"Von der Freiheit eines Christenmenschen. 500 Jahre Reformation und Demokratie heute"

Rede des Bevollmächtigten zum Reformationskongress der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Anrede,

unter den vielen Räumen des Deutschen Bundestages gibt es einen, der anders ist als alle anderen. Anders als die zahlreichen Sitzungs- und Bürozimmer, anders erst recht als der Plenarsaal. Während im Plenarsaal das Herz der größten Demokratie Europas schlägt, ist es in besagtem Raum ganz still. In der Mitte ein mächtiger Stein, Kunstwerke an den Wänden, 15 schwere hölzerne Stühle. Alle technischen Raffinessen der Sitzungssäle fehlen. Der Raum konzentriert die, die sich hier aufhalten, auf das Wesentliche. Sie ahnen, wovon die Rede ist: vom Andachtsraum des Deutschen Bundestages.

Der Andachtsraum des Deutschen Bundestages symbolisiert auf einzigartige Weise, welche Rolle die Religion in der Bundesrepublik Deutschland spielt. Diese Einsicht verdanke ich Herrn Bundestagspräsidenten Prof. Norbert Lammert. An zentraler Stelle des Hauses, auf einer Ebene mit dem Plenarsaal gelegen und gut ausgeschildert, lässt dieser Raum alle, die das Gebäude betreten, wissen: Dieser Staat ist kein laizistischer Staat, sondern er versteht sich selbst im religiösen Kontext. Insofern ist der Andachtsraum so etwas wie die architektonische Umsetzung der Präambel des Grundgesetzes: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Mit dieser Formulierung, und hier ist nicht allein der Verweis auf Gott, sondern auch die Reihenfolge Gott – Mensch entscheidend, zogen die Väter des Grundgesetzes die Konsequenz aus der unmittelbar zuvor erlebten zügellosen Selbsterhebung von Menschen über andere Menschen und aus den katastrophalen Folgen dieser Verirrung für Deutschland, Europa und die Welt.

Zugleich lässt der Andachtsraum erkennen, dass in der Bundesrepublik Deutschland Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaften getrennt sind. Es handelt sich nämlich weder um eine Kapelle noch um eine Synagoge noch um eine Moschee. Das alles kann der Raum werden, wenn Christen, Juden oder Muslime ihn zum Gottesdienst oder zur persönlichen Andacht nutzen. Insofern ist der Andachtsraum so etwas wie die bauliche Visualisierung des deutschen Religionsverfassungsrechtes: Der säkulare Staat gibt den Religionen seiner Bürgerinnen und Bürger Raum, füllt diesen Raum aber nicht selbst. Das müssen seit der Trennung von Staat und Kirche die Religionsgemeinschaften tun.

Der Andachtsraum ist ein Ort der Freiheit. Der Abgeordnete und die Praktikantin, der Saaldiener und die Bundeskanzlerin – sie alle können in diesen Raum eintreten und so  für einen Moment aus ihren Alltagsbezügen, aus Abhängigkeiten, Verantwortlichkeiten und Loyalitäten heraustreten. Im Gottesdienst oder in stiller Einkehr können sie den Parlamentsbetrieb und sich selbst in einem anderen Licht betrachten und vor wichtigen Entscheidungen ihr Gewissen prüfen. Was für die Nutzerinnen und Nutzer des Andachtsraumes gilt, gilt für alle Bürgerinnen und Bürger. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat schreibt ihnen nicht vor, woran sie zu glauben und woran sie ihr Gewissen zu prüfen haben. Stattdessen bietet er ihnen Freiräume an, in denen sie sich selbst darüber klar werden und sich dessen vergewissern können, was sie im Leben trägt und orientiert.

