Verabschiedung von OKR Kurt Triebel

St. Nikolai Kirche Kiel

Ich freue mich sehr, dass ich aus Anlass Ihrer Verabschiedung aus dem Amt des landeskirchlichen Beauftragten für das Land Schleswig-Holstein sprechen darf.

„Kirche am anderen Ort“ ist heute mein Thema, und natürlich ist es - mit Blick auf Ihre Biografie - vor allem das Ihre: Kirchentag und Erwachsenenbildung, Militärseelsorge und Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt, Familienberatung und Evangelische Bordseelsorge und nicht zuletzt Ihr Amt als landeskirchlicher Beauftragter: Alle Ihre beruflichen Schwerpunkte und Stationen machen Sie zu einem Experten von kirchlicher Arbeit an ungewöhnlichen, „anderen“ Orten.

Gleich zu Anfang möchte ich eine Äußerung aufgreifen, die Sie im Februar 2007 in einem Vortrag vor der Landessynode der Nordelbischen Kirche gemacht haben. Dort sagten Sie: „Das entscheidende Wort für meine Lebensgestaltung ist das Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium: „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ (Mt 5,13 und 14)

In Ihrem biblischen Lebensmotto drücken sich Kraft und Zuversicht aus, die Gott uns allen gibt, um sein Wort in die Welt zu tragen. Ja, dieser Vers könnte fast ein schlechtes Gewissen entstehen lassen: Warum marschieren wir nicht los und salzen die Erde und bringen die Welt zum Leuchten, statt immer wieder unser Licht unter den Scheffel zu stellen?

Ich verstehe diesen Vers als Mut machende Begründung für den Missionsbefehl aus Matthäus 28. Wenn ich beides hintereinander stelle, wird der Bezug deutlich: „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie alles, was ich euch befohlen habe. /+/ denn ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt.“

Wenn wir also heute über „Kirche am anderen Ort“ nachdenken, dann ist das auch ein Nachdenken über die missionarische Dimension unserer Kirche. Das, was sich im Rahmen kirchlicher Arbeit an ungewohnten Orten zeigt, ist vielleicht ein Ausblick auf eine Gestalt der Kirche, wie wir sie in Zukunft häufiger erleben, wenn wir den Wegen, die ein missionarisches Verständnis der Volkskirche uns aufzeigt, folgen wollen.

Um ein Bild der „Kirche am anderen Ort“ entstehen zu lassen, möchte ich zunächst einen Blick auf das werfen, was uns hinlänglich bekannt und vertraut scheint: Denn wenn ich über die „Kirche am anderen Ort“ reden soll, dann muss uns ja vorher deutlich sein, was die Kirche ausmacht, die nicht am anderen Ort ist, sondern am eigentlichen, am gewohnten Ort ihren Platz hat.

A) Kirche am eigentlichen Ort

Der übliche Ort der Kirche ist der vor Ort, mitten in der Stadt, mitten im Dorf. Dort, wo alle vorbeikommen, zu dem im besten Falle wirklich alle gehören, sich zu Hause und beheimatet fühlen, das ist die klassische Ortsgemeinde in ihrer parochialen Struktur. Würden wir die Menschen fragen, wo sich „die Kirche“ befindet, dann würden sie auf ihre Kirche in der Ortsmitte hinweisen.

Die Kirche, das ist also für die meisten Menschen in unserem Land nach wie vor in allererster Linie die Ortsgemeinde, allein schon wegen des Gebäudes, der „Kirche im Dorf“. Sie bildet das Zentrum, den Ort, in dem sich Menschen versammeln um zu glauben und nach dem Glauben zu fragen.

