Predigt in der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde Brüssel
(Hebräer 4, 14-16)
Liebe Gemeinde,
Was ist Ihnen eigentlich heilig?
Manche von Ihnen mögen jetzt an die gemeinsame Zeit mit ihrem Ehemann oder ihrer Ehefrau am Abend nach einem langen Arbeitstag denken. Oder sie wissen um die seltenen Gelegenheiten, mit ihren Kindern zu spielen. Vielleicht sind ihnen auch die zwei Stunden Sport am Donnerstagabend heilig. Oder es ist das Lesen der Losungen am Beginn eines jeden Tages oder das Abendgebet kurz vor dem Einschlafen, indem Gelungenes und Misslungenes vor Gottes Angesicht gestellt wird. Manchen mag aber auch der Sonntag heilig sein als der Tag, der dem Gottesdienst gewidmet ist.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, dass uns etwas heilig ist? Wir nennen Dinge heilig, die von so grundlegender Bedeutung für unser Leben sind, dass sie unter keinen Umständen angetastet werden sollen. Dinge eben, die unser Leben „heil“ machen, also „ganz“ oder „vollkommen“. Solche Dinge oder Orte behandeln wir mit einer besonderen Achtsamkeit, um ihre Würde nicht zu verletzen.
Als Mose am brennenden Dornbusch seine erste Begegnung mit Gott hat und näher heran treten will, ruft Gott ihm zu: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land.“ (Ex 3,5)
Orte, an denen Mensch und Gott sich begegnen, sind heilig. Hier erwartet Gott von uns, dass wir uns selbst zurück nehmen, die Schuhe ausziehen, den Hut abnehmen, uns behutsam bewegen, hören statt sprechen. Wenn Gott uns nahe kommt, sollen wir Empfangende sein.
An solchen besonderen Begegnungspunkten wie sie uns die Bibel beschreibt, wurden oft ein Altar oder gar ein Tempel gebaut, um seine Gottes Heiligkeit zu bewahren und die Begegnung zu manifestieren, sie quasi in Stein zu meißeln.
In dem Tempel in Jerusalem, so wie er zur Zeit Jesu bestand, waren alle heiligen Orte aus der Geschichte Israels zusammengefasst und verdichtet in dem einen, kleinen Raum im Innersten des Tempels: dem Allerheiligsten. Hier wohnte Gott. Doch wer zu Gott wollte, der musste einige Hürden überwinden. Schon von weitem sah man auf dem Berg Zion die Mauern der Vorhöfe, die den eigentlichen Tempel umgaben. Dieser profane Bereich war auch Menschen zugänglich, die nicht jüdischen Glaubens waren. Er war Schauplatz eines regen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens. Dahinter folgten mehrere Bereiche von zunehmender Heiligkeit. Je näher man dem Tempel kam, desto heiliger der Raum. Jedoch: Je heiliger der Raum, desto eingeschränkter war der Zutritt dazu. In den vordersten Bereich durften nur Juden hinein, dahinter nur noch Männer, in den Tempel selbst nur Priester, und in das Allerheiligste durfte ausschließlich der Hohenpriester. Und das auch nur am Fest der Versöhnung. Der Ort an dem Gott wohnte, war sichtbar - aber auch unerreichbar.
In Kontakt mit Gott trat die Tempelgemeinde nur mittelbar durch den Hohenpriester.
Nun stellen Sie sich bitte für einen Moment Folgendes vor, dass jemand sagte: Das Amt dieses unerreichbaren, unantastbaren Hohenpriesters sollte Jesus ausüben. Ausgerechnet Jesus, der den Tempelkult kritisierte, die Händler dort als Räuber bezeichnete und vom Hohenrat verfolgt wurde. Derjenige, der die Menschen, egal welcher Herkunft sie waren, gleichermaßen aufsuchte, der wird mit dem Priester gleichgesetzt, dessen Aufgabe es war, weit weg von allem zu sein, was als weltlich galt. Jesus der Hohepriester!? Das ist für uns irritierend. Aber um wie viel mehr für die Juden und die jungen christlichen Gemeinschaften damals, die das hörten. Aber genau das ist das Bild, dessen sich der Apostel, der den Hebräerbrief geschrieben hat, befleißigt. Er spricht von Jesus als dem Hohepriester. Er schreibt:
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. 16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Noch einmal: Wie soll Jesus in die Rolle eines Hohenpriesters passen? Er suchte doch diejenigen auf, die am weitesten entfernt waren vom Allerheiligsten, vom Tempel und von der jüdischen Gemeinschaft. Er sprach, feierte und betete mit den Menschen, die krank, straffällig oder geächtet waren. Er ging zu den Sündern! Das alles waren doch Menschen, die sich den Versuchungen des Lebens nicht hatten entziehen können. In ihrer offenen Schwachheit galten sie als unrein und unwürdig, also als eine Gefahr für den heiligen Bereich des Tempels. Jesus fand aber gerade bei diesen gebrochenen Menschen das ehrliche Eingeständnis von Schwäche und Hilfsbedürftigkeit! Jesus versuchte nicht, wie ein Teil der Priesterschaft, der dunklen Seite des Lebens auszuweichen. Er stellte sich ihr.
