Gottesdienst zur Eröffnung der Tagung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Gehörlosenseelsorge (DAFEG)

Predigt in der Stiftskirche des Evangelischen Johannesstifts in Berlin

Predigttext:  Act 6,1-7

Liebe Gemeinde,

„Sie verfügen über
• eine abgeschlossene Ausbildung in der Alten- und Krankenpflege
• emotionale Stabilität und soziale Kompetenz
• Kommunikations-, Kritik- und Teamfähigkeit
• Verantwortungsbewusstsein und Einsatzbereitschaft
• den Willen zu lernen und die Gabe, Wissen zu vermitteln
• EDV-Kenntnisse.

Wir bieten
• eine abwechslungsreiche Stelle in einer innovativen, sich weiterentwickelnden Einrichtung
• ein gutes Arbeitsklima in einem qualifizierten, hoch motivierten Team
• die Möglichkeit einer langfristigen Beschäftigung im Unternehmensverbund
• eine Vergütung nach Tarif.“

Liebe Gemeinde, Sie haben es natürlich längst erkannt: Dies ist eine Stellenanzeige aus der Zeitung. Ein Pflegedienst der Diakonie sucht eine Fachkraft für die Altenpflege. Neben der fachlichen Qualifizierung wird dabei besonderes Gewicht auf die so genannten soft-skills gelegt, die für die Arbeit mit und für Menschen unerlässlich sind.

So ähnlich hätte auch eine Stellenausschreibung der zwölf Apostel in der Jerusalemer Urgemeinde aussehen können. In der Lesung haben wir gerade davon gehört, dass sie dringend Mitarbeiter für die Versorgung der Witwen suchten. Auch für diese Aufgabe waren emotionale Stabilität, Kommunikations- und Kritikfähigkeit sicher gute Voraussetzungen. Und dass die christliche Urgemeinde eine innovative, sich weiterentwickelnde Einrichtung war, die die Möglichkeit einer langfristigen Beschäftigung bot, davon zeugen 2000 Jahre Kirchengeschichte. Nur EDV-Kenntnisse waren nicht gefragt, und die Vergütung nach Tarif gab es auch nicht.

Die Apostelgeschichte berichtet uns im 6. Kapitel davon, dass die Apostel Mitarbeiter suchten, weil sie allein ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen konnten. Die junge christliche Gemeinde in Jerusalem hatte enormen Zulauf. Die neue Lehre zog viele Menschen an. Was die Jünger und Jüngerinnen von Jesus erzählten, wie da über Gott geredet wurde, das traf viele Zuhörer ins Herz. Aber nicht nur die Predigt der Jesusanhänger faszinierte die Menschen. Sie fanden es stark, dass der Predigt auch Taten folgten. Petrus und die anderen Apostel hielten nämlich nicht nur flammende Reden über die Liebe Gottes zu den Menschen, sie kümmerten sich auch darum, dass die Armen zu essen bekamen. Denn sie spürten, dass es nicht reicht, den Menschen nur geistliche Speise zu geben.

Sie folgten darin dem Beispiel Jesu, der den Menschen immer beides gegeben hat. Jesus hat den Menschen erzählt von Gott, der die Menschen liebt und sie als seine Kinder annimmt. Und gleichzeitig hat Jesus selbst diese Liebe spüren lassen, indem er den Menschen in ihrer Not geholfen hat: Er hat zugehört, hat Kranke geheilt, hat eine Frau vor der Steinigung bewahrt, hat Hungernde gespeist. Die praktische Hilfe wurde auch ein Kennzeichen der Urgemeinde. Und das zog die Menschen an. In dieser Gemeinschaft wurde jeder mit seiner Not gesehen. Niemand, der alt oder krank war, wurde an den Rand gedrängt. Das gab es nicht oft damals.

Verkündigung und Nächstenliebe gehörten bei den Christen zusammen. Daher wandten sich viele Menschen dem neuen Glauben zu.

