"Von Träumen und Visionen"
Andacht zu den Träumen Josefs, Gen. 37, 1-11
Jede und jeder hat Träume, Ideen, Vorstellungen und Visionen. Träume und Visionen sind notwendig für uns, vor allem im politischen Denken und Arbeiten. Sie sind wichtig, weil wir uns ein Bild malen, wie wir uns die Welt denken oder sie uns wünschen. Sie können uns inspirieren, ein Antrieb oder Aufgabe sein.
Um Träume und Visionen umzusetzen und zu erreichen, müssen wir sie irgendwann in der einen oder anderen Form mitteilen und erkennbar werden lassen. Es gilt also das im Kopf gemalte Bild in einer Ausstellung oder Galerie aufzuhängen und anderen vorzustellen. Damit macht man das Bild, das bislang im Atelier der Gedanken ungesehen entstanden ist, öffentlich. Dann steigt die Spannung, denn jetzt sehen es andere. Wie werden sie sich dazu verhalten? Man kann Zustimmung und Lob, Anerkennung und Unterstützung erhalten. Ebenso können auch Kritik und Widerspruch, Fragen und Zweifel daran aufkommen. Mit dem Ausstellen eines Bildes, wie beim Erzählen von Träumen und Visionen, kann man ebenso Neider wecken und auf Unverständnis stoßen.
Von einer Person, der Unverständnis und auch Neid widerfahren sind, lesen wir am Ende des Buches Genesis. Die Geschichte des Josef erzählt von den Träumen des jungen Mannes, den Bildern, die er vor seinem inneren Auge sieht und sich ausmalt, und dem Neid seiner Brüder.
In seinem ersten Bild sieht Josef, wie er und seine Brüder des Tags auf dem Feld ihre Arbeit verrichten und die Ähren zusammensammeln. Es ist ein normaler Arbeitstag draußen auf den Feldern, die Sonne scheint und die mühselige Arbeit geht langsam voran. Die jungen Männer schuften hart und Schweißperlen blitzen auf der Stirn jedes Einzelnen. Sie schichten die Getreidehalme, die sie vom Boden auflesen, auf ihre Arme bis sie ein großes Bündel zusammen haben. Die gesammelten Ähren binden sie zu Garben und stellen sie auf. Auch wenn diese Tätigkeit heute kaum mehr bekannt ist, war sie eine sehr wichtige bei der Ernte des Getreides. Josefs Garbe ist ausgesprochen gelungen und sie steht aufrecht, gerade und schön da. Lauter wohlgeformte Halme mit großem Ertrag an Körnern hat er zusammen gebunden. Die Garben der Brüder dagegen stehen nicht so makellos. Ihre Ähren lassen die Köpfe hängen, stehen schief, abgeknickte Getreidehalme mit wenig Korn daran und die eine oder andere Garbe mag auch umgefallen sein. Am Ende des Traumbildes versammeln sich die Garben der Brüder im Kreis um die von Josef. Sie steht im Mittelpunkt und glänzt durch ihre Schönheit. Sie strahlt aus der Mitte heraus und ihre Makellosigkeit besticht und lässt die Gebinde um sie herum in einem blassen Licht erscheinen. Die Ährenbündel der Brüder verneigen sich schließlich vor Josefs. Sie huldigen seiner Garbe, indem sie sich tief vor ihr beugen.
Bald darauf erzählt Josef ein neues Bild aus seiner Traumgalerie. In diesem sieht er Sonne, Mond und Sterne. Letztere sind so viele wie Josef Brüder hat. Die Himmelskörper scheinen und strahlen in ihrer gewohnten Weise. Die Sonne warm, hell und klar mit ihren kräftigen Strahlen, auf die die Menschen angewiesen sind. In seiner typischen Art schimmert der Mond silber-bläulich und lauter und er glänzt wie man ihn sonst nur aus besonders klaren Nächten kennt. Ähnlich die Sterne: auch ihr feierlicher Glanz strahlt schier und ungetrübt. So schön Sonne, Mond und Sterne auch leuchten, in diesem Bild ziehen sie dennoch nicht die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Zum Ende des Traumes scharen sich Sonne, Mond und elf Sterne um Josef. Er steht im Mittelpunkt und wird so der goldene Schnitt seines Traumbildes. Wie zuvor die Ähren vor Josefs Garbe, senken nun die Himmelskörper ihre Häupter und verneigen sich vor dem jungen Mann in ihrer Mitte.
Es sind außergewöhnliche Bilder, die sich in Josefs Traumwelt ergeben und erscheinen. Beide Bilder hängen in seiner Traumgalerie und er macht sie Betrachtern zugänglich.