Aber was macht so einen Ort eigentlich zur Kirche? Reicht es heute noch aus, zu prüfen, ob im Kirchgebäude Wortverkündigung stattfindet und Sakramente verwaltet werden, oder sind dies nur noch formale Bestimmungsgründe für das Kirche-Sein? Diese Frage müssen wir uns stellen, gerade weil vielerorts große Diskrepanzen wahrzunehmen sind zwischen einer offiziell vorhandenen „pastoralen Grundversorgung“ einerseits und einer immer weniger vorhandenen Sprachfähigkeit in den Gemeinden andererseits. Obwohl das Problem seit Jahrzehnten bekannt ist und bearbeitet wird, verlieren die Menschen weiterhin den Kontakt zum Evangelium.
Gleichzeitig lernen wir immer wieder Gemeinden kennen, in denen das, wovon das Evangelium spricht, auch in Wort und Tat sichtbar wird. Was macht solche Orte zur Kirche?

Die Kirche gewinnt dort ihren Raum, wo nicht nur versucht wird, das Evangelium zu verstehen, sondern es zu erleben, ihm zu begegnen. Das äußert sich vor allem darin, dass eine lebendige Kommunikation über das Evangelium entsteht, in der sich Menschen über ihre Erfahrungen mit Gott austauschen. In diesem Austausch erkennen Menschen, wo und wie sie „Salz sind“ und welches Licht sie für den anderen auf dem Weg sein können oder schon geworden sind. Dieser Austausch ist notwendig, um Fragen zu klären, Zweifel ernst zu nehmen, Dankbarkeit zu pflegen und den Glauben annehmen zu können.

Eine Ortsgemeinde bietet Sicherheit, Beständigkeit und Vertrautheit und somit einen geschützten Raum. Ein Ort, an dem die Gesetze der Welt in Frage stehen und die Berechtigung zum Sein allein in der Existenz Gottes begründet liegt. Gerade in einer Zeit, in der kaum etwas beständig zu sein scheint, haben Menschen Sehnsucht nach einem Ort, der Heimat sein kann. Wo dies gelingt, kann so eine Gemeinschaft zu einem Kraftfeld werden, in dem der Austausch über den Glauben in tätige Nächstenliebe mündet. Dann ist eine Gemeinde entstanden.

Ein wichtiges Ziel des sich in der EKD vollziehenden Reformprozesses sind Erkenntnisse darüber, wie das Entstehen und Bestehen von Gemeinden gezielter und zuverlässiger gestaltet werden kann. Viele Einblicke haben wir bislang gewonnen, vielversprechende Projekte wurden entdeckt und manches ist in Bewegung geraten. Aber nach wie vor geben uns viele Gemeinden Rätsel auf bei dem Versuch, ihren Charakter und ihre Struktur zu erkennen. Von Norden bis Süden und von Osten bis Westen sind kaum zwei gleiche unter ihnen. Darüber hinaus unterliegen sie ständigen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen.

Vor diesem Hintergrund gibt es nach wie vor an vielen Stellen unserer Kirche Diskussionen darüber, ob die Zukunft der Kirche eher in der Arbeit der Ortsgemeinden oder eher im Bereich der funktionalen Dienste und Werke zu sehen ist. Aus beiden angesprochenen Bereichen wird ein Widerspruch konstruiert, der im Grunde so nicht haltbar ist. In den Strukturen der Kirche liegt nicht ihr Heil. Strukturen sollen dem Leben dienlich sein, dem fehlenden Leben werden auch veränderte Strukturen nicht helfen. Das merken wir, wenn wir versuchen, uns selbst davon zu überzeugen, dass allein mit strukturellen Schritten etwas wirklich auf Dauer gewonnen wäre. Wenn in unseren Ortsgemeinden von Aufbruch nichts zu spüren ist oder dieser nicht ankommt, bleibt die Angst, man könnte zu einer „Filiale“ oder einem „Versorgungsstützpunkt“ einer „großen“ zentralen Kirche werden.

Ich glaube, dass diese scheinbare Dichotomie zwischen parochialer und nicht parochialer Kirche den Reformprozess lange Zeit stark belastet und ausgebremst hat. So lange diese Abgrenzung zur Sicherstellung von Identität vorgenommen wird, ist es nicht möglich, voneinander zu profitieren. Dabei kann, wie überall, auch hier nur der furchtlose Blick über den Tellerrand dazu führen, sich jeweils weiter zu entwickeln und für das je Eigene hinzuzugewinnen.
 
