Andacht im Diakonischen Werk der EKD
Prälat Dr. Bernhard Felmberg
Gemeinsames Lied: EG 112, 1-4
Psalm 23 / EG 711
Gloria Patri
Gedanken zum Tag
Liebe Schwestern und Brüder,
haben Sie sich auch schon einmal bei dem Gedanken erwischt, sich selbst eingestehen zu müssen: „Hätte ich mich doch bloß an dieses Gebot gehalten, dann hätte ich jetzt nicht diesen Ärger“?
„Hätte ich doch bloß die vorgegebene Geschwindígkeitsbegrenzung eingehalten, dann müsste ich jetzt nicht mit der U-Bahn fahren.“
Hätte ich doch bloß nicht über meinen Kollegen grundlos gelästert, dann wäre ich jetzt nicht in der Not, mich dafür vor meinem Chef oder den Kollegen entschuldigen zu müssen, dass ich – sagen wir es einmal mit uns vertrauten Worten - ‚falsch Zeugnis‘ geredet habe.“
Ja hätte ich doch bloß, dann . . .
So sehr wir auch christlich erzogen wurden und so sehr wir auch meinen genau zu wissen, was richtig und falsch ist, uns passiert es immer wieder: Wir kommen selbst mit der entspannt zu überblickenden Zahl von Zehn Geboten immer wieder in Schwierigkeiten. Ja, oft genug kommt unser Leben in Widerspruch mit dem, was uns Gott geboten hat. Und wir haben vielleicht auch schon gespürt, dass wir uns manchen Schaden vom Leib und von der Seele gehalten hätten, wenn wir einfach das Gebotene getan hätten.
Aber wenn wir dann einmal so richtig Schaden genommen haben, weil wir zwar das Gute tun wollen, es aber nicht zustande bringen, es ausführen zu können, dann erwischen wir uns doch dabei gen Himmel einen Stoßseufzer auszustoßen, der sich wie folgt artikulieren könnte:
„O dass mein Leben deine Gebote mit ganzem Ernst hielte!“
Dies ist der Losungstext für den heutigen Tag. „O dass mein Leben deine Gebote mit ganzem Ernst hielte.“ Er ist dem 119. Psalm entnommen. Der Psalm 119 ist ein großartiges Preislied auf das Gesetz Gottes. Liest man in ihm weiter, so begegnen einem immer wieder starke Sätze.
„Wenn ich schaue allein auf deine Gebote Herr, werde ich nicht zuschanden!“ (Vers 6). Wie wahr, möchte man dazu sagen! Und noch stärker: „Wenn dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elend.“ (Vers 92)
Das Gesetz Gottes wird als Trost und Halt gepriesen, als Hilfe zum gelingenden Leben. Dabei macht die Sprachform der Tageslosung mit dem verzweifelten „O dass mein Leben“ deutlich, dass wir nicht mühelos und selbstverständlich die Gebote Gottes befolgen können. Die Gebote zu halten ist kein Geschäft, das man aus dem Ärmel schüttelt, das einem leicht von der Hand geht. ((Das ist nichts, was uns per se in den Genen sitzt.)) Hierzu bedarf es des ganzen Ernstes, der im Leben in vielfältiger Form gefordert ist. Die Sache mit Gott, zumal die mit seinen Geboten, ist nicht nur für den Bereich der „seelischen Wellness“ etwas. Nein, sie fordern unsere ganze Aufmerksamkeit, den Ernst im Denken und Handeln. Und wir wissen: Ohne Gottes Kraft und Beistand ist sowieso nichts zu gewinnen.
Hier in den Räumen der Diakonie ist eine Tageslosung, die uns zu einem Leben in den Gottes Geboten aufruft, eine Steilvorlage, kulminiert doch alles, was wir an Geboten kennen, in dem einen Satz:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
In diesem Doppelgebot der Liebe äußert sich der Auftrag zum diakonischen Handeln. Darin liegt der Auftrag Ihres Hauses.
Zwei Gründergestalten der modernen evangelischen Diakonie habe ich dabei besonders vor Augen: Theodor Fliedner und Amalie Sieveking.
Amalie Sievekings Weiblicher Verein für Armen- und Krankenpflege etwa – um nur eine ihrer Initiativen zu nennen – kümmerte sich um mittellose Frauen und Arbeiterinnen. Mit großem Engagement begab sich Sieveking ins operative Geschäft. Ihre vornehme Herkunft – Sieveking stammte aus einer Hamburger Senatorenfamilie – kümmerte sie dabei nicht. Sie hielt sich nicht vornehm zurück, spendete nicht nur Geld, wie es andere vornehme Damen und Herren der damaligen und auch der heutigen Zeit taten und tun. Nein, sie ging zu denen, die im Schatten und im Schmutz lebten. Das Gebot Gottes galt ihr mehr als die Standesetikette.
Theodor Fliedner war Pfarrer und nahm sich vor allem der Armen und Elenden in seiner Gemeinde an. Er engagierte sich gemeinsam mit seiner Frau für Häftlinge in den Gefängnissen und für aus der Haft entlassene Frauen. Er bemühte sich um Schulbildung für arme Kinder, gründete die Diakonissengemeinschaft zur Pflege von Kranken. Unermüdlich war er tätig, um dem Gebot der Nächstenliebe zu entsprechen.
