Gottesdienst in der St. Matthäus Kirche zu Berlin

Prälat Dr. Bernhard Felmberg

Liebe Gemeinde!

Die Septembersonne steht noch am Himmel. Doch allmählich schwindet ihre Wärme, auch wenn wir heute meinen dies wäre nicht so!
Der Herbst naht. Es ist Übergangszeit.

Haben wir recht vorgesorgt? So lautet eine Frage, die uns beschäftigt.

Angefangen bei Alltagsdingen wie dem Öltank der Heizung oder den Winterreifen fürs Auto. Sind wir gut vorbereitet für das, was beruflich ansteht?

Das neue Semester an der Universität beginnt bald. Das neue Schuljahr verdichtet sich. In meiner Dienststelle wirft die Bundestagswahl ihre Schatten voraus. In unseren Kirchengemeinden haben die Aktivitäten wieder an Fahrt aufgenommen.

In den Niederlanden gibt es sogar eine Kirche, die um diese Zeit einen sogenannten „Startsonntag“ feiert. Sind wir gerüstet im Blick auf das, was kommt? Auch zu tiefen existentiellen Fragen regt uns die Herbstzeit Fragen zu stellen. Nachzudenken.

„Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“

So lesen wir es in Rainer Maria Rilkes Gedicht „Herbsttag“. Die Sonnenuhren schatten ein. Schattet auch unser Leben ein? Oder fühlen wir Schatten auf dem Leben von Angehörigen? Die Früchte drängen zur Vollendung. Wie hältst Du es mit deiner Vollendung, mit deinem Tod? Ein Haus kannst Du jetzt nicht mehr bauen. Bleibst Du allein? Hältst Du die Melancholie aus, kannst Du Dich an ihr berauschen? Oder befällt Dich die große Traurigkeit? Lässt Du dich niederdrücken oder stehst du auf?

In dieser Zeit und Stimmung trifft uns ein Predigttext, der ganz andere Akzente setzt. Eine Jesusrede ist es. Schroff ist der Kontrast, der entsteht, wenn wir sie der Melancholie des herbstlichen Übergangs gegenüberstellen.

„Sorget nicht um euer Leben!“ So setzt Jesus ein (Mt 6,25-34). „Sorget nicht, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht vielmehr für Euch tun, Ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorget nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag eine eigene Plage hat.“

Unsere Vorsorge und Leibsorge hier – die Sorglosigkeit der Kinder Gottes da.
„Kinder, vergesst eure Sorgen und lebt drauf los!“

So eine simple Alternative könnte man jetzt aufbauen. Und die Predigt würde dieser einfachen Lösung folgen. Doch so einfach ist die Sache theologisch nicht und im täglichen Leben schon gar nicht.

Das Leben ist komplizierter. Das Evangelium ebenso. „Was im Leben falsch ist, ist auch in der Theologie falsch und umgekehrt.“ Das hat einmal Hermann Diem gesagt, der große Theologe und Pastor der Bekennenden Kirche, der 1947 das Darmstädter Wort als Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche mit verfasste.

Ein origineller Typ war dieser Diem, streitbar und mit großem Herz.  Diem warnt vor einfachen und falschen Alternativen. Wie also sind unsere Vorsorge und die Jesu Ermahnung zur Sorgenfreiheit zu vereinbaren?

Ich möchte die Evangeliumspassage vom Sorgen von hinten aufrollen.

Da steht ganz am Schluss: „Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ Im Griechischen viel prägnanter: „Die heutige Plage reicht für den Tag. Was morgen ansteht, kommt noch früh genug.“

Es ist keine fatalistische Haltung, die uns hier nahe gelegt wird. Es geht nicht um das Lamento: „Da kann man sowieso nichts machen, entschieden wird woanders, ich kann nichts ändern, weder an dem, was mit mir geschieht, noch an dem, was in der Welt geschieht.“

Die Lamentoecke ist für uns tabu. Vielmehr werden wir im Evangelium von Jesus zum Aktivwerden aufgefordert. Und dies mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt.

Ein Vers davor sagt Jesus: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles zufallen.“

Eine Hierarchie der Sorgen ist es, die Jesus uns hier präsentiert. Wofür wir aktiv sorgen sollen und welche Sorgen wir uns sparen können, darum geht es.
Dabei dreht Jesus die für unser Leben prägende Sorgenhierarchie um. Er stellt sie auf die Füße. Denn üblicherweise sorgen wir uns doch in erster Linie um Dinge des Alltags. Um Nahrung und Kleidung, wenn wir wenig Geld haben. Um Lebensversicherungen, Riesterrente und die Entwicklung von Aktienfonds, wenn unser Geldbeutel dicker ist. Die Frage, wie wir jetzt und im Alter gut leben können, beschäftigt uns. Sie kann unser Leben auch ganz dominieren. Dabei spielt die Gesundheit schon fasst eine religiöse Rolle: Fitnesswahn, Wellness-Industrie, ausufernde Vorsorgepläne, die unser Gesundheitssystem an den Rand des Kollapses bringen – alle diese Phänomene sprechen eine deutliche Sprache.

Um Gott kümmern wir uns – wenn überhaupt – erst an letzter oder vorletzter Stelle.

Der Kirchgang, ja, ab und zu mal. Gründe für das „Nicht“ gibt es scheinbar so viele wie Nichtkirchgänger, für das „Ja“ scheinbar nur „wenige“.

Das Gebet, ja, als Kind regelmäßig, jetzt als Erwachsener nicht mehr so häufig. Das Lesen in der Bibel, in Gottes Verheißungen, in der Geschichte seiner Liebe zu uns – das ist eine Übung, die weithin völlig aus der Mode gekommen ist.

Natürlich sollte niemand gezwungen werden, in den Gottesdienst zu gehen. Die alte Sonntagspflicht, die es auch im evangelischen Bereich gab, hat wahrscheinlich mehr geschadet als genützt. Glaube und Repression ist ein ganz ungutes Gemisch, aus dem vor allem Heuchelei und Bigotterie hervordampfen. Glaube, Gottesdienst, Kirche – mit einem altmodischen Begriff: Frömmigkeit. Die muss freiwillig gepflegt werden. Wie aber können wir uns und andere dazu motivieren?

Nun, ich denke, unser Predigttext liefert gute Argumente. Er verbirgt eine ungeheure Verheißung in sich. Nämlich die Verheißung, dass derjenige, der sich um Gott kümmert, der also eine lebendige Frömmigkeit pflegt, frei wird von seinen Alltagssorgen. „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles, was ihr braucht zufallen.“ Sagt Jesus.

Umgekehrt: Wer in seinem Leben immer noch eins draufsetzen will, der verstrickt sich in Sorgen und Ängste. Dem gerät aus dem Blick, was eigentlich zählt. Und der verliert am Ende die Freiheit, nüchtern sich selbst, den anderen und die Welt wahrzunehmen.

Heiden leben in Sorge. Also Menschen, die von Gott nichts wissen. Die schauen sorgenvoll aus der Wäsche. Christen eigentlich nicht. Die verschreiben ihr Leben Gott. Die vertrauen auf Gottes gute Führung. Mit einem theologischen Fachbegriff gesagt: Christen vertrauen auf Gottes gubernatio. Und sie ergeben sich in sein Weltregiment. Dabei vertrauen sie darauf, dass Gott Gutes mit ihnen und der Welt vorhat.

Calvin, der von der EKD in diesem Jahr besonders gefeiert wird, weil sein Geburtstag sich zum 500. Mal wiederholte, war einer, der diese Ergebung in Gottes Weltregiment besonders stark machte. Und zwar, um Menschen zu trösten. Unermüdlich kümmerte er sich um verfolgte Christen, vor allem in seiner geliebten Heimat Frankreich.

Die evangelischen Christen waren damals dort an Leib und Leben bedroht. Calvin schrieb ihnen: „Eure Verfolgungen sind schrecklich. Gottes Feinde haben sich gegen euch verschworen. Doch sorgt euch nicht. Lasst vielmehr nicht davon ab, nach dem Reich Gottes zu trachten. Dann wird euch alles, was ihr nötig habt, zufallen. Wenn nicht in diesem Leben, dann sicher im Leben bei Christus.“

Ein Beispiel dafür, wie man diese Haltung in unserer Zeit leben kann gibt die christliche Patientenverfügung. Ein Patientenverfügungsgesetz wurde vor wenigen Wochen im Deutschen Bundestag letztmalig verhandelt und beschlossen.

Die beiden Großkirchen hatten schon lange vor diesem Bundestagsbeschluss eine christliche Patientenverfügung erstellt, die den Leitgedanken unseres Predigttextes – wie ich finde – gut trifft. In einer Patientenverfügung erklärt ein Mensch vorsorglich, welche Behandlungen in bestimmten Krankheitssituationen vorgenommen und welche unterlassen werden sollen. Wenn es dem Ende zugeht möchte die christliche Patientenverfügung sicherstellen, dass nichts unternommen wird, was das Sterben eines Menschen unnötig hinauszögert. Wer eine christliche Patientenverfügung erlässt, der legt sein Leben in dieselbe Hand zurück, aus der er es bekommen hat. Der überlässt es Gott, wann er das Leben wieder zu sich nimmt. Der setzt der menschlichen Sorge ein Ende.

Ein rechtes Lilienleben ist das, was sich in der christlichen Patientenverfügung zeigt. Es vertraut auf Gottes Geleit und ist frei von Zukunftssorgen. Wohl gemerkt: Die Lilie keimt und blüht auf, wenn Gott es will. Und sie vergeht, wenn Gott es will. Im Herbst. Wenn Gott die Winde auf die Fluren loslässt. Auch das Lilienleben endet. Doch es endet im Vertrauen auf Gott. Ohne Sorge. Vielmehr im Vertrauen darauf, dass das Leben bei Gott in Fülle weitergeht. Im Gegensatz zum Sorgenleben ist das Lilienleben im Glauben eines voll Duft, Farbe, Hoffnung und Freiheit.

Minima non curat praetor – haben die Römer formuliert. Ein Satz aus dem römischen Recht, der besagt, dass geringe Rechtsverstöße nicht geahndet werden. Der Satz lässt sich gut übertragen auf unseren Zusammenhang. Der Begriff Prätor geht zurück auf das Verbum praeire, auf  Deutsch: vorangehen. Der Prätor ist einer, der vorangeht. Wer glaubt ist auch einer, der vorangeht, weil er auf Gottes Reich zugeht. Er richtet seine Augen zum Himmel, wo sein Vaterland ist (2Kor 5,1f.). Damit lässt er alles hinter sich was war.

Dem Glaubenden werden Dinge des Alltags zu Minima, zu Kleinigkeiten. Sie sind ihm kein Anlass zur Sorge mehr. Er hat das Große vor sich und in sich. Und – das ist jetzt die besondere Pointe – gerade dadurch, dass der Glaubende die Angelegenheiten der Welt in rechte Proportionen gesetzt hat, gerade dadurch wird er frei dafür, sich sine ira et studio um das zu kümmern, was ansteht. Wer seine Augen fest auf Gott gerichtet hat, der wird in die Lage versetzt, umsichtige und besonnene Entscheidungen zu treffen.

Er trifft zumindest besonnenere Entscheidungen als derjenige, der sich den ganzen Tag hindurch den Kopf darüber zerbricht, was er essen und trinken, oder, was er anziehen wird. Ob die Scheunen groß genug sind für die zu erwartende Ernte. Ob seine Blutwerte gut genug sind, um noch mit 80 fröhlich herumspringen zu können.

Es kostet Überwindung, von diesen Sorgen zu lassen. Der Schritt aus dem Sorgen hinaus, hin zur Gnade Gottes ist nicht leicht. Der Schritt aus der Herbstmelancholie zur gänzlich ungetrübten Freude über die bunten Farben der Bäume ist schwer.

Er wird uns ohne die Hilfe Gottes nicht gelingen. Darum zum Schluss:

Worum geht es Jesus bei unserem Predigttext? Kurz gesagt:

Es geht nicht um ein verantwortungsloses Leben in den Tag hinein. Es geht darum, die Dinge des Alltags richtig einzuordnen. Es geht darum, das Wichtigste von Wichtigen und vom noch weniger Wichtigen zu unterscheiden. Das Wichtigste ist das Reich Gottes. Nach dem trachtet. Alles andere folgt aus diesem Trachten. Jesus hilft uns, dahin zu gelangen. Denn sein Satz: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“ – dieser Satz ist ja nicht nur eine Ermahnung, sondern auch eine Verheißung. Die Verheißung könnte man auch so formulieren: Wer sich um Gott kümmert, dessen Füße stellt Gott auf weiten Raum (Ps 31,9). Der wird in der Lage versetzt – wie Luther einmal gesagt hat – die Zweifel, die wie Vögel um den Kopf herumfliegen, daran zu hindern, dass sie dort Nester bauen. Der hat einen klaren Blick auf sich, den nächsten und die Welt. Der ist befreit zum gewissenhaften Leben im Alltag. Und der ist frei, sein eigenes Leben in die Hand Gottes zu legen, wenn es soweit ist, wenn es Zeit ist und das Leben zur Vollendung drängt. Dass Gott uns für diese Unterscheidungen jeden Tag aufs Neue Kraft gibt. Das walte Gott der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Amen