Bleiben wir aber zunächst bei der „Kirche am eigentlichen Ort“. Die Forschung über den Aufbau und die Entwicklung von Gemeinden hat in den letzten Jahren, gerade auch durch die Reformanstrengungen, große Schritte gemacht. Schaut man sich die Ergebnisse dieser Untersuchungen an, dann haben die meisten eines gemeinsam: die hohe Wertschätzung der Kasualien.

In besonderer Weise ist dies zu sehen bei Herbert Lindner. In seinem Konzept der „Kirche am Ort“  stellen die Kasualien, und dabei insbesondere die Taufe, den Kernzugang zum Gemeindeleben dar. Diesen Fokus auf die für die Christenheit so grundlegende Handlung bringt er in Verbindung mit der Weite einer pluralen Gemeindestruktur. Er hat die Angehörigen der so genannten „distanzierten Dreiviertelkirche“  im Visier, die ihre Teilnahme am Gemeindeleben nach den persönlichen Lebensphasen richten. Lindner versucht in seinem Konzept, die soziokulturell bestimmten Lebenszyklen und -zäsuren mit dem Zyklus des Gemeindejahres zu einer Komposition zusammen zu bringen. Seine Grundidee basiert auf der Wahrnehmung der menschlichen Lebenswirklichkeiten und dem Versuch, diesen Lebenswirklichkeiten in den kirchlichen Amtshandlungen gerecht zu werden. 

Dieser Versuch ist sehr spannend. Die Wertschätzung der „Gemeindemitglieder in Distanz“ und die Anerkennung der Legitimität einer unregelmäßigen Teilnahme am Gemeindeleben ist ein vollkommen richtiger, erster, Schritt, um aus alten Gewohnheiten und verkrusteten Formen der Gemeindearbeit herauszukommen. Zu begrüßen ist auch die Tendenz, sich zu den Menschen außerhalb der Kirche zu bewegen.
 
Die alten protestantischen Vorbehalte gegenüber Ritual, Kultur und anthropologischen Bedürfnissen im Zusammenhang mit kirchlichen Amtshandlungen sind inzwischen geschmolzen, und zwar aufgrund der Erfahrung, dass sie die Verkündigung des Wortes, die bei uns Protestanten Priorität hat, nicht zu schmälern vermögen. Im Gegenteil: Wir haben darin das Potenzial entdeckt für die, wie Volker Drehsen es formuliert, „Heiligung von Lebensgeschichten“ . Damit meint er die Rekonstruktion von Lebens-geschichten im Kontext eines Angebotes christlicher Sinninterpretation. Wir wissen mittlerweile, von welcher Bedeutung eine lebensgeschichtliche Betrachtung für die pastoraltheologische Erschließung volkskirchlicher Amtshandlungen ist. Das ist erkennbar auch daran, dass das Bewusstsein gewachsen ist, neue Kasualhandlungen zu konzipieren (wie etwa die verschiedenen Ehrenkonfirmationen, Tauferinnerungsgottesdienste und Gottesdienste zu speziellen Anlässen etc.).
 
Und dennoch: Diese Bemühungen stoßen allesamt an Grenzen, und zwar so lange, wie der Ausgangspunkt allen Denkens und Handelns von dem geprägt ist, was eine Gemeinde traditionellerweise begründet und getragen hat. Und das ist vor allem die typische Kernfamilie mit ihrer beruflichen und schulischen Bindung vor Ort.

Doch die Lebenswirklichkeit vieler Menschen hat sich in den letzten Jahren so drastisch verändert, dass sie mit den Mustern, die den Angeboten der Gemeinde zugrunde liegen, immer weniger Schnittmenge hat. Wo aber die Lebenswirklichkeit eines Menschen und die Welt der Kirche sich immer weniger kreuzen, kann immer weniger gegenseitige Wahrnehmung und Wertschätzung stattfinden.