Von Freiräumen handelt auch eine der wichtigsten Schriften Martin Luthers: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Das Thema dieses Kongresses nimmt auf diese Schrift Bezug. Ist die Freiheit, von der der Reformator im Jahr 1520 schreibt, identisch mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die die Bundesrepublik Deutschland ihren Bürgerinnen und Bürgern gewährt? Ganz sicher nicht. Es führt kein direkter Weg von Luthers Freiheitsschrift zur freiheitlichen Demokratie und zum deutschen Religionsverfassungsrecht. Insbesondere bedurfte es der Aufklärung, um den Staat als säkularen Staat verstehen zu können. Und es bedurfte der institutionellen Trennung von Thron und Altar. Dennoch gibt es Bezüge und Verbindungslinien zwischen Martin Luther, dem Andachtsraum im Deutschen Bundestag und dem, was dieser Raum symbolisiert…

Mit seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ reagierte Luther auf die Veröffentlichung der päpstlichen Bannandrohungsbulle, die mit ziemlicher Sicherheit die Reichsacht und damit die gesellschaftliche Rechtlosigkeit Luthers nach sich ziehen würde. Die Schrift ist ein furioses Bekenntnis zur Freiheit im Glauben – und zugleich eine Verpflichtung zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Ihre beiden Hauptthesen lauten: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan“. Und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan“. Unter Berufung auf die Evangelien und die Briefe des Apostels Paulus beschreibt Luther den Glauben als eine Erfahrung der Freiheit: „Denn dies ist eine geistliche Herrschaft, die da regiert in der leiblichen Unterdrückung, das ist: ich kann mich ohn alle Dinge bessern nach der Seele, so dass auch der Tod und Leiden müssen mir dienen und nützlich sein zur Seligkeit. Das ist eine gar hohe, ehrenvolle Würdigkeit und eine wirklich allmächtige Herrschaft, ein geistliches Königreich, da kein Ding ist so gut, so böse, es muss mir dienen zu gut, wenn ich glaube, und bedarf sein doch nicht, sondern mein Glaube ist mir genugsam. Siehe, wie ist das eine köstliche Freiheit und Gewalt der Christen!“ 

Diese Überzeugung verleiht Martin Luther ungeahnte Kräfte. Im darauffolgenden Jahr 1521 weigert er sich auf dem Reichstag zu Worms vor dem Kaiser und den versammelten Fürsten des Reiches, seine Lehre zu widerrufen. Wenn er „nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde“, werde er nicht widerrufen, sagt der Reformator und weiter: „Und solange mein Gewissen in Gottes Worten gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen!" (Die als Aufschrift auf Lutherdevotionalien gern zitierten Worte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ hat Luther vermutlich nicht wörtlich so ausgesprochen, er hätte sie aber im Bewusstsein seiner im Glauben gegründeten Freiheit durchaus sagen können.)

Die Freiheit eines Christenmenschen hat nicht nur Martin Luther mutig gemacht. Auch Spätere schöpften aus der im Glauben begründeten Freiheit die Kraft, gegen Missstände und Unrecht aufzubegehren, so aussichtslos der Widerstand auch scheinen mochte. Als ein Beispiel von vielen sei an den Widerstand vieler Christinnen und Christen in der DDR erinnert. In diesem System der Unfreiheit waren die Kirchen Orte der Freiheit. Hier war der Einzelne den Ansprüchen des Systems weitgehend entzogen, hier war Raum zu Reflexion, Meditation und Gebet. Und: Hier wurde zivilgesellschaftliches Engagement eingeübt und unter den Bedingungen einer Diktatur Demokratie gelernt. Die Kirchen waren Orte, an denen kontroverse Diskussionen möglich waren und kritische Themen wie Redefreiheit, Umweltzerstörung, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, politische Mitbestimmung erörtert wurden. Missstände wurden offen benannt, Reden gehalten, die Widerrede ausgehalten, gestritten, dazu Flugblätter gedruckt, Mahnwachen gehalten, Gelder gesammelt, Verfolgten Schutz gewährt… Es ist deshalb kein Zufall, dass die evangelische Kirche in der friedlichen Revolution im Herbst 1989 eine nicht unerhebliche Rolle spielte und dass nach der deutschen Vereinigung viele evangelische Christen sich für den Aufbau des demokratischen Gemeinwesens einsetzten.