Vorbilder sind uns beide Fliedner und Sieveking – auch heute noch, trotz der zunehmenden Professionalisierung des diakonischen Handelns. Sie zeigen uns, wie Gottes Gebote im Leben Frucht bringen können. Sie machen deutlich wie Gebote Leben schaffen und Freiheit herstellen können. Deshalb ist eines klar: In unserem Bemühen, diakonisch in dieser Welt zu handeln, dürfen wir nicht nachlassen.
Dies umso mehr, als Jesus im Lehrtext für heute sagt:
„Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ ( Mt. 12,50):
Gemeinschaft mit Gott haben demnach die, die tun, was Gott von uns Menschen fordert. Die Situation, in der Jesus dieses Wort sagt, verstärkt den Imperativ noch. Jesus nämlich befindet sich beim Predigen in einem Haus. Draußen treffen seine Mutter und seine Brüder ein. Ein Mann geht hin zu ihm und sagt: „Jesus, deine Familie ist da und will mit dir reden!“ Doch Jesus antwortet nur schroff: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Nicht die, die biologisch mit mir verwandt sind. Nein, sondern die, die den Willen meines Vaters im Himmel tun.“
Sehr ernst ist es Jesus damit. Er will, dass wir tun, was Gott von uns fordert.
Das alles klingt nun schrecklich gesetzlich und es ist es auch: Zugang zu Gott nur, wenn wir dies und das tun. Gott will, dass wir tun, was er von uns verlangt, damit er sich mit uns zusammentut.
Wir fragen zu Recht:
Wo bleibt denn da die Gnade? Wo bleibt das „sola gratia“, unsere bedingungslose Annahme durch Gott? Schenkt er uns nicht seine Gnade? Und was wäre ein Geschenk, wenn es an Bedingungen geknüpft wäre? Wir verlangen doch von unseren Patenkindern auch nicht, dass sie uns etwas auf dem Klavier vorspielen, bevor wir ihnen ein Geburtstagsgeschenk überreichen.
Hebt das schroffe Wort Jesu aus dem Lehrtext das Reden von der allein selig machenden Gnade auf?
Nun, schauen wir noch einmal auf Theodor Fliedner und Amalie Sieveking. Beide haben aus der Gnade heraus gelebt. Sie wollten mit dem, was sie taten, nicht erst die Gemeinschaft mit Gott herstellen. Sie saßen nicht daheim und dachten „Ich will mit Gott zusammenkommen, und darum helfe ich jetzt anderen, damit Gott mich als sein Kind aufnimmt.“
Es lief genau anders herum: In Jesus war Gott ihnen nahe gekommen. Sie hatten sein Wort vernommen. Sie wurden der Gnade Gottes gewahr. Und daraus haben sie die Kraft geschöpft, anderen zu helfen. Das, was Sieveking und Fliedner in Angriff genommen haben, war alles andere als eine leichte Aufgabe. Es waren Herausforderungen, die an den Kräften gezehrt haben, die ein hohes persönliches und auch finanzielles Risiko mit sich brachten. Ohne festen Halt in Gottes Gnade hätten sie diese Aufgaben nicht stemmen können.
Ein Vers wie der heutige Lehrtext steht also nicht am Anfang unserer Beziehung mit Gott. Am Anfang steht die Gnade. Die Aufforderung zum Halten der Gebote kommt erst später. Sie ist eine Hilfe auf unserem Weg mit und zu Gott. Sie hält uns bei der Sache – modern-positiv gesagt: sie motiviert uns, fortzufahren mit dem, was Gott in uns angefangen hat.
Umgriffen wird die Aufforderung immer von der leuchtenden Gnade Gottes – im Bild gesprochen: vom Licht des Ostertages.
Gerät uns dieser Zusammenhang aus dem Blick, nehmen wir bei der Überfülle unserer Aufgaben das Osterlicht nicht mehr wahr – dann wird die Arbeit zur Strapaze, ja selbst unser diakonisches Handeln zur lust- und glaubenslosen, ja leeren Zwangsveranstaltung, dann kann ein Wort wie dasjenige von Jesus nur in die Enge führen und nicht die öffnende Weite zeigen, die in ihm steckt.
Wenn wir innerlich in einer solchen Sackgasse stecken, gilt es, zur Besinnung zu kommen, einen Schritt zurück zu machen und sich der zuvorkommenden Gnade Gottes neu zu vergewissern. Dann müssen wir zum Taufbecken „zurück schwimmen“, um mit Luther zu sprechen, um uns der Gnadenzusage Gottes zu versichern, die über uns ausgegossen wurde.
Ist dies geschehen, so finden wir im Gebet, durch Gesang oder im Gottesdienst wieder zu dem, was uns zu Schwestern und Brüdern und zu Kindern Gottes macht, die aus der Gnade heraus die Liebe Gottes weitergeben. Gott es ist, der uns neue Kraft gibt und unsere Hand zur Tat führt.
Amen