Die typischen Zäsuren, Krisen und Wendepunkte in den Lebensläufen vieler Menschen sind heute nicht mehr so beschaffen und kollektiv darstellbar wie früher, als Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung noch die wesentlichen „Rites de Passage“ abgedeckt haben. Es häufen sich die sozialen Sprünge innerhalb einer Biographie. Gerade auch Veränderungen im beruflichen Kontext wirken sich auf das restliche Leben aus: Allein die zunehmende zeitliche und geografische Flexibilität gerade auch junger Menschen stellt die Kontinuität eines Lebensentwurfes in Frage. Auch der Übergang in die Arbeitslosigkeit führt in Krisen, von denen meist niemand etwas erfährt. Durch die Erweiterung der klassischen Kleinfamilie um weitere, teilweise komplexe soziale Bindungsstrukturen schließlich haben sich neue Zentren gebildet, in und um die herum Kontinuität und Stabilität gesucht werden. Vereine für Sport, Kultur, Künstlerische Szenen, Ganztagsschulen, Fanclubs und andere bilden nicht nur Ersatzfamilien, sondern stellen manchmal sogar bessere Strukturen dar, als sie die eigentlichen Familien in ihrer quantitativen Übersichtlichkeit leisten können.

Von solchen Lebensstrukturen bleibt eine Ortsgemeinde getrennt, erst recht dann, wenn sie sich auf die vielzitierte „pastorale Grundversorgung“ konzentriert. In solchen Fällen bezieht sich – wieder mit Volker Drehsen gesprochen - „die Reichweite der Kasualien weitgehend auf das Ausmaß einer »bloßen Familienfeier«„ 

Für die „Kirche am Ort“ ist also festzuhalten: Sie birgt zwar nach wie vor in unnachahmlicher Weise die Chance, christliche Gemeinschaft wahr und vor allem erfahrbar werden zu lassen und den Menschen eine Heimat, eine feste Burg zu sein. Und sie ist und bleibt darin auch unersetzlich. Zugleich ist ihre schwache Stelle, dass sie die komplexe und unstrukturierbare Wirklichkeit menschlicher Lebensgeschichten immer weniger vollständig erfassen, und damit letztlich immer weniger gut darauf reagieren kann.

Nicht nur mit Blick auf den heutigen Anlass und die besondere Biographie von Bruder Triebel ist meine Auffassung, dass wir auch die „Kirche am anderen Ort“ brauchen, um diejenigen Menschen zu erreichen, die sich von den angeboten der klassischen „Kirche im Dorf“ zu wenig, nicht, oder nicht mehr angesprochen fühlen. Es handelt sich bei der Kirche am anderen Ort nicht um die alles entscheidende Alternative, sondern um eine sinnvolle und notwendige Ergänzung des Vorhandenen.

B) Die Kirche am anderen Ort

Die „Kirche am anderen Ort“ ist zunächst einmal da, wo sie nicht erwartet wird. Häufig geht es um Orte, die nicht von sich aus auf die Existenz von Kirche verweisen. Kirche ist hier nicht das charakteristische Markenzeichen des speziellen Ortes, sondern sie findet sich zu ihm in einem beigestellten oder untergeordneten Verhältnis. Sieht man ein Gefängnis, so denkt man an Zellen und an Wärter und nicht unbedingt daran, dass es darin spätestens seit Wichern auch Kapellen und Kirchen gibt. Ähnlich ist es in Krankenhäusern, Kasernen und anderen Orten.

Ich möchte kurz auf die Seelsorge in der Bundeswehr eingehen, nicht nur, weil Sie, lieber Herr Triebel, auch mit diesem Bereich betraut waren. Sondern auch, weil in diesem Bereich das Aufeinandertreffen menschlicher Erfahrung und geistlicher Begleitung besonders in die Tiefe geht,  wie uns gerade in den letzten Tagen noch einmal deutlich wurde.

