"Reformation und Bildung"

Andacht in der Stadtkirche zu Wittenberg

Liebe Gemeinde,

Kirchen sind Orte der Erinnerung. Hier feiern Menschen die großen Feste ihres Lebens. Taufe, Konfirmation und Trauung. Hier müssen sie aber auch Abschied nehmen – von Ehepartnern, von Eltern, von Kindern. Hochjubelndes Glück und abgrundtiefe Trauer beherbergen die Mauern der Kirchen seit Jahrhunderten und Jahrtausenden.

Vielleicht haben auch Sie, liebe Gemeinde, eine Kirche, an die Sie besondere Erinnerungen binden? Vielleicht die Kirche, in der Sie Ihre Konfirmation gefeiert haben. Waren Sie aufgeregt? Wie war es, feierlich in die Kirche einzuziehen, die Gäste zu sehen, die Ihretwegen gekommen sind, und vor und mit der Gemeinde den eigenen Glauben zu bekennen?

Vielleicht erinnern Sie sich aber lebhafter an die Kirche, in der sie getraut wurden. Spüren Sie noch die Atmosphäre Ihrer Traukirche? Wurde die Kirche besonders geschmückt? Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben: die Musik, die Worte des Pfarrers, die Ringübergabe?

Viele von Ihnen haben auch Ihre Kinder taufen lassen. Wissen Sie noch, ob das Kind still und zufrieden war, oder hat es die Worte des Pfarrers oder der Pfarrerin durch lautes Schreien bekräftigt?

Vielleicht ist ihre stärkste Erinnerung aber auch die Erinnerung an eine Beerdigung. Die Trauer um einen geliebten Menschen, von dem Sie Abschied nehmen mussten. Was sprach da die Kirche zu Ihnen? Hat sie Ihnen Schutz geben können? Haben Ihnen Bilder in der Kirche – ein Kruzifix oder eine Himmelfahrtsdarstellung – von der christlichen Auferstehungshoffnung Zeugnis gegeben?

Wenn die Steine der Mauern, auch der Mauern der Wittenberger Stadtkirche, reden könnten, dann würden sie viel erzählen von allen Tiefen und Höhen menschlichen Lebens. Es käme wohl jede Facette des Lebens in der Erzählung vor, denn die Kirchgebäude sind nicht auf einen Anlass festgelegt; in ihnen spielt sich die Bandbreite des gesamten Lebens ab. Und dazu gehören nicht nur die Feste, sondern auch der regelmäßige Gottesdienst der Gemeinde am Sonntag, ein seelsorgerliches Gespräch zwischen Pfarrer und Gemeindeglied oder das stille Gebet einer einzelnen Besucherin, die ihre Ängste und Wünsche vor Gott bringt.

Kirchen könnten uns viele Geschichten erzählen. Zugleich nehmen sie uns mit hinein in die Gemeinschaft derer, die in ihren Mauern gelacht und geweint haben, ihre Ängste und ihren Dank ausgesprochen haben, die hier geklagt, gesungen und gebetet haben. Über die Generationen hinweg wurde und wird in den Kirchen Gottesdienst gefeiert zum Lob Gottes. Und so werden die Kirchengebäude Zeuge von dem, was wir gerade im Psalm gebetet haben:

„Eines bitte ich vom HERRN, das hätte ich gerne: dass ich im Hause des HERRN bleiben könne mein Leben lang, zu schauen die schönen Gottesdienste des HERRN und seinen Tempel zu betrachten. Denn er deckt mich in seiner Hütte zur bösen Zeit, er birgt mich im Schutz seines Zeltes und erhöht mich auf einen Felsen.“ (Ps 27,4f)

Der Psalm spricht die Sehnsucht und die Bitte eines einzelnen Gläubigen aus. „Ich möchte im Hause des Herrn bleiben mein Leben lang!“ Das ist eine Bitte, die nur derjenige verstehen kann, der in der Kirche die Fülle der Lebensgefühle zentriert erfahren hat oder diese sucht. In der Kirche mit ihren Lieder, ihren Texten, ihren Bildern, ihrer Orgelmusik, rauscht die mögliche Fülle des Lebens durch die Adern. Lang vergessene Gefühle steigen empor, brechen sich Bahn und zeigen mir an, was mir eigentlich fehlt und wie geistlich arm ich doch bin. Hier erfahre ich, dass es mehr gibt als mir jeden Tag auf allen Kanälen suggeriert wird. Hier komme ich her, um wieder in Kontakt mit mir selbst zu treten, um zuzulassen, was ich sonst verdränge, meiner Seele Raum zu geben, die doch sonst an die Wand gedrückt wird.

