Gottesdienst in der St. Marienkirche zur Eröffnung des Themenjahres "Reformation und Politik" in der Lutherdekade

Johannes 1, 17

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…

Liebe Schwestern und Brüder,

„Glaube muss sich in die Politik einmischen!“ sagen die einen. „Glaube und Politik sind unbedingt auseinanderzuhalten!“ sagen die anderen. Die einen wie die anderen haben gute Argumente für ihre Position.

„Glaube muss sich in die Politik einmischen!“ sagen die einen. Sie zeigen auf die Propheten der Bibel. Der Prophet Jesaja zum Beispiel hielt dem Volk Israel eine politische Predigt, die es in sich hatte: „Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ (Jes 58, 6f.) Deutlicher geht es nicht. Hingewiesen wird auch auf den Anfang des Johannesevangeliums: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1, 14) Gott lässt sich in seinem Sohn Jesus Christus auf diese Welt ein. Ganz und gar. Es ist ihm also alles andere als gleichgültig, wie die Menschen in dieser Welt leben. Deshalb hat der Glaube an Jesus Christus immer auch mit der Gestaltung dieses Lebens, mit Politik zu tun.

„Glaube und Politik sind unbedingt auseinanderzuhalten!“ sagen die anderen. Sie erinnern an dunkle Kapitel der Kirchengeschichte. Christen haben eine nicht enden wollende Blutspur durch Europa gezogen, weil sie Glauben und Politik ineinander mengten. Sie gaben vor, das Christentum ausbreiten zu wollen, hatten aber in Wahrheit die Ausbreitung des eigenen Territoriums oder der eigenen Macht im Sinn. Die Kreuzzüge und der Dreißigjährige Krieg sind schreckliche Beispiele dafür, wie der Glaube politisch missbraucht wurde. Ein anderes Beispiel ist die Ideologie der so genannten Deutschen Christen, die in Adolf Hitler einen neuen Heilsbringer und im nationalsozialistischen Staat das Reich Gottes sahen. Was für ein schrecklicher Irrtum!

„Glaube muss sich in die Politik einmischen!“ sagen die einen. „Glaube und Politik sind unbedingt auseinanderzuhalten!“ erwidern die anderen. Mir scheint, dass der Wochenspruch für die heute beginnende Woche hilft, sich in diesem Spannungsfeld zurechtzufinden. Er steht in der Vorrede zum Johannesevangelium und ist auch am Schalldeckel dieser Kanzel zu lesen: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“(Joh 1, 17)

„Das Gesetz ist durch Mose gegeben.“ Kurz und bündig stellt der Evangelist Johannes das fest. „Das Gesetz ist durch Mose gegeben.“ Niemand kann also behaupten, er kenne das Gesetz des Mose nicht. Und: Das Gesetz des Mose gilt. Es gilt uneingeschränkt. Es folgt kein „Aber“, das die Geltung des Gesetzes relativieren würde.

Was genau bedeutet das für uns?

Jesus hat das Gesetz des Mose in dem so genannten „Doppelgebot der Liebe“ zusammengefasst: „’Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.’ Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.’ In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Matth 22, 37-40). Weder der Gesetzgeber Mose noch der Gesetzesausleger Jesus haben bei dem „Du“ ausschließlich an einzelne Menschen gedacht. Die Gebote gelten dem Volk Israel, also den einzelnen Menschen und der Gemeinschaft als ganzer. Das bedeutet: Das Gesetz des Mose, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe, soll uns in jeder Hinsicht leiten. Im Privaten wie im Politischen und Gesellschaftlichen, in allen Bereichen unseres Lebens.

„’Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.’ Dies ist das höchste und größte Gebot.“ Als einzelne Menschen sollen wir uns ganz auf Gott ausrichten, unbedingt auf ihn vertrauen und alles von ihm erwarten – nicht nur in den krisen unseres Lebens. Auf Gott sollen wir uns aber auch ausrichten, wenn wir unser Miteinander gestalten, etwa in der Politik. Diesem Gedanken folgend beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen … hat sich das Deutsche Volk …dieses Grundgesetz gegeben.“ Ebenfalls diesem Gedanken folgend haben alle Mitglieder der neuen Bundesregierung ihren Amtseid mit dem Zusatz geleistet: „…so wahr mir Gott helfe.“

„Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Dieses Gebot soll uns in unserem persönlichen Leben leiten – in der Art, wie wir unsere Partnerschaft gestalten und unsere Kinder erziehen. Bei Streitigkeiten mit den Nachbarn und Unstimmigkeiten am Arbeitsplatz. Zugleich soll das Gebot der Nächstenliebe der Maßstab für alles politische Handeln und Entscheiden sein. Wer politische Verantwortung trägt, hat darauf hinzuwirken, dass jeder Mensch in diesem Land hat, was er zum Leben braucht: Nahrung und Wohnung, Bildung und Gesundheitsversorgung, Sicherheit vor Angriffen auf Leib und Leben. Das gilt übrigens nicht nur für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, sondern auch für jene, die zu uns kommen, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive für sich sehen. Ob diese Heimat Syrien oder Irak heißt, Bulgarien oder Rumänien, kann und darf dabei keine Rolle spielen. Die Nächstenliebe nimmt außerdem die nächste Generation in den Blick und trifft politische Entscheidungen so, dass unsere Nachkommen dadurch nicht belastet werden. Auch deshalb ist es so wichtig, dass in dieser Legislatur-periode die „Energiewende“ gelingt.

„Das Gesetz ist durch Mose gegeben.“ Das Gesetz des Mose, von Jesus zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe, gilt. Es gilt für jeden einzelnen Menschen ebenso wie für die Gemeinschaft. Es gilt für persönliche Beziehungen ebenso wie für die Gesetzgebung.

Nun hat unser Wochenspruch noch einen zweiten Teil. „…die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Dieser zweite Teil hebt das zuerst Gesagte nicht auf. Wie gesagt: Da steht kein „Aber“. Der zweite Teil des Wochenspruches will uns vielmehr vor einem Missverständnis bewahren. Vor dem Missverständnis, dass wir durch Gottes- und Nächstenliebe unser Lebensrecht verdienen könnten und müssten. Menschen in politischer Verantwortung bewahrt die zweite Hälfte des Wochenspruches außerdem vor dem Missverständnis, dass sie durch die Ausrichtung ihres Redens, Tuns und Entscheidens am Doppelgebot der Liebe den Himmel auf Erden schaffen könnten und müssten. Niemand muss sein Lebensrecht selbst verdienen. Und erst recht muss niemand den Himmel auf Erden schaffen. Wir dürfen leben und der Himmel ist bereits auf die Erde gekommen, als das Wort Fleisch wurde.

„…die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Das setzt uns zugleich Grenzen: „Die Gnade ist durch Jesus Christus geworden.“ Keiner hat das Recht, einen anderen Menschen zu verurteilen. Egal, was jener getan hat. Gewiss, Straftäter müssen von staatlichen Gerichten für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Aber letzte Urteile über andere Menschen stehen uns nicht zu. Auch staatlichen Gerichten nicht: Und: „Die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.“ Keiner und keine von uns verfügt über die Wahrheit. Kein einzelner Mensch und erst recht kein politisches System. Gewiss, wir Menschen sollen in unserem Tun und Lassen wahrhaftig sein, aber die Wahrheit, die letzte Wahrheit, die ist durch Christus geworden.

„Glaube muss sich in die Politik einmischen!“ sagen die einen. „Glaube und Politik sind unbedingt auseinanderzuhalten!“ sagen die anderen. Der Wochenspruch für die heute beginnende Woche orientiert uns in diesem schwierigen Gelände. Der Glaube muss sich in die Politik einmischen? Ja. Das Gesetz des Mose, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe, gilt für alle Bereiche unseres Lebens. Glaube und Politik sind unbedingt auseinander zu halten? Nein, aber sie sind sorgfältig voneinander zu unterscheiden. Die Politik sorgt im besten Fall dafür, dass es unter den Menschen friedlich und gerecht zugeht. Für letzte Wahrheiten aber ist die Politik ebenso wenig zuständig wie für letzte Urteile. Die Gnade und Wahrheit ist durch Christus geworden und damit Gegenstand nicht der Politik sondern des Glaubens.

In diesem Jahr jährt sich zum achtzigsten Mal die Bekenntnissynode von Barmen. Angesichts des totalitären nationalsozialistischen Staates zogen die Synodalen aus dem biblischen Zeugnis folgende Konsequenz für das Verhältnis von Staat und Kirche: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.-

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonde-ren Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“ Soweit die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Achtzig Jahre später liegt mit dem Themenjahr „Reformation und Politik“ ein Jahr vor uns, in dem wir um Verständigung zu ringen haben. Ein Jahr, in dem wir herauszufinden haben, zu welchen politischen Konsequenzen unser Glaube uns heute, fünfhundert Jahre nach der Reformation, nötigt. Ein Jahr aber auch, in dem wir zwischen  Kirche und Staat, Religion und Politik sorgfältig unterscheiden müssen – um Gottes und der Menschen willen. Dazu erbitten wir heute Gottes Segen.

Und der Friede Gottes…