Den Sonntag schützen - eine Aufgabe für Recht und Religion

Januar 2011, Pfr. Patrick Roger Schnabel, Gemeindebrief Brüssel

Tag des Herren, Tag der Menschen: Zur aktuellen Bedeutung des Sonntags

Mit meiner Betrachtung aus rechtlicher und (europa-)politischer Sicht knüpfe ich gern an die theologischen und persönlichen Reflexionen an, die diesem Beitrag vorausgegangen sind. Denn darum geht es: Recht und Politik müssen an die Bedürfnisse und die Lebenswirklichkeit der Menschen anknüpfen, um plausibel und legitim zu sein. So wurde die Frage aufgeworfen, welche Bedürfnisse eigentlich besonders schützenswert sind: Konsumbedürfnisse allein – oder gibt es mehr?

In der Regel ist dort besonders nach staatlicher Regelung gefragt, wo verschiedene Interessen aufeinander stoßen. Kriterium der Regelung ist, so hoffen wir, ein besonderer Gemeinwohlbezug. Religion – als selbst gemeinwohlorientierte Kraft – kann und will darin unterstützen. Religiöse Argumente sind dabei schon aufgrund der Vielzahl religiöser Bürgerinnen und Bürger auch  als solche beachtlich und erlangen noch eine höhere Plausibilität, wenn es gelingt, sie in die Sprache von Recht und Politik zu übersetzen, ihren allgemeinen Nutzen für die Menschen herauszustellen, sie also – in einem positiven Sinne – zu säkularisieren.

Den Sonntag heiligen: Eine Aufgabe der Religion

Eine Rolle darf dabei schon spielen, dass es sich beim Sonntag um eine kulturelle Errungenschaft handelt, die eine Geschichte von mehreren tausend Jahren hat. Doch auch ihre biblische Begründung – die immerhin in drei Weltreligionen rezipiert wird – ist übersetzbar. Sie lässt sich auf die Formel bringen, dass im Leben die Arbeit überwiegt, aber die Muße, die Ruhe, die Kontemplation ihre Zeit haben müssen – eine feste Zeit. Die Menschen haben einen Anspruch auf diese Erholungsphase, die aber auch als Pflicht verstanden wird. Das geht nicht anders: menschliches Zusammenleben, menschliche Gesellschaft funktioniert arbeitsteilig. Man kann nicht nur für sich arbeiten, man zieht automatisch andere mit hinein. In der aktuellen Diskussion etwa in Frankreich kann man sehen, dass natürlich Rufe laut werden, auch Kinderbetreuung am Sonntag zu gewährleisten, wenn mehr und mehr Menschen im Verkaufsgewerbe ihren Dienst tun müssen. Eins zieht das andere nach sich. Damit die einen ihren Anspruch geltend machen können, müssen alle ruhen. Und alle ist – biblisch verstanden – umfassend gemeint: Die Sonntagsruhe ist kein Bürgerrecht, sondern ein Anspruch, der mit der eigenen Geschöpflichkeit aufs engste verbunden ist. Er gilt deshalb sogar für Sklaven und Tiere (Ex 20:10-12; auch Ex 23:12).

So unglaublich das klingt: Dieser Sonntag ist uns heute zur oft schweren Pflicht geworden. Wir sind so eingespannt in unsere anderen Verpflichtungen, in den Rhythmus einer immer enger getakteten Welt, die in der ständigen Bedrohung steht, alle erkennbaren Rhythmen und Zyklen zu verlieren. Kaum etwas um uns ruht – und darum sind wir dann am unruhigsten, wenn wir ruhen sollen. Und es gibt immer gute Gründe, warum man auch am Sonntag „schaffen“ muss: Paradoxerweise habe ich selbst schon am Sonntag im Büro gesessen, um Papiere einer europäischen Sonntagsschutzkampagne abzuarbeiten, an der die EKD sich beteiligt. Doch gute Gründe gab es schon immer und der Sonntag wird dem ganz bewusst entgegen gehalten: “Selbst in der Pflügezeit und in der Ernte sollst du ruhen.“ (Ex 34:21).