Das Volk Israel kämpfte 40 Jahre in der Wüste mit Angst, Anfechtung und Schwachheit. Die Versuchung bestand darin, in der neuen Freiheit auch ohne Gott zu Recht zu kommen. So litt später auch Jesus 40 Tage in der Wüste Hunger und Durst und wurde vom Satan versucht aus sich selbst heraus, ohne Gott zu leben. Der „Versucher“, wie Martin Luther den Satan nennt, bietet ihm die Weltherrschaft und fordert ihn heraus, Gottes Souveränität über Leben und Tod zu missachten - und der finale Schauplatz dieses Kampfes war ausgerechnet die Zinne des Tempels.
Der Ort, an dem Israel versucht hat, die heilige Gegenwart Gottes zu konservieren – dort widerstand Jesus in Heiligkeit dem unmoralischen Angebot des Teufels.
Den Versuchungen des Lebens sehen wir uns selbst jeden Tag ausgesetzt: Wie heilig ist uns der Kurs unserer Aktien? Oder für wie bedeutsam sind uns körperliche Fitness, unser Aussehen und unsere Beliebtheit? Wie gehen wir mit dem Kollegen um, der uns zur Konkurrenz wird in unserer bisher unangefochtenen Arbeitssituation?
Wir kennen die Momente, in denen uns die Karriere heiliger ist als die Menschen, die unser Leben eigentlich vollkommen machen. Wie oft eigentlich geben wir den Stimmen von Außen Vorrang, anstatt auf Gottes Wort zu hören, das unser Herz berührt?
Wenn wir in uns gehen, erkennen wir sehr wohl, was in Gottes Namen heilig ist in unserem Leben. Dennoch leben wir viel zu oft in Distanz dazu. Und diese Distanz zu den heiligen Orten in unserem Leben geht Hand in Hand mit dem Mangel an Zutrauen in Gott. Wenn wir daran glauben, die Kraft zum Leben aus uns selbst schöpfen zu können und zu müssen, sind wir nicht mehr offen und frei für die vielfältigen, heiligen Momente, in denen Gott uns begegnet. Wir begegnen dann nur noch uns selbst. Wie öde!
In dieser Entfremdung hat Gott uns nicht uns selbst überlassen, sondern er schickte uns Jesus, seinen Sohn Jesus hat all diese Versuchungen, denen wir ausgesetzt sind, auch erlebt, so dass er gar nicht anders kann, als in unserer Schwäche mitzuleiden. Und so wie Jesus dem Satan widerstanden und dessen Machtbereich gebrochen hat, werden auch wir mit ihm an unserer Seite, diesen Versuchungen nicht ungeschützt ausgeliefert sein. Christus hat den Tod besiegt und „die Himmel durchschritten“, wie Paulus es hier beschreibt. Er hat das Unmögliche möglich gemacht, und den Weg zum Allerheiligsten frei gegeben. Die trennenden Vorhöfe zwischen der profanen, alltäglichen Welt und dem heiligen, wahrhaftigen Gott hat er niedergerissen. Er ist ein Hohepriester ganz anderer Art. er hält nicht vom Heiligen ab. Er tritt aus dem Allerheiligsten heraus und durchschreitet alle Vorhöfe bis zur allerletzten Mauer und reißt sie ein. Er durchheiligt unser Leben. Er ist einzigartig, indem er uns allein auf sich verweist, indem er spricht: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.
Wir bleiben der Versuchung ausgesetzt, ja wir erliegen ihr auch immer wieder, aber Jesus vergibt und heiligt uns trotz allen Versagens. Diese Gleichzeitigkeit unserer menschlichen Verfasstheit des ebenso Sünder-Seins wie des Gerechtfertigt Seins hat gerade uns evangelische Christen geprägt.
Luther, der selbst Anfechtungen und Glaubenskrisen erlebte, erkannte die Versuchung als einen Teil des menschlichen Wesens. Mehr noch: Er unterschied zwischen körperlicher, weltlicher und teuflischer Versuchung. Letztere aber kann ihm zufolge nur den Glaubenden anfallen, was sie letztlich zu einem Ausweis des Glaubens macht! Die Versuchung hält den Prozess des Glaubens lebendig, und unsere Zweifel halten uns nicht immer nur vom Glauben ab, sondern führen uns oft genug bei ihrer Überwindung vertieft hin zum Glauben.
Ein Mensch, der im Grunde seines Herzens an Gott glaubt, leidet unter der Distanz zu ihm.