Exemplarisch für die Erfahrung etlicher Soldaten im Kriegseinsatz oder in kriegsähnlichen Situationen steht der frühe Teil der Biographie von Paul Tillich. Der junge evangelische Pfarrer meldete sich 1914 freiwillig und mit voller Begeisterung zum Kriegsdienst. Dort erlebte er die „ungeheuren Realitäten“ wie er sie nannte von Tod und Vernichtung. Seine Erfahrungen prägten sein weiteres Leben und Arbeiten maßgeblich, Gotteserkenntnis ohne den Einbezug der erlebten Abgründe war für ihn fortan undenkbar. In seinem Lebensbericht sprach er davon, „auf der Grenze“ zu stehen.

Soldaten, die an solche oder ähnliche Grenzen geraten, sind anschließend nicht mehr dieselben. Wer mit ihnen zu tun hat, weiß, was das bedeutet. Paul Tillich nannte Erschütterungen dieser Art „Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht.“  

Die extremste Art dieses „Ergriffenseins“ zu erspüren ist für den Pfarrer, den „Generalisten“ der Ortsgemeinde in der Vielfältigkeit des Alltags ungemein schwerer zu leisten als für den Theologen, der in eine spezielle Lebenswelt von Betroffenen geschickt wird und diese teilt, sei es im Gefängnis oder im Auslandseinsatz in Afghanistan. Die Fokussierung auf den einen Auftrag eröffnet - wie in der Spezialseelsorge insgesamt - die Möglichkeit, einer bestimmten Lebenswirklichkeit professionell entsprechen zu können.

Die Bedeutsamkeit des Glaubens für das Leben erfahrbar zu machen ist und bleibt überall das A und O gelingender Gemeindearbeit. Seelsorger beispielsweise im Auslandseinsatz der Bundeswehr haben dabei oft mit Menschen zu tun, die in Situationen geraten, in denen der Zugang zu Gott nicht langsam erarbeitet, sondern unmittelbar erfahren wird. In denen Gott oft vollkommen selbstverständlich geglaubt, gehasst, angesprochen, herausgefordert, verflucht oder gelobt wird. Begegnungen mit Menschen, die sich so unmittelbar mit dem Leben und dem Glauben auseinandersetzen, lassen uns in den seltensten Fällen unberührt.

Diese Erfahrung, mit dem Wort Gottes einem Menschen dort zu begegnen, wo das Leben ihn extrem erschüttert, berührt oder bremst, wo er etwas zu sagen hat und etwas hören möchte, diese Erfahrung ist grundlegend für das Wirken der „Kirche am anderen Ort“.

Erstaunlich groß ist dabei die Dankbarkeit, die uns entgegen gebracht wird, wenn wir das klassische Kirchengebäude verlassen und Menschen dort aufsuchen, wo sich ihr Leben oder eine bestimmte Lebensphase vollzieht.

Wie groß die Resonanz auf kirchliche Angebote sein kann, wenn sie „am anderen Ort“ gemacht werden, habe ich erlebt im Blick auf die Kapelle im Berliner Olympiastadion: Gedacht war sie als Gottesdienstraum und Raum der Stille im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen in diesem geschichtlich besonders konnotierten Stadion. Bei der Weltmeisterschaft wurde sie von Spielern und Fans verschiedener Nationalitäten genutzt, und inzwischen findet vor jedem Heimspiel von Hertha BSC ein Gottesdienst statt. Im Laufe der Zeit wurden aber auch zunehmend Taufen und Trauungen in der Kapelle gewünscht und durchgeführt. Sogar Bestattungen finden nun in aller Regelmäßigkeit statt und Nachwuchsspielern aus dem Hertha-Internat wurden auch schon eingesegnet. Es hat sich eine regelrechte „Stadion-Gemeinde“ entwickelt, für die die Kapelle mit ihrem geistlichen Angebot nicht mehr wegzudenken ist.