Die Erinnerung an Luthers (Wieder-)Entdeckung der Freiheit eines Christenmenschen ist geeignet, 500 Jahre später auch uns Mut zu machen. Mut, einen Schritt zurückzutreten, die Abhängigkeiten, Gesetzmäßigkeiten und Zwänge, denen wir uns unterworfen sehen, nüchtern zu betrachten, und uns von Gott in die Freiheit rufen zu lassen. Für Menschen in politischer Verantwortung bedeutet das, frei zu bleiben oder frei zu werden von den Abhängigkeiten und Loyalitäten, die im täglichen Politikbetrieb die Gewissensfreiheit einzuschränken drohen, und nüchtern zu prüfen, ob das, was als Sachzwang erscheint, wirklich ein solcher ist. In einer weiteren Perspektive gilt es, im Angesicht von Globalisierung und Digitalisierung, die der Politik deutliche Grenzen setzen, Handlungsspielräume für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens zu erhalten bzw. wiederzugewinnen. Jene, die kirchliche Verantwortung tragen, haben zuerst und vor allem die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen allen Menschen auszurichten. Dabei haben sie zu zeigen, was die in Christus gegründete Freiheit von jener Beliebigkeit unterscheidet, mit der in unserer Gesellschaft die Freiheit oft verwechselt wird. Das führt uns zu Luthers zweiter These: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“

Die reformatorische Erinnerung an die Freiheit eines Christenmenschen wurde schon bald nach Luther politisch missbraucht, sei es um die Errichtung von Terrorherrschaften zu legitimieren wie im Täuferreich von Münster oder um – wie in den Konfessionskriegen - eigene territoriale Interessen durchzusetzen. Solchen Missbrauch der Freiheit gibt es bis heute. Luther selbst allerdings hat – ganz in der Tradition des Apostels Paulus - die Existenz des glaubenden Menschen in ein Spannungsfeld zwischen zwei Polen eingezeichnet: Freiheit und Verantwortung, Freiheit von… und Freiheit zu... Deshalb gilt für Luther die These „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan.“ nur in Verbindung mit der zweiten These, die das Gegenteil zu behaupten scheint: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“ Auf diesen unauflöslichen Zusammenhang weist auch die CDU-Vorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, in einem Beitrag für den Berliner Tagespiegel vom 5. Mai 2017 hin: „Für mein politisches Leben waren und bleiben die ersten Sätze aus Luthers Freiheitsschrift prägend: ‚Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.‘ Und zugleich: ‚Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.‘ Die von Gott geschenkte Freiheit macht den Einzelnen frei gegenüber physischer Gewalt anderer, aber auch von Sozialzwängen aller Art. Zugleich aber verwirklicht sich diese Freiheit in der Verantwortung für andere.“

Wenn Luther von Freiheit spricht, dann spricht er von der Freiheit im Glauben. Der Glaube weiß sich an die Heilige Schrift gebunden. Die Heilige Schrift wiederum bezeugt, dass Gott sich der Welt in Jesus Christus offenbart hat. In dem, der seinen Jüngern die Füße wusch und sie aufforderte, es ihm nachzutun und den anderen Menschen zu dienen: „Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ (Joh 13, 15) Dieses Dienen versteht Luther nicht als eine Leistung und erst recht nicht als einen Zwang, dem der Glaubende zu gehorchen hat. Luther ist vielmehr fest davon überzeugt, dass, wer wirklich an Christus glaubt, dem anderen Menschen dienen will: „Sieh, so fließet aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein frei, willig, fröhlich Leben, dem Nächsten zu dienen umsonst.“