Was für ein Wunsch des Psalmbeters: zu bleiben im Hause des Herrn immerdar! Wer sagt das schon heute, wo doch der Austritt aus der Kirche anhält, wo der Weg ins Freie, die Flucht aus der Institution, aus dem Raum der Kirche quasi als Heilsweg beschritten wird. „Zu schauen die schönen Gottesdienste des Herrn.“ Und was beobachten wir: Viele Besucher verlassen so manche Kirchen, die sie wie ein Museum besichtigen wollen, fluchtartig, wenn diese auf einmal anfangen dafür da zu sein, wofür sie gebaut wurden, nämlich zum Lob Gottes in Andachten und Gottesdiensten. Dort, wo dem Schauen und Hören mit einem Audioguide das Erleben des Wahrhaftigen folgen könnte, macht sich die Angst, die Furcht vor dem Kennenlernen der Tradition im Heute als lebendiger Glaube breit. Oh wunderbare Welt der gefühlten Neutralität und vor sich her geschobener Monstranz der Toleranz.

Nicht so der Psalmbeter; er weiß, was er am Erleben eines Gottesdienstes hat. Er weiß um die Strahlkraft, die die Seele erhellen kann. Er weiß um das Gehaltensein durch die liturgischen Vollzüge. Und kennen wir diese Sehnsucht nicht auch: bei Gott Geborgenheit zu finden; in den Mauern des Hauses Gottes zu spüren, dass Gott mein Licht und mein Heil ist, so dass ich mich vor niemandem fürchten muss? Im Lob Gottes versichert werden, dass der HERR meines Lebens Kraft ist und mir daher vor nichts und niemand grauen muss.

Der HERR ist mein Licht und mein Heil, davon zeugt die Stadtkirche in Wittenberg auf ganz besondere Weise. Gott ist nicht der Richter, der am Ende des Lebens unbarmherzig über die Menschen urteilt und nur ihre Fehler sehen kann; ein Richter, vor dessen Strafe sich die Menschen nur freikaufen können durch gute Werke oder gutes Geld. Nein, Gott nimmt die Menschen an mit ihrer Sündhaftigkeit, er spricht ihnen die Gerechtigkeit zu allein aus Gnade. Weil Jesus Christus die Welt mit Gott versöhnt hat. Im Glauben dürfen Menschen auf Gottes Liebe vertrauen. Diese Botschaft hallte erstmals durch diese Kirche, als Martin Luther, Johannes Bugenhagen und andere Reformatoren hier predigten. Wie müssen diese Worte in den Herzen der Menschen gebrannt haben, als ihnen auf diese Weise von Gott gepredigt wurde! Welche Ketten der Angst wurden da aufgesprengt, die sich um die Herzen der Menschen gelegt hatten? Gott ist nicht mein Verhängnis, sondern Gott ist mein Licht und mein Heil.

Weil die Stadtkirche Schauplatz der Reformation war, ist sie ein ganz besonderer Ort der Erinnerung, nicht nur einzelner Menschen, sondern der gesamten Gemeinschaft der evangelischen Christen. Und weil die Reformation nicht nur die Kirche verändert hat, sondern auch Deutschland und die europäische Kultur geprägt hat, ist sie auch ein besonderer Erinnerungsort unseres Landes.

Daher kommen jährlich tausende Besucher aus aller Welt in die Kirche. Manche Menschen kommen wohl nur, weil sie den berühmten Cranach-Altar sehen wollen. Andere wollen den Ort dieser wichtigen geschichtlichen Ereignisse betreten. Wieder andere kommen, weil sie die Kirche erleben wollen, in der ihr Vorbild Martin Luther gepredigt hat, in der er getraut wurde und in der seine sechs Kinder getauft wurden. Viele Menschen kommen, weil sie hier den Wurzeln ihrer Konfession begegnen. Alle diese Menschen, die hierher kommen, empfängt die Kirche mit ihrer Geschichte. Sie bietet ihnen an, in ihren Mauern in der Stille die Gedanken schweifen zu lassen, Fragen an das eigene Leben zu stellen, Ruhe zu finden. Und sie lädt sie ein, im Haus des Herrn zu bleiben, die schönen Gottesdienste des HERRN zu schauen und den Schutz des Zeltes Gottes zu suchen.
Amen.