Dass „harte Kerle“ aus der Ostkurve die Kapelle im Olympiastadion aufsuchen, um zu beten, wird ermöglicht, weil die Kirche in die Mitte ihres Lebens rückt, dahin, wo sie seit Jahren ihren Verein, ihre Mannschaft unterstützen. Die Kirche, die in der Regel als diejenige wahrgenommen wird, die an diesem Ort nichts zu suchen hat, wird neu wahrgenommen. Sie sucht Kontakt zu den Menschen, sie findet neue und verloren gegangene Verbindungen und Menschen, die sich ihr wieder zuwenden wollen. Und dies gelingt durch die neue Präsenz vor Ort, durch die zugewandte Begleitung, durch das Interesse am Leben derer, die im Stadion aus- und eingehen. Die Kirche macht sich aber dort nicht gemein, sie handelt nicht säkular „beschnitten“, sondern sie begegnet den Sportlern und Fans mit der Botschaft, die sie zu verkünden hat. und diese lautet in einem Olympiastadion wie in Berlin vielleicht: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ (Mt 16,26).

Die Kirche lädt zur inneren Einkehr ein und bildet einen Kontrapunkt zu dem, was sich äußerlich vollzieht, sie steht damit offen als Quelle der Ruhe, Kraft und Veränderung, während im Stadion das Leben tobt ((und der Teufel los ist)). Auf dieser Basis gelingt es, mit denen Kontakt aufzunehmen, die kirchlich gesehen ein Äon von uns entfernt sind, weil sie einem gänzlich anderen Milieu angehören. Kirche am anderen Ort schafft Kontakt mit fremden Milieus, lädt ein zur kulturellen Grenzüberschreitung, lässt Worte wählen, die dem fremden Hörer nicht fremd bleiben, sondern vertraut werden, weil die homiletische Herausforderung dem klar ist, der in ungewohnter und vielleicht sogar scheinbar ungastlicher Gesellschaft das Wort Gottes in den Mund nimmt und es verkündet. Die Erfahrung lehrt, dass das Wort nicht leer zurückkommt, sondern Erfüllung findet in dem Maße wie der Andere und das Andere gesucht werden. Nur wer bei sich bleibt, bleibt wirklich allein.

„Kirche am anderen Ort“, nämlich eben nicht „im Dorf“, sondern als Gegengewicht zur Rastlosigkeit des Alltags sind auch die Autobahnkirchen, die in wachsender Zahl entstehen und auf immer größere Resonanz treffen. Es gibt in Deutschland mittlerweile 30; jedes Jahr fühlen sich bis zu neun Millionen Autofahrer bewegt, diese Orte der Stille aufzusuchen. Mit 150 Pferdestärken oder mehr wird vorgefahren, aber vor dem Altar geht es um die eigene menschliche Kraft oder auch Schwäche. Überall wird spürbar: Die Sehnsucht nach geistlicher Begleitung und die Bereitschaft, dafür einen besonderen Ort aufzusuchen, sind ungebrochen, Tendenz steigend. Mehr und mehr ausschlaggebend sind gleichzeitig die Angebote, die die Kirchen machen können.

Und last but not least erinnere ich in diesem Zusammenhang sehr gerne auch an die seelsorgerliche Begleitung auf Kreuzfahrtschiffen.

Sie lieber Bruder Triebel haben als Leiter der Evangelischen Bordseelsorge nicht nur auf die sehr gute und zunehmende Resonanz auf dieses kirchliche Angebot hingewiesen, das eine große Chance bietet, für kirchennahe und kirchenferne in Ruhe und ohne Zeitdruck miteinander über Gott und die Welt ins Gespräch zu kommen. Dabei ist interessant zu beobachten, dass sich für die Teilnehmenden an Kreuzfahrten durch viele Begegnungen mit anderen Kulturen und Religionen wichtige Impulse ergeben, sich mit der eigenen christlichen Identität neu und bewusst auseinanderzusetzen