Was das für die Gesetzgebung in einem demokratischen Rechtsstaat bedeutet, sei kurz am Beispiel der Entscheidung des Deutschen Bundestages zum ärztlich assistierten Suizid erläutert. Jene, die die Legalität des assistierten Suizides betonten, argumentierten mit der Freiheit des Einzelnen: Jeder leidende Mensch habe das Recht, in aller Freiheit seinem Leiden ein Ende zu setzen und dazu ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Argumentation leuchtet vielen Menschen ein, auch wenn Christen einwenden, dass das Leben doch ein Geschenk Gottes ist, über das Menschen nicht frei verfügen. Noch wichtiger ist aber ein anderer Einwand: Wenn der Suizid zu einer gesellschaftlich akzeptierten Möglichkeit würde, das Leben zu beenden, würde die Freiheit schwerstkranker und leidender Menschen gerade nicht geschützt sondern eingeschränkt. Aus der Tatsache, dass sie auf andere Menschen angewiesen sind und Kosten verursachen, würde Druck entstehen, und diese Menschen müssten sich womöglich dafür rechtfertigen, weiter leben zu wollen. Der Bundestag hat mit seiner Entscheidung, die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe zu stellen, im übrigen aber den Freiraum von Ärzten und Patienten nicht einzuschränken exakt dem Spannungsfeld entsprochen, in dem Martin Luther den Christenmenschen sieht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan“. Und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.“

Dieses Spannungsfeld ist auch abzuschreiten, wenn es um die Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen geht. Wiederum argumentieren die Befürworter großzügiger oder gar schrankenloser Öffnung von Geschäften an Sonn- und Feiertagen mit der Freiheit des Einzelnen: Warum soll der Einzelne nicht dann einkaufen dürfen, wann es ihm in den Tages- und Wochenrhythmus passt oder wann es ihm gefällt? Luthers erste These zur Freiheit scheint ihnen Recht zu geben. Aber die zweite These gehört eben dazu. Die Freiheit, die Luther in seiner Schrift meint, bindet sich freiwillig an das Wohl des Nächsten. Deshalb ist bei der Frage des Schutzes der Sonn- und Feiertage in Rechnung zu stellen, dass die völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten vielen Menschen schaden würde. Die, die regelmäßig arbeiten müssten, weil andere ihre Freiheit ausleben wollen, könnten jedenfalls weniger freie Zeit mit ihren Familien zusammen verbringen. Letztendlich aber verlöre die gesamte Gesellschaft ein kostbares Kulturgut. Sonn- und Feiertage sind ja nicht nur Tage der Erholung und gemeinsam verbrachter Zeit. Sie signalisieren zugleich in regelmäßigen Abständen, dass der Mensch mehr ist, als was er zu leisten oder zu kaufen imstande ist. Der grundgesetzlich garantierte Schutz der Sonn- und Feiertage konkretisiert also das Bekenntnis zur unantastbaren Menschenwürde, mit dem das Grundgesetz beginnt. Die Länder und Kommunen sollten deshalb bei jeder Einschränkung des Schutzes der Sonn- und Feiertage sorgfältig darauf achten, dass sie die von Martin Luther beschriebene Spannung nicht nach einer Seite hin auflösen.

Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ ist also nach 500 Jahren unverändert aktuell und gibt nicht nur dem einzelnen Christen, sondern auch dem demokratisch verfassten Gemeinwesen wichtige Impulse. Was für diese einzelne reformatorische Schrift zutrifft, gilt für die gesamte Reformation: Sie ist für die heutige Demokratie von nicht unerheblicher Bedeutung. Mit ihrer Betonung der Freiheit des Einzelnen im Glauben und im Denken war sie ohne Frage ein Meilenstein auf dem Weg zur Entwicklung der Menschenrechte, insbesondere der Religions- und Meinungsfreiheit. Mit ihrer Infragestellung von Hierarchien und dem Prinzip der gemeinschaftlichen Leitung von Kirche wies sie in Richtung der Partizipation an politischen Prozessen, wie sie für die Demokratie kennzeichnend ist. Mit ihrer Forderung nach flächendeckendem Unterricht für Jungen und Mädchen legte sie eine zarte Spur in Richtung Gleichberechtigung der Geschlechter. Auch weil die Reformation für die Demokratie wichtig war und ist, unterstützt unser demokratischer Staat die Kirchen bei der Ausrichtung des Reformationsjubiläums in diesem Jahr und engagiert sich auch selbst, zum Beispiel mit den nationalen Ausstellungen auf der Wartburg, in Wittenberg und hier in Berlin. Nicht zuletzt wird der Beitrag der Reformation auch für die Demokratie dadurch gewürdigt, dass der 31. Oktober 2017 in allen Bundesländern gesetzlicher Feiertag ist.