Josef erzählt die beiden Traumbilder seinen Brüdern. Sie reagieren nicht sonderlich begeistert. Ohnehin waren sie schon schlecht auf ihren Bruder zu sprechen, da dieser von ihrem Vater besonders geschätzt wurde. Außerdem hat er als Zeichen der besonderen Wertschätzung ein buntes Kleid erhalten. Das hatte schon Neid geweckt. Die beiden Träume befeuern den Argwohn und die Missgunst, die die Brüder bereits hegen zusätzlich. Sie fassen einen Entschluss: Josef wird nach Ägypten verkauft.
Durch das Erzählen seiner Träume beginnt für Josef ein langer, anstrengender Weg, auf dem er mehrmals angegriffen wird und seine Visionen zunächst lange unwirklich und realitätsfern scheinen.
Erst nach einer ganzen Weile erfüllen sich Josefs Träume oder Visionen. Mittlerweile ist er zum obersten Beamten in Ägypten aufgestiegen. Auf seine Anweisung hin wurden in den erntereichen Jahren Kornspeicher errichtet, die sich nun auszahlen. Auch wenn die Ernten nach sieben fetten Jahren nun sehr mager ausfallen, ist das ägyptische Volk, dank der Kornspeicher, versorgt und muss nicht hungern. In den Nachbarländern hingegen herrscht Not und daher machen sich Josefs Brüder auf, um in Ägypten um Nahrung zu bitten. So kommt es, dass sie bei Josef vorsprechen, ohne dass sie ihn wiedererkennen. Sie verneigen sich vor ihm und bitten ihn um Getreide. Damit haben sich Josefs Träume aus Jugendjahren erfüllt. Trotz vieler Widrigkeiten hat er am Ende Recht behalten. Jetzt kann er sich der Richtigkeit seiner Träume gewiss sein und so am Ende der Novelle sagen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“ (Genesis 50,20).
In der Galerie der Traumbilder passen nicht alle Bilder zusammen. Der Unterschied in Stil und Aussage kann zu groß, einfach unvereinbar, sein. Mit Sicherheit ruft es Kritiker auf den Plan. Wen das Störfeuer der Kritiken erfasst, hat es schwer, seinen eigenen Stil zu behalten, ihm treu zu bleiben und weiterhin dazu zu stehen. Man muss entscheiden, ob man ein Bild anpassen kann und will oder ob man mit der Unvereinbarkeit leben kann oder will. Gleichzeitig eröffnet sich durch Reaktion von außen die Chance, neue Anregungen zu erhalten. Das Bild kann konstruktive Kritik bekommen und Verbesserungsmöglichkeiten geraten dadurch in den Blick. Das eigene Gemälde kann ausgereifter und besser werden, wenn man sich darauf einlässt. Dabei bewegt man sich auf dem schweren Grad, die eigene Linie nicht komplett zu verleugnen und aufzugeben und gleichzeitig offen für Anregungen zu sein. Es wird auch Situationen geben, in denen man einfach zu seinem Bild und den eigenen Gedanken stehen muss und sie gegenüber anderen verteidigen.
In unseren Träumen betreten wir ungewohntes Gelände, wir können uns in Räumen bewegen, die uns in der Realität verschlossen sind. Das hindert nicht sich darin im Geiste zu bewegen, sie sich anzusehen und auszumalen, zu erkunden und sich vorzustellen. Im Kennenlernen solcher Räume setze ich mich mit ihnen auseinander, überlege mir meine Reaktionen und mein Verhalten, lasse mich auf sie ein. Ja, es kann sich in mir eine regelrechte Vorfreude entwickeln, die wie ein Katalysator wirken kann. Sie treibt an, die im Traum betretenen Räume Realität werden zu lassen.
Wenn diese Räume dann Realität werden, bin ich darauf vorbereitet und habe meinen ersten Gedankenprozess mit ihnen längst abgeschlossen. Dadurch kann mir der Umgang leichter fallen und ich kann mich schneller in den jetzt realen Räumen bewegen und zurechtfinden. Mit Erwartungen und der Vorfreude und den Träumen, manchmal auch Befürchtungen, die jetzt wahr geworden sind, hat man selbst bereits gelernt umzugehen.
Josef muss nicht nur Kritik für seine Träume, sondern schwerwiegende Folgen für sein Leben in Kauf nehmen. Doch er hält an seinen Träumen fest, sie bedeuten ihm viel und er weiß, dass er sie mit Gott geträumt hat. Er hält die Spannung aus, er muss viel einstecken, aber er steht zu seinen Traumbildern. In seinem Festhalten, das zeigt uns die Josefsgeschichte, wird er belohnt. Am Ende werden seine Bilder wahr. Wir erkennen, wie Gottes Segen auf Josefs Leben liegt. Gott hilft, unterstützt und segnet Menschen mit Visionen, die trotz Widrigkeiten an diesen festhalten. Möge er auch uns immer wieder die Kraft geben, die Dinge voranzubringen, die mehr Gerechtigkeit, Umsicht und Menschlichkeit in unserer Welt Realität werden lassen.