Der „überraschenden“ Verschränkung von Lebenswelt und biblischer Botschaft ist Michael Nüchtern in seinem Buch „Kirche bei Gelegenheit“ auf den Grund gegangen. Im Vergleich von eher kontinuierlicher Gemeindearbeit einerseits und projektbezogener Akademiearbeit andererseits erkennt er, dass unregelmäßige und befristete Begegnungen im Akademiekontext die Aufnahme substanzieller Kontakte erleichtern. Gerade die geringere Verbindlichkeit solcher Begegnungen, so Nüchtern, erlaube eine „wechselseitige Erschließung von Lebenswirklichkeit und christlicher Wahrheit“ . In der Ortsgemeinde könne dagegen die Gefahr bestehen, dass Erwartungen und Gewohnheiten neue Impulse und Ideen schon im Keim erstickten.

Michael Nüchtern zieht daraus die Konsequenz, dass zu den bisherigen „Formen“ von Kirche auch Bereiche wie Erwachsenenbildung oder Akademiearbeit ergänzend hinzuzuziehen sind. Er spricht in diesem Zusammenhang von zusätzlichen „Agenturen“ und „Ambulanzen“, die den Charakter einer „Anlauf- bzw. Sammelstelle für wechselnde Gruppen und (...) zeitlich begrenzte Kontakte“ haben, und in denen die Verschränkung von jeweiliger Lebenssituation und biblischer Vergewisserung „von Fall zu Fall“ ermöglicht werden könnte  Die in vielen anderen Zusammenhängen als problematisch empfundene Tatsache einer nur punktuellen Teilnahme am vorhandenen Angebot wird bei ihm also als Ressource verstanden.

Das klingt zunächst plausibel und verlockend: Ja, wir sollten „die Gelegenheit“ als Chance für unvoreingenommene Begegnungen nutzen und die Landschaft der kirchlichen Arbeit um solche Formen erweitern. „Gelegenheit macht Kirche“ könnte unser Fazit in diesem Falle lauten.

Aber: Macht Gelegenheit wirklich Kirche?

Eines ist klar: Keinesfalls darf es uns bei allen unseren Anstrengungen um etwas anderes gehen als um die Verkündigung des Wortes Gottes. Und auch im Blick auf die Kirche „am anderen Ort“ darf das Anderssein kein Selbstzweck sein. Vielmehr ist auch in dieser Arbeit Kontinuität und Beständigkeit gefragt. Denn eines der wichtigsten Ziele der Kirche, wenn sie sich in Bewegung setzt und Menschen aufsucht, ist die Einbindung der Menschen in das kirchliche Geschehen, ist das Entfalten von Bindungskräften an Orte der Verkündigung.

Sie, lieber Bruder Triebel, haben sich, ganz im Sinne Ihres Leitverses vom Salz der Erde, auf den Weg gemacht, um den Abgeordneten im Kieler Landtag geistliche Begleitung anbieten zu können.

Und aus den anfänglichen flüchtigen und befristeten Kontakten sind im Laufe der Jahre stetige und verlässliche Beziehungen gewachsen. Vor diesem Hintergrund war es Ihnen und Ihren Mitstreitern möglich, in Form der Kapelle im Landtag hier in Kiel einen christlichen Ort zu schaffen, der Ausdruck der Präsenz Gottes in der Welt ist, und der Möglichkeiten für Gebet und damit Gottesbegegnung schafft im beruflichen Alltag und in beruflichen Ausnahmesituationen für die, die dort arbeiten. Und dass diese immer einmal vorzufinden sind, hat sich selbst bis nach Berlin herumgesprochen.

Ich finde, es gibt kein schöneres Beispiel dafür, wie allein durch die seelsorgerliche, geistliche und menschliche Begleitung einer Berufsgruppe oder von Menschen, die in einem gewissen Bereich tätig sind, die geistliche Dimension, die in dieser Gemeinschaft bereits angelegt ist(!), zum Vorschein gebracht wird und so allmählich Gemeinde Jesu Christi sichtbar wird.