Bei alledem ist aber im Blick zu behalten, dass Martin Luther kein Demokrat und die Reformation keine Demokratiebewegung war. Das war auch nicht zu erwarten: Luther war ein Kind seiner, die Reformation ein Kind ihrer Zeit. Welch großer Abstand zwischen Luther und unserem demokratischen Rechtsstaat besteht, lässt sich an seinem Verhältnis zu den Juden besonders deutlich erkennen: In seinen frühen Jahren sprach der Reformator – trotz der allgemein vorherrschenden Judenfeindschaft selbst unter großen Zeitgenossen wie Erasmus von Rotterdam -  bemerkenswert positiv von den Juden, um dann 20 Jahre später in unbeschreiblicher Weise gegen sie zu hetzen. Die Ausstellung auf der Wartburg sowie eine weitere in der Topographie des Terrors hier in Berlin zeigen, dass und wie Luthers Antisemitismus von der nationalsozialistischen Diktatur zur eigenen Legitimation benutzt wurde. Sodann unterscheidet sich Luthers Einstellung zu den Bauernaufständen fundamental von der Art und Weise, wie in einer Demokratie idealerweise Konflikte bearbeitet werden. Bekanntlich befürwortete er die Niederschlagung der Aufstände und rief zum „Stechen und Würgen“ der Bauern auf. Und schließlich: Auch wenn Luther die Bildung der Mädchen forderte, so war doch sein Frauenbild weit von dem entfernt, was etwa im Grundgesetz niedergelegt ist.

So wenig wie Martin Luther ein Demokrat war, so wenig führte die Reformation als Ganze umstandslos zur Demokratie, wie wir sie heute kennen und schätzen. Im Gegenteil: Zwischen der Entdeckung der Freiheit eines Christenmenschen und der neuzeitlichen  Demokratie fanden die blutigen Konfessionskriege statt, und es bedurfte des Westfälischen Friedens, der Aufklärung und der institutionellen Trennung von Thron und Altar, bevor Deutschland ein säkularer, freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat werden konnte.

Frau Grunwald, die die anschließende Podiumsdiskussion moderieren wird, hat die Diskutanten im Vorfeld gebeten, den Einfluss der Reformation auf unsere moderne Demokratie einzuschätzen. Auf einer Skala von 1 bis 5, sollte, wer diesen Einfluss für sehr hoch hält, eine 1 und wer ihn sehr niedrig einschätzt, eine 5 vergeben. Nach dem zuletzt Dargelegten scheint mir ein Mittelwert angezeigt - soweit es die historischen Linien und Bezüge betrifft.

Allerdings schauen wir im Jahr des 500. Jubiläums der Reformation ja nicht nur zurück. Die Frage heißt also nicht nur: Hat die Reformation unsere moderne Demokratie beeinflusst und wenn ja, in welchem Maße? Die Frage heißt auch: Welchen Einfluss kann die Reformation für die Gestaltung des demokratischen Gemeinwesens noch gewinnen? Hier allerdings schießt der von mir vergebene Wert in die Höhe. Die Demokratie braucht Menschen mit einer bestimmten Haltung. Es ist die Haltung der Unerschrockenheit und der Verantwortungsbereitschaft, wie sie Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ beschrieb und selbst vorlebte. Ich bin davon überzeugt, dass diese Haltung demokratischen Entscheidungsprozessen Richtung und Ziel geben kann und gibt – so wie sich das bei den Entscheidungen zum ärztlich assistierten Suizid oder zum Sonn- und Feiertagsschutz beobachten ließ. Damit diese Haltung der Unerschrockenheit und der Verantwortungsbereitschaft sich entwickeln kann, bietet unser Staat Freiräume an, für die der Andachtsraum in diesem Haus ein Symbol ist. Die Kirchen sind fest entschlossen, diesen und andere Räume auch weiterhin zu füllen. Insofern bin ich, was den künftigen Einfluss der Reformation auf die Demokratie betrifft, sehr zuversichtlich.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.