Römer 8, 31b-39

Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

Gnade sei mit euch und Friede von dem der da war und der da ist und der da kommt. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,

„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ schreibt der dänische Philosoph, Essayist, Theologe und religiöse Schriftsteller Søren Kierkegaard. An diesem Altjahrsabend wollen wir zunächst die Schau nach rückwärts wagen und zu verstehen versuchen, was wir 2015 erlebt haben. Dabei lassen wir uns von den überschwänglichen Worten leiten, die Paulus an die Gemeinde in Rom richtet. In dem Abschnitt, den wir gerade als Epistellesung hörten, heißt es: „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“

Von Trübsal, Angst und Verfolgung spricht der Apostel zunächst. Jedes dieser Stichworte dürfte uns an Erlebtes oder Erlittenes denken lassen…

Trübsal. Mancher von uns wird in dem zu Ende gehenden Jahr persönliches Leid erfahren haben. Die eine hat eine Trennung verkraften müssen: „Ich verlasse dich und ziehe zu einer anderen Frau.“ Ein anderer trauert, weil der Tod ihm einen geliebten Menschen genommen hat. Einen dritten hat die schlechte Stimmung am Arbeitsplatz selbst über Weihnachten nicht losgelassen. Und dann war da der Streit mit dem Sohn, der nicht beigelegt werden konnte. Möge es neben der Trübsal auch gute und freudige Erfahrungen gegeben haben: dass eine Freundschaft neu entstanden, ein Fest gelungen ist, ein Projekt abgeschlossen werden konnte…

Angst. Von Angst und noch mehr von Sorge war im vergehenden Jahr oft die Rede. Von der Sorge, ob wir das wirklich schaffen, so viele Flüchtlinge nicht nur kurzfristig zu versorgen, sondern langfristig in unsere Gesellschaft aufzunehmen. Ich verstehe diese Sorge: Hunderttausende von Menschen anderer Sprache, Kultur und Religion werden unser Land und unsere Lebensweise stark verändern. Gut, dass es in diesem Jahr auch Menschen gegeben hat, die uns an unsere Kraftquellen erinnert haben. An die Kräfte, die wir Deutschen nach dem Krieg und nach der Wiedervereinigung mobilisiert haben. Und an die Kraft, die aus dem Glauben kommt. Aus dem Glauben an den Gott, der uns in allem Wandel gnädig zugewandt bleibt…

Verfolgung. Deutlicher als in früheren Jahren haben wir in den letzten Monaten wahrgenommen, dass Christen um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Wir beten für sie und versuchen den Kontakt zu ihnen zu halten. Und sehen zugleich mit Entsetzen auch die vielen anderen Menschen, die gefoltert, vertrieben oder ermordet werden, weil sie einer ethnischen, kulturellen oder religiösen Minderheit angehören…

Hunger und Blöße nennt Paulus sodann. Darunter leiden in unserem Land die wenigsten. Fast alle haben zu essen und können sich kleiden. Das ist alles andere als selbstverständlich und Anlass zu großer Dankbarkeit. Gleichwohl können wir nicht übersehen, dass in vielen Familien Armut herrscht. Vor allem fehlt es Kindern und Jugendlichen an Bildung. Ja, und es gibt auch unbehauste Menschen in unserem reichen Land. Nur wenige hundert Meter von hier leben viele von ihnen. Diese Menschen dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, jetzt, da so viele andere Hilfsbedürftige zu uns kommen…

Und schließlich: Gefahr und Schwert.

Dass wir in Gefahr sind, das haben uns die Terroranschläge bei unseren französischen Nachbarn deutlich empfinden lassen. Sicherheitsexperten sagen, dass auch Deutschland im Visier islamistischer Terroristen ist. Diese konkrete Gefahr lässt uns etwas Grundsätzliches spüren. Sie lässt uns spüren, dass wir unser Leben nicht bis ins Letzte sichern können, dass wir verletzlich sind und angreifbar…

Das Schwert meint den Krieg. Auch der ist uns wieder einmal bedrohlich nahe gerückt.  Dass die Bundesregierung und das Parlament die Bundeswehr einsetzen, um den IS-Terror zu bekämpfen, ist sicher eine verantwortete Entscheidung. Trotzdem bleiben ein beklommenes Gefühl und viele Fragen: Wird die Gewalt neue Gewalt hervorbringen? Wann ist die Gefahr, die bekämpft werden soll, gebannt? Und vor allem: Wann kann das Schwert wieder in die Scheide? Oder ohne Bild gesprochen: Wann kommen unsere Soldaten zurück?

„Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ Die Frage, die Paulus hier aufwirft, ist eine rhetorische Frage. Eine Frage also, die die Antwort bereits in sich trägt. Und diese Antwort heißt: Nichts und niemand wird uns von der Liebe Christi scheiden! Was immer wir im vergehenden Jahr erlebt und erlitten haben: Nichts davon kann uns von Christi Liebe trennen. Warum Paulus da so sicher ist? Weil die Liebe Christi zu uns so stark ist wie menschliche Liebe es nicht sein kann. Weil die Liebe Christi zu uns aufs Ganze geht. Weil Christus aus Liebe zu uns Schmerzen erduldet und sogar sein Leben gegeben hat. Weil Christus aus Liebe zu uns sogar den Tod besiegt hat. So stark ist die Liebe Christi zu uns, dass er nicht von uns lässt – was auch immer uns in den letzten Monaten irritiert, verstört oder gequält hat…

„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ schreibt Søren Kierkegaard. Lassen Sie uns nun nach vorn schauen. Zu verstehen gibt es da noch nichts. Da hat Kierkegaard Recht. Aber die Rahmenbedingungen, unter den wir leben werden, die können wir uns bereits vergegenwärtigen. Vor allem können wir uns des Grundes vergewissern, auf dem wir auch im neuen Jahr stehen und gehen können.

Wieder lassen wir uns bei unserer Schau von den Worten des Apostels Paulus leiten. Paulus ist Realist. Er sieht genau, was uns bedrohen kann. So sehr bedrohen kann, dass es uns vielleicht den Boden unter den Füßen wegzieht und wir in unserem Glauben erschüttert werden. Aber Paulus ist zugleich voller Vertrauen. Er schreibt: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“

Wieder präsentiert Paulus eine lückenlose Aufzählung. In seine Worte legen wir hinein, was uns im Blick auf das Jahr 2016 Sorge oder sogar Angst macht.

Tod und Leben. Vielleicht sind hier unter uns Menschen, die den Tod vor Augen haben. Den Tod eines nahen Menschen, der sich schon auf dem Sterbeweg befindet. Oder gar den eigenen Tod, der durch eine schwere Erkrankung auf einmal sehr nah gerückt ist. Andere mögen Angst vor dem Leben haben. Befürchten, dass das Leben ihnen übel mitspielen oder dass Lebenswege sich trennen könnten. Tod und Leben können uns in gleicher Weise erschüttern und aus der Bahn werfen…

Engel. Mächte. Gewalten. Wenn wir von Engeln hören oder lesen, denken wir zumeist an Schutzengel. Paulus dürfte eher so etwas wie Racheengel oder Todesengel im Sinn haben, jedenfalls solche, die uns schweren Schaden zufügen wollen. Engel, Mächte und Gewalten - sie verbindet, dass wir Menschen kaum oder gar keinen Einfluss auf sie haben. Engel, Mächte und Gewalten kommen über uns, wir sind ihnen ausgeliefert. Das mag ein Unwetter sein oder ein Unfall oder ein Gerücht, das über uns verbreitet wird. Jedenfalls stehen wir hilflos da - erschrocken, verstört, verzweifelt. Keine noch so gute Unfall-, Gebäude-, Haftpflicht- oder Lebensversicherung kann uns das ersparen…

Und schließlich: Gegenwärtiges und Zukünftiges. Hohes und Tiefes. Mit vier Worten misst Paulus die Zeit – Gegenwärtiges und Zukünftiges – und den Raum – Hohes und Tiefes – aus. Und fügt sicherheitshalber noch hinzu: „…noch eine andere Kreatur.“ Diese Worte erfassen jede denkbare Bedrohung. In ihnen ist auf engstem Raum alles vereint, was uns im neuen Jahr ängstigen und in unserem Glauben erschüttern könnte.

„Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Das klingt wie eine Fanfare zum Auftakt des neuen Jahres. Nichts, aber auch wirklich nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Von Gottes Liebe, die in Jesus Christus ihr Gesicht bekommen hat. Gott schenkt uns mit Jesus Christus das Liebste, was er hat. Das hat Martin Luther einmal in einer Weihnachtspredigt so gesagt: „Er gibt nicht einen Groschen, ein Auge, ein Pferd, eine Kuh, ein Königreich, auch nicht den Himmel mit der Sonne und den Sternen, auch nicht die ganze Kreatur, sondern seinen Sohn, der groß ist wie er selbst." Diese unermessliche Liebe ist uns auch für das neue Jahr versprochen.

Liebe Schwestern und Brüder! „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Wir haben auf das vergehende Jahr zurückgeschaut und vielleicht das eine oder andere besser verstanden. Ich habe vor allem verstanden, dass die Liebe Christi größer ist als alles, was mich besorgt, geängstigt oder enttäuscht hat. Deshalb kann ich das alte Jahr vertrauensvoll in seine Hände legen.

Und dann haben wir die Schau nach vorwärts versucht. Mit Paulus haben wir alles angeschaut, was uns im neuen Jahr zur Bedrohung werden könnte und uns sagen lassen, dass nichts, aber auch gar nichts von alledem uns von Gottes Liebe trennen kann. So können wir unsere Schritte vorsichtig und zugleich mutig in das neue Jahr setzen. Möglicherweise werden wir nicht vor Enttäuschung, Trauer und Schmerz bewahrt bleiben. In der Jahreslosung für das Jahr 2016 haben wir jedoch einen Begleiter, der uns an Gottes große Liebe erinnert. Die Jahreslosung steht im Buch des Propheten Jesaja und lautet: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Jesaja 66, 13)

Und der Friede Gottes…