten vermag.