Parlamentarier, Referentinnen und Referenten, Sekretärinnen und Sekretäre spüren den Druck der Verantwortung, der Leistungs- und Erfolgserwartung, die auf ihnen lasten. Dass viele Abgeordnete ihre grundlegenden Fragen, Hoffnungen und Sorgen gern im geschützten Raum einer Andacht oder bei einem kurzen Gespräch offenbaren, zeigt sich auch am wachsenden Zulauf, den die morgendlichen Andachten haben, die wir in den Sitzungswochen im Deutschen Bundestag anbieten. Auch dort formt sich Gemeinde Jesu Christi weit ab vom Wohnort, eben „am anderen Ort“. Die Abgeordneten erleben Gemeinsamkeiten und verbindende Traditionen, unabhängig von Status, Fraktion oder Partei. So sitzt der Bundestagspräsident neben dem Saaldiener, der Abgeordnete der Linken neben dem der CSU. Und dies in dem Gebäude, das doch eigentlich für die parlamentarische Debatte steht, für den Streit, die Auseinandersetzung und nicht für das ruhige Zuhören.

Gemeinde Jesu Christi entsteht also auch „am anderen Ort“ dadurch, dass das christliche Angebot als etwas Grenzüberschreitendes und Verbindendes erfahren wird. Das gilt für alle Gottesdienstorte, auch für die Kapelle im Berliner Olympiastadion, in der Spieler, Fans und Funktionäre zugleich feiern. In so einer langsam wachsenden Gemeinde zeichnet sich ab, was wir Dienstgemeinschaft nennen: Menschen finden zusammen unabhängig von ihrem sonstigen Status in der Welt, sie lassen sich aufeinander ein, beten gemeinsam, sind füreinander da.

Die Relevanz der christlichen Botschaft im Zusammenhang mit der eigenen Lebenssituation erkennen und spüren, dies zieht auch bei vielen Mitgliedern von „Gemeinden am anderen Ort“ das Bedürfnis nach Ausdrucks- und Darstellungsformen, die diese neu gewonnene Orientierung festigen sollen, nach sich.

Lieber Bruder Triebel, ich habe zu Anfang den Sie leitenden Vers „Ihr seid das Salz der Erde“ aufgegriffen und ihn in den Kontext des biblischen Missionsauftrags gestellt. Nach dem, was ich eben dargestellt habe, ist, so hoffe ich, deutlich geworden, wie Kirche sich verstehen muss, wenn sie am anderen Ort missionarisch sein will. Das passiert, wenn wir begreifen: Wir sind die nachgehende Kirche, die sich auf dem Weg zu den Menschen aufmacht. Wir sind die Kirche, die nicht zulassen will, dass ganze Lebens-bereiche einer scheinbaren Gottlosigkeit überlassen werden; Gott lässt seine Welt nicht los. Wir sind die Kirche, die überall am geeigneten Ort ist, wenn sie sich auf die Menschen in ihren tatsächlichen Lebensbezügen einlässt. Weil sie selbst dort, wo mit ihr nicht gerechnet wird, das zu sagen hat, was den Menschen auf Gott hinweist und das Leben auf Gott hin zur Sprache bringt. Wir sind die Kirche, die am Ort oder am anderen Ort in der Verkündigung eigentliche Kirche wird und bleibt, gegenwärtig ist und auf das Zukünftige wartet.

Die Intention ist, hier wie dort, Gemeinde Jesu Christi zu sammeln. Und sei es eine Gemeinde auf Zeit, wie wir ja alle nur auf Zeit sichtbare Kirche Jesu Christi bilden. Kontinuität bedeutet dann nicht die Institutionalisierung einer neu gewachsenen Gemeinschaft. Kontinuität ist hier das einende, verbindende und Sinngebende des christlichen Lebens für diese Gemeinschaft.

„Gehet hin in alle Welt.“ Ja dahin gehen wir, denn dort hat das Wort Gottes Wohnung genommen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit