41. Studienkurs des Arbeitskreises Kirche und Sport der EKD
Bibelarbeit zu Micha 6,8
Bibelarbeit während des 41. Studienkurses des Arbeitskreises Kirche und Sport der EKD am 2. Februar 2011 in Sils /Maria (CH)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kirchen- und Sportbegeisterte,
ein kleiner Bolzplatz in einem Slum von San José, der Hauptstadt Costa Ricas. Zahlreiche Jungen und Mädchen stehen in kleinen Kreisen beieinander. Sie halten sich an den Händen. Mit den Füßen versuchen sie, den Fußball möglichst lange in der Luft zu halten. Der Ball hüpft von Fuß zu Fuß. Jetzt wäre er ihnen fast auf den Boden gefallen, aber Carlos rettet das Spiel in letzter Sekunde. Geschickt lüpft er den Ball in die Höhe und spielt ihn dann Ana zu, die ihn souverän an Fernando weitergibt. Das Spiel geht weiter. Und mit diesem Spiel sind wir schon mittendrin in den Themen von Nachhaltigkeit und Sport, die uns auch in dieser Bibelarbeit beschäftigen sollen.
1. Begriffsbestimmung
Der Begriff der Nachhaltigkeit hat Konjunktur – ein „modisches Sprichwort“, wie es in der Ausschreibung des Studienkurses hieß. Das merken Sie spätestens, wenn Sie „Nachhaltigkeit“ googeln. Ungefähr 6.600.000 Treffer verzeichnet die Suchmaschine – ich habe mir nicht die Mühe gemacht, alle nachzuschlagen. Bei einzelnen Stichproben wird aber deutlich, dass inzwischen fast alle Lebensbereiche mit Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht werden. Da wird von Nachhaltigkeit von E-Learning-Innovationen gesprochen und von der Nachhaltigkeit in der Kantine. Sie finden Tipps zu nachhaltigem Bauen und sind eingeladen, sich am Dialog über die Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland zu beteiligen. Und Sie sollten auf jeden Fall einen nachhaltigen Lebensstil führen. Auch bei uns in der Kirche hat die Nachhaltigkeit Konjunktur. So fasste die Präses der Synode der EKD auf der Synodaltagung im vergangenen November in Hannover den begonnenen Reformprozess mit der Feststellung zusammen: „Viele Jahre haben wir einfach nur Holz geschlagen, ohne aufzuforsten. […] Mit dem Reformprozess hat das Aufforsten, das nachhaltige Wirtschaften begonnen.“ Katrin Göring-Eckardt griff mit ihrer Feststellung auf die Wurzeln des Begriffs zurück, der ja aus der Forstwirtschaft stammt.
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist also in aller Munde. Gerade deswegen möchte ich Ihnen sagen, wie ich ihn verstehe. Ich lehne mich dabei an an die bekannte und verbreitete Definition des Brundtland-Berichts von 1987 der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen: "Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Nachhaltigkeit kann dabei nicht isoliert ökologisch betrachtet werden, sondern hängt zugleich mit sozialen und ökonomischen Faktoren zusammen. Dies stellte die Konferenz für Umwelt und nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro 1992 fest. Nachhaltigkeit basiert also auf drei gleichberechtigten Säulen: Der Ökologie, der Ökonomie und dem Sozialen. Sie berührt damit ein Kernthema der Bibel, nämlich die Frage nach der Gerechtigkeit.
2. Die Herausforderung des Klimawandels
„Schneller – höher – weiter“ ist das gegenwärtig geltende Prinzip. Die Entwicklung der vergangenen Jahre stellt dieses aber grundlegend in Frage. Denn der Klimawandel hat schon eingesetzt, obwohl erst ein Viertel der Weltbevölkerung Anteil hat am technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt. Drei Viertel der Weltbevölkerung warten noch darauf, dass auch ihre Länder sich so entwickeln, dass sie den westlichen Lebensstandard erreichen. Die Biosphäre wird das nicht aushalten. Daher stellen sich zwei Alternativen: Entweder wird den drei Vierteln der Weltbevölkerung der Fortschritt verwehrt, damit die Natur nicht weiter belastet wird. Oder es gelingt, Fortschritt so zu entwickeln, dass die Ressourcen geschont werden. Somit wird deutlich, dass die zukünftige Entwicklung wesentlich auch eine Frage der Gerechtigkeit ist.
Brot für die Welt, der Evangelische Entwicklungsdienst und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland haben gemeinsam die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ (kurz ZD²) herausgegeben, die das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie erarbeitet hat. Diese Studie fordert als Antwort auf die Alternative „ungleiche Entwicklung“ oder „Zerstörung der Natur“ nichts geringeres als einen Zivilisationswandel. Kennzeichen dieses Wandels sei wesentlich der Übergang zu einer postfossilen Zivilisation. Drei große Lebensbereiche seien davon betroffen: Erstens brauche es neue Technologien, um Gebäude, Textilien, Kraftwerke usw. so zu verändern, dass sie weniger Ressourcen verbrauchen. Hier werden also v.a. Industrie und Wissenschaft aufgefordert zu handeln. Zweitens müsse die freie Dynamik des Marktes begrenzt werden durch die Einhaltung der Menschenrechte und durch die Erkenntnisse der Ökologie. Dazu brauche es eine breite gesellschaftliche Diskussion sowie entsprechende verbindliche Regelwerke. Die einzelnen Gesetzgeber wie die Internationale Gemeinschaft sollen solche Regelwerke finden. Doch auch die Zivilgesellschaft wird in die Pflicht genommen. Denn drittens müssten sich die Leitbilder in der Gesellschaft verändern. Zu diesen neuen gesellschaftlichen Leitbildern schreibt das Wuppertal Institut: „Es werden Leitbilder sein, welche eine ganzheitliche Wahrnehmung zum Ausdruck bringen und um die rechte Balance zwischen Mensch und Natur kreisen. Und es werden Leitbilder sein, welche eine kosmopolitische Verantwortung widerspiegeln und die persönliche Lebensführung mit dem globalen Kontext in Verbindung bringen.“ Statt „schneller – höher – weiter“ soll es in Zukunft also heißen: „anders – besser – weniger“.
3. Ein biblisches Leitbild: Mi 6,8
Wir sollen unser Leben an neuen Leitbildern ausrichten. Wie „Nachhaltigkeit“ ist auch das Wort „Leitbild“ en vogue, doch Leitbilder sind durchaus keine moderne Erfindung. Wir Christen finden Leitbilder für unser Leben in der Bibel. Denn die Bibel ist ja eine einzige Auseinandersetzung damit, wie Menschen gut und gerecht miteinander und vor Gott leben können. Ein Mann, der knapp und präzise ein solches Leitbild für das Leben formuliert hat, war der Prophet Micha. Er schrieb den Menschen ins Stammbuch: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.“ Mit seinem Wort beschreibt der Prophet zunächst die Grundlage eines solchen Leitbildes, um dann auch konkret und lebensnah Handlungsanweisungen zu geben. Im Folgenden will ich auf die grundlegende Basis dieses Leitbildes