Die Urgemeinde wurde größer und größer. Und mittendrin wirbelten die Apostel: Sie gingen in die Synagogen und verkündeten das Wort Gottes, sie tauften neue Gemeindeglieder, sie besuchten die Kranken und heilten viele von ihnen, sie sprachen ab, bei wem zu Hause am Abend das Abendmahl gefeiert wurde und kümmerten sich darum, dass jeden Abend genug zu essen da war.

Doch plötzlich machte sich Unzufriedenheit breit. Die Apostelgeschichte berichtet davon: „Es erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.“ (V. 1) Die Griechen beschwerten sich, dass ihre Witwen bei der Armenspeisung übergangen worden seien. Es gab nämlich zwei Gruppen in der Gemeinde: die einheimischen Judenchristen aus Jerusalem und die zugezogenen Judenchristen aus Griechenland.

Offensichtlich hat die Integration nicht richtig funktioniert. Vielleicht hatten sich die Griechen in den Augen der Alteingesessenen nicht ausreichend bemüht, Hebräisch zu lernen. Stattdessen sprachen sie weiterhin ihr Griechisch. Dafür nahmen es die hebräischen Christen dann nicht so genau mit der Versorgung der griechischen Witwen. Für diese war das verheerend. Meist waren sie nämlich mit ihren Männern erst im Alter aus Griechenland nach Jerusalem gezogen und hatten nun, nach dem Tod des jeweiligen Mannes, keine Familie vor Ort, die sie hätte versorgen können. Sie waren angewiesen auf die Unterstützung durch die Gemeinschaft.

Diese Probleme scheinen von unseren Schwierigkeiten heute gar nicht so weit weg zu sein. Im Jahr 2010 sind Frauen immer noch besonders von Altersarmut bedroht, denn auch heute sind es überwiegend verwitwete Hausfrauen oder alleinerziehende Mütter, die nicht die finanziellen Mittel haben, um sich im Alter selbst zu versorgen. Auch sie sind besonders auf Unterstützung angewiesen.

In der Jerusalemer Urgemeinde blieb die Hilfe aus. Deswegen das Murren der Griechen. Die Apostel hatten in allen ihren Umtrieben gar nicht gemerkt, dass ihnen nach und nach die Fäden entglitten waren. Die Gemeinde war einfach zu groß, sie konnten nicht mehr alles im Blick haben. Heute würden wir sagen: Hier war dringend eine Strukturreform nötig.

Es ist das „Schreckenszenario“ des modernen Pfarrers, der genauso wirbelt, wie die Apostel es getan haben. Er feiert die Sonntagsgottesdienste, hält Konfirmanden- und Religionsunterricht, besucht die Kranken der Gemeinde im Krankenhaus, gratuliert den Jubilaren ab 70 persönlich, steht dem örtlichen Diakonieverein vor, ist Personalchef von fünf Kindergärtnerinnen, leitet als Bauherr die Restaurierung des Gemeindehauses und ist zugleich seine eigene Sekretärin und sein eigener Küster, weil die Gemeinde klamm ist. Und auch dann entsteht ein Murren. Ein Murren in der Gemeinde, weil die Menschen sich die Frage stellen, was ihnen eine Pfarrerin bringt, die Kuchen bäckt und die gemeindeeigene Internetseite betreut und von Bauausschuss zu Bauausschuss läuft, aber plötzlich keine Zeit mehr dafür hat, die Kranken zu besuchen und den Geburtstagskindern im Namen der Gemeinde zu gratulieren. Und ein Murren unter den Pfarrern, die sich wünschten, sie hätten mehr Zeit für das, wofür sie ausgebildet wurden: die gedankenreiche Vorbereitung ihres Religionsunterrichtes oder die Konzentration auf die Predigt nächsten Sonntag. Auch hier möchte man manchmal laut rufen „Stopp! Ihr müsst hier etwas verändern!“ Denn zur verantwortungsvollen Leitung einer Gemeinde gehört es, Aufgaben zu delegieren. Und sowohl Gemeinde als auch Pfarrer spüren ja, dass etwas verloren geht, wenn einer alles machen soll. Dann geht nämlich der Kern der Aufgabe verloren. Und der ist, das Evangelium zu verkündigen.

Genau das begriffen auch die Apostel. Sie stellten fest: „Es ist nicht recht, dass wir uns um die Mahlzeiten kümmern und darüber das Wort Gottes vernachlässigen.“ (V. 2) Stattdessen wird ihnen klar: „Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“ (V 4)

Und so überlegten sie sich eine Stellenausschreibung. Wenn Sie, liebe Gemeinde, nun aber denken, die Apostel suchten nach Mitarbeitern, die soziale Kompetenzen mitbringen und noch besonders gut im Tellerwaschen sind, dann irren Sie sich. Dabei wäre es ja logisch gewesen, wenn die Apostel gesagt hätten: „Wir kümmern uns um die Verkündigung, dagegen sind für die Versorgung der Witwen und den Tischdienst geistliche Kompetenzen nun wirklich nicht wichtig.“ Doch die Apostel formulierten ihre Ausschreibung anders: „Wir suchen sieben Männer, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und Weisheit sind.“ (V. 3)

Guter Ruf, begabt mit Heiligem Geist und Weisheit. Den Aposteln ist klar, dass der diakonische Dienst an den Witwen nicht nur eine einfache Versorgungstätigkeit ist. Nein, sie wissen: Der Dienst der Nächstenliebe ist ein hohes geistliches Amt. Denn auch hier wird das Evangelium verkündigt – und zwar durch Wort und Tat, so wie Jesus dies eben auch nie getrennt hat. Zum gemeinsamen Essen gehört das Dankgebet, zur Versorgung mit dem Lebensnotwendigen gehört die Seelsorge. Die Mitarbeiter sollen auch geistliche Qualitäten mitbringen - und einen guten Leumund. Gerade in diesen Tagen sind wir besonders sensibel dafür, wie wichtig es ist, dass jemand einen untadeligen Lebenswandel hat, wenn ihm Menschen anvertraut werden. Die Nähe, die zwischen Versorgendem und Versorgtem entsteht, darf nicht missbraucht werden. Den Helfern soll außerdem anzumerken sein, dass sie getragen werden von ihrem christlichen Glauben. Daher schreiben die Apostel ins Stellenprofil: „voll des Heiligen Geistes“. Außerdem ist für die Aufgabe ein gerüttelt Maß Organisationstalent notwendig, damit nicht noch einmal jemand vergessen wird, auch wenn die Gemeinde weiter wächst. Daher wünschen die Apostel sich Weisheit bei ihren Mitarbeitern.

Liebe Gemeinde, erinnern Sie sich noch an die Stellenausschreibung der Diakonie vom Anfang? Einen wesentlichen Satz habe ich Ihnen vorenthalten. Er findet sich ganz am Ende der Ausschreibung und lautet: „Wenn Sie einer christlichen Kirche angehören, senden sie uns ihre schriftliche Bewerbung.“ Fast versteckt nach der langen Aufzählung von fachlicher und kommunikativer Qualifikation kommt diese letzte Bedingung ins Spiel: Wer innerhalb des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland mit Menschen arbeitet, der muss auch Mitglied einer Kirche sein, der soll sich bekennen zum Glauben an Jesus Christus. Denn die Diakonie ist kein Wohlfahrtsverband wie jeder andere. In ihren Krankenhäusern, in ihren Pflegediensten, in ihren Kindergärten soll erkennbar sein, dass Diakonie sich auf Jesus Christus gründet. Auch wenn das Diakonische Werk als Unternehmen wirtschaftlich arbeiten muss, darf sie niemals aus dem Blick verlieren, dass sie den Auftrag hat, die Liebe Gottes zu den Menschen zu tragen. Dies sollen die Patienten und Klienten spüren können. Da braucht ein Krankenhaus eben auch einen Klinikseelsorger, da ist es wichtig, dass Pflegekräften die Zeit bleibt für die Sorgen der ihnen Anvertrauten, da ist es selbstverständlich, dass in einem Kindergarten biblische Geschichten erzählt werden. Diakonie darf das Evangelium nicht aus dem Blick verlieren, sonst verliert sie ihr Zentrum.

Und um das zu erreichen, ist es nicht gleichgültig, wovon Menschen in ihrem Dienst am Nächsten getragen werden. Das macht uns die Profilbeschreibung der Apostel deutlich. Sie legen den Akzent eindeutig auf die geistliche Dimension des Amtes. Und die Gemeinde folgt ihnen darin. Sie wählen Männer ins Amt, die diese geistlichen Qualitäten mitbringen. Zum Beispiel Stephanus, der später die längste aller Predigten in der gesamten Apostelgeschichte halten wird und mit seinen Worten die Menschen so sehr anrührt, dass es den Oberen angst und bange wird, und sie Stephanus steinigen.

Die Urgemeinde hat mit der Berufung der sieben Armenpfleger den Grundstein gelegt für die Ausdifferenzierung der Ämter in unserer Kirche. Sie hat damit aber auch der Kirche ins Stammbuch geschrieben, dass keines dieser Ämter mehr oder weniger wert ist als das andere, oder dass es ein Amt geben kann in unserer Kirche, das nicht auch den Charakter der Verkündigung hat. Der diakonische Dienst der Nächstenliebe wird dem Kanzeldienst nicht untergeordnet. Und damit ist das Amt des Pfarrers nicht mehr wert als das der Katechetin oder des Diakons. Denn alle leisten sie auf ihre spezielle Weise einen Dienst an der Verkündigung des Wortes Gottes.

Deswegen werden kirchliche Mitarbeiter  für ihren Dienst gesegnet, als Zeichen dafür, dass sie von der Gemeinde beauftragt sind, an der Verkündigung des Wortes mitzuwirken. Jedes Jahr werden beispielsweise hier in der Stiftskirche des Johannesstifts junge Diakone für ihren Dienst feierlich gesegnet. Auch die Apostel legten den Mitarbeitern in der Armenpflege die Hände auf und beteten für sie.

Der heutige Predigttext ist ein Grundtext für die Ausdifferenzierung der Ämter. Damit bildet er auch eine Basis für die Entwicklung der funktionalen Seelsorgestellen wie  der Gehörlosenseelsorge. Hier wie dort steht dabei die Frage im Hintergrund: Wie können wir den Menschen die frohe Botschaft nahe bringen? In der Urgemeinde geschah dies auch dadurch, dass die Armen mit Speisen versorgt wurden und so von der Liebe Gottes erfuhren. In den Spezialdiensten der Kirchen bemühen die Mitarbeiter sich genauso, das Wort Gottes passend zur Situation der Menschen zu verkündigen. Denn es soll keinen Raum geben, den das Wort Gottes nicht erreicht. Unser Predigttext berichtet davon, dass die Bewegung hin zu den Menschen und ihren Bedürfnissen eine segensreiche Idee war. Denn noch mehr Menschen erfuhren dadurch von Gottes Wort. So heißt es zum Abschluss des Textes: „Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem.“ (V. 7)

Weil es wichtig ist, jeden Menschen in seiner besonderen Lebenslage aufzusuchen, haben sich die Spezialdienste entwickelt. So wagt sich die Seemannsmission aufs Wasser und besucht die Matrosen auf See, so gehen die Gefängnisseelsorger hinter Gitter und sprechen und beten mit den Häftlingen, so zieht die Schaustellerseelsorge den Buden hinterher und feiert Gottesdienste auf dem Rummelplatz, so hält der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union Andachten im Bundestag und besucht Politiker, wenn sie im Krankenhaus liegen -  und so schließlich verkündet die Gehörlosenseelsorge das Wort Gottes mit der Sprache der Gebärden. Überall sollen Menschen die Möglichkeit haben, Gottes gute Botschaft zu empfangen. So hat die Wahl der sieben Helfer für die Versorgung der Witwen auch den Weg dafür geebnet, dass Sie, liebe Gemeinde, heute gehörlos Gemeinde leben. Amen.