Die Nähe zu Gott beginnt aber gerade mit dem nüchternen Anerkennen, dass wir zum Glauben nur durch seine Hilfe finden.
Jesus Christus ist darin unser Anwalt: Während er in der Nacht seiner Verhaftung im Garten Gethsemane in größter Angst noch zu Gott beten konnte: „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Mt 26,39), so stellte er doch am Kreuz, seinem Vater kurz vor seinem Sterben folgende Frage: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ In diesem Moment am Kreuz kommt Jesus Christus unseren schlimmsten Glaubenskrisen sehr nah.
Den Angefochtenen, den an der Gottesferne Leidenden, den mit ihrem Gott Hadernden, denen eröffnet Christus den Weg zum Allerheiligsten und macht ihnen Mut näher zu kommen: „Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen“.
Nur, weil Christus seine Furcht letztlich überwand und in das Heilsgeschehen einwilligte, erlischt unsere eigene Lebens- und Sterbensfurcht nicht, aber sie droht uns nicht mehr in unserem Innersten zu erdrücken.
Und sie weicht von uns, wenn wir Gott nahe kommen, weil wir dann merken, dass er schon die ganze Zeit bei uns ist. Der in Jesus Christus sich offenbarende Gott bleibt nicht zurückgezogen auf dem Zion oder hinter den Wolken, sondern nimmt Wohnung in unseren Herzen und macht unsere Seele zu seinem Tempel.
Jesus als Hohepriester bringt keine Schlachtopfer dar, sondern lehrt uns das Doppelgebot der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben […] und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lk 10,27).
Denn: Nicht nur Gott ist heilig zu nennen, sondern auch diejenigen, die durch ihn geheiligt sind. Seine heilige Gemeinde, seine durch ihn geheiligte Gemeinde, so wie wir es Sonntag für Sonntag bekennen. So wird zu allererst unser Nächster für uns heilig. So wie Gott von Mose erwartet hat, dass er seine Schuhe auszieht, um die Würde des Ortes zu wahren, so erwartet er, dass wir in der Begegnung mit unserem Nächsten unser Rüstzeug ablegen, mit dem wir uns durchs Leben kämpfen. Die Würde meines Partners, Freundes oder des Fremden liegt darin, dass er oder sie Gottes Kind ist. Die Stärke von Kindern ist ihre offene und ehrliche Schwäche, ihr Angewiesensein. Daher wird ihr Schutz wohl in jeder Kultur einmütig als heilig empfunden. Das Bekenntnis zur Schwachheit, zur Sanftheit und Offenheit dem anderen gegenüber bringt auch zwischen erwachsenen Menschen die Distanz zum schmelzen. Vom seelsorglichen Gespräch unter Brüdern und Schwestern bis hin zu großen Programmen wie dem Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa: Das Wesen christlicher Verkündigung ist immer die Überwindung der Distanz zwischen Mensch und Gott sowie zwischen den Menschen untereinander. In der tätigen Nächstenliebe wird das Heil Gottes zur konkreten Heilung für den Menschen.
Liebe Gemeinde,
es sind nun seit Jesu Heilshandeln nicht mehr die Mauern und Vorhöfe, die uns den Weg zum Allerheiligsten versperren. Die einzige Hürde sind wir selbst, wenn uns die Kraftlosigkeit unseres Glaubens erschreckt, wenn das Phlegma uns hindert, die Barmherzigkeit und Güte Gottes in seinem Haus zu schmecken.
Aus diesem Grund dürfen wir uns auch gegenseitig immer wieder anhalten, den Glauben durch unser Bekenntnis aktiv zu leben. Wir dürfen miteinander beten, uns gegenseitig unseres Vertrauens in Gott versichern und Mut machen, in den Krisen des Alltags bei Gott Hilfe zu finden. Krisen wie wir sie in dieser Woche erlebt haben und vielleicht stellvertretend für andere empfunden haben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Und deshalb denken wir als Christen vor allem an die Menschen, die bei dem tragischen Bahnunglück bei Halle ums Leben gekommen sind und wir trauern mit denen, die hinterblieben sind, die ohnmächtig sind, weil der Mann oder die Frau, die Mutter oder der Vater, die Zentrum des eigenen Lebens waren, auf einmal aus dem Lebens gerissen wurden. Und wie tun wir das vor allem? Wir treten wir hinzu, machen uns auf und suchen die Begegnung mit Gott. Hier in der Gemeinde vor Ort oder wo immer wir als evangelische Christen in der Welt um Orte wissen, die in ihrer Kraft durchbetete Räume sind und Zeugnis davon ablegen, dass sie einladen das Wort Gottes zu hören und die Sakramente zu empfangen. Möge der dreieinige Gott diese Bewegung des Glaubens immer wieder in uns erneut auslösen.
Amen.