Doch man muss aufpassen. Auch, wenn richtig ist, dass gerade beim Sonntag Recht auf und Pflicht zu schon deshalb zusammenhängen, weil das Recht derer, die den Sonntag halten wollen, durch die Tätigkeit jener, die das nicht wollen, systematisch ausgehöhlt wird: Wir dürfen nicht in eine schematische Gesetzlichkeit verfallen, die uns den Sonntag zur Last werden lässt: “Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbat willen“  (Mk 2:27). Vielmehr müssen wir uns bemühen, den Sonntag – ob mit Kirchgang oder ohne – so zu füllen, dass wir ihn als Geschenk wieder entdecken. Wir haben am Sonntag die Chance, einen Tag so zu gestalten, wie wir möchten. Wirklich Zeit zu haben – für uns und andere. Zeit, die wir uns nicht nehmen müssen (und es dann doch nicht schaffen), sondern Zeit, die da ist. Zeit, die nicht genutzt werden muss, sondern die auch mal ganz ungenutzt bleiben kann. Der Sonntag eröffnet Freiräume, schenkt Freiheit. Doch die Freiheit, etwas tun oder lassen zu können, korreliert auch mit der Freiheit von bestimmten Zwängen. So spielt die Freiheit von den Zwängen ökonomischer Produktions- und Konsumzusammenhänge eine nicht unwesentliche Rolle: Kaum eine andere Macht nimmt uns heute so sehr in Anspruch und definiert unsere Bedürfnisse wie die Wirtschaft. Der Sonntag ist und bleibt hier auch eine Leerstelle für „das andere“. Das sollte man auch ohne biblischen Hintergrund und ohne persönlichen Gottesbezug verstehen.

Den Sonntag schützen: Eine Aufgabe des Rechts

Deshalb ist der Sonntag „mit gutem Recht“ Gegenstand der Gesetzgebung. Sein Freiheitsgewinn dient nicht nur den religiösen Menschen. So wie er im alten Israel nicht nur Bürgerrecht war, sondern allen Geschöpfen zu gute kommen sollte, so ist er heute auch nicht nur ein Recht der Frommen. Der Sonntag geht in seinen religiösen Bezüge nicht auf, sondern hat auch einen für alle bleibend gültigen Sinngehalt:  Dem Sonntagsschutz „ist damit ein religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt eigen, der mit einer dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung einhergeht.“ So hat es das Bundesverfassungsgericht formuliert. Denn im deutschen Grundgesetz heißt es: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ (Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV).

Das Bundesverfassungsgericht hat erst vor einem Jahr, am 1. Dezember 2009, hervorgehoben, dass das auch ganz konkrete Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben haben muss – und zwar am Beispiel des Ladenschlussgesetzes. Denn die Frage, ob die Geschäfte geöffnet haben oder geschlossen sind, so das Gericht, bestimme maßgeblich das öffentliche Bild des Tages. Damit würden notwendig auch diejenigen betroffen, die weder arbeiten müssen noch einkaufen wollen, sondern Ruhe und seelische Erhebung suchen.

Obwohl der gesetzliche Sonntagsschutz auf diesem Niveau eine wohl einmalige Errungenschaft der deutschen Verfassungskultur ist, findet er sich faktisch in unterschiedlichen Graden in ganz Europa und darüber hinaus. Oftmals korrelieren rechtlicher Befund und gesellschaftliche Praxis nicht einmal: In Ländern ganz ohne gesetzliche Regelung kann der Prozentsatz der tatsächlich arbeitenden Arbeitnehmer geringer sein als in Ländern, die zwar Sonntagsschutzgesetze haben, aber durch viele Ausnahmen bestimmte Sonntagsarbeit erlauben. So wird man in London am Sonntagnachmittag eine sehr geschäftige Oxford-Street sehen können, aber schon in den Nebenstraßen keinen geöffneten Supermarkt mehr finden. An der Nord- und Ostseeküste Deutschlands hingegen, wird man in einem breiten Streifen „touristisch relevante“ Läden  aller Art antreffen, die durch ihr öffnen nach eigenem Verständnis (und dem mancher Gesetzgeber) die Erholung der Urlauber erst ermöglichen.

Weil aber der Sonntag in der einen oder anderen Form und Intensität ein gemeineuropäisches Gut ist, war er ursprünglich auch im Gemeinschaftsrecht geschützt. So sah die EU-Arbeitszeitrichtlinie von 1993 vor, dass die wöchentliche Ruhezeit in der Regel auf den Sonntag fallen solle. Doch das Vereinigte Königreich – notorisch euroskeptisch – wollte die ganze Richtlinie anfechten, weil es keine Gemeinschaftskompetenz gegeben sah. Anders als ein Staat kann die EU ja nicht alles gesetzlich regeln, was sie für regelungswürdig hält, sondern nur in den Bereichen handeln, in denen ihr die Mitgliedstaaten eine explizite Handlungsermächtigung erteilt haben. Entgegen der Auffassung der Briten befand der Europäische Gerichtshof, dass die EU sehr wohl das Recht habe, die Arbeitszeit zu regeln. Sie habe schließlich eine Kompetenz für den Arbeitsschutz. Lediglich über die Vorschrift zum Sonntag stolperten die Richter und erklärten diesen einen Absatz der Richtlinie für nichtig, denn Kultur- oder gar Religionszuständigkeit hat die EU nicht. Die Richter schlossen zwar nicht aus, dass ein Zusammenhang zum Arbeitnehmerschutz bestehen könne, erklärten aber, dieser sei vom Gesetzgeber nicht wie erforderlich dargelegt worden.

Das Gericht hat also nicht befunden, dass der Sonntag nicht geschützt werden darf. Die Frage ist nur, auf welcher Ebene. Mit nationalem Sonntagsschutz hat der EuGH nie ein Problem gehabt. Im Gegenteil: Über die Jahrzehnte wurden immer wieder Klagen von Unternehmen abgewiesen, die ihre Wettbewerbsposition im Binnenmarkt dadurch gefährdet sahen, dass ihr Heimatstaat einen strengeren Sonntagsschutz hat als andere. Hier erklärten die Richter regelmäßig, dass Mitgliedstaaten den Sonntag schützen können und dadurch möglicherweise entstehende Nachteile in Kauf genommen werden müssen.

Will dies auch der europäische Gesetzgeber tun, so muss er plausibel darlegen, warum es eine entsprechende EU-Regelung geben sollte. Eine solche Erklärung wurde niemals nachgeliefert. Doch das ist durchaus möglich: In dem bereits angeführten Urteil des Bundesverfassungsgerichts finden sich sehr erhellende Ausführungen zur individuellen und gesellschaftlichen Schutzfunktion des Sonntags. Dort heißt es (etwas gekürzt): „Mit der Gewährleistung rhythmisch wiederkehrender Tage der Arbeitsruhe konkretisiert Art. 139 WRV überdies das Sozialstaatsprinzip. Die Arbeitsruhe dient der physischen und psychischen Regeneration und damit der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 GG). Die Statuierung gemeinsamer Ruhetage dient dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG). Auch die Vereinigungsfreiheit lässt sich so effektiver wahrnehmen (Art. 9 GG). Der Sonn- und Feiertagsgarantie kann schließlich ein besonderer Bezug zur Menschenwürde beigemessen werden, weil sie dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient. Während die Arbeitszeit- und Arbeitsschutzregelungen jeweils für den Einzelnen Schutzwirkung entfalten, ist der zeitliche Gleichklang einer für alle Bereiche regelmäßigen Arbeitsruhe ein grundlegendes Element für die Wahrnehmung der verschiedenen Formen sozialen Lebens.“

Den Sonntagsschutz erhalten: unsere Aufgabe

Damit diese Erkenntnisse sich auch auf europäischer Ebene durchsetzen, hat sich eine breite Bewegung aus Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Kirchen gebildet, die die „Sonntagsallianzen“, wie sie in vielen Ländern existieren, auf die europäische Ebene übertragen will. Als „Europäische Allianz für den freien Sonntag“ will sie die Überzeugungsarbeit leisten, dass der Sonntag in einem engen Sachzusammenhang zu erklärten Politikzielen der EU steht, insbesondere Arbeitnehmerschutz und besserer Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Ob es gelingt, die Vorschrift wieder in der Arbeitszeitrichtlinie zu verankern, ist fraglich. An dem Streit um die Höchstarbeitszeit pro Woche, der Rat und Parlament entzweit, ist schon ein Revisionsversuch gescheitert. Die Dienstleistungsgewerkschaften sehen im Sonntagsschutz ein wichtiges, aber nicht ihr oberstes Ziel, anderen Branchenarbeitnehmervertretern liegt er wenig am Herzen. Dennoch  ist es ein ermutigendes Zeichen, dass es diese Bemühungen gibt, dass nationale Gruppen sich europäisch verbünden, um dieses uralte und unersetzliche Kulturgut zu schützen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Der christliche Beitrag kann auch darin liegen, dass wir glauben, dass nicht alles Gelingen allein an uns liegt. Dieser Satz ist dann nicht mehr vollständig „für die Welt“ übertragbar – der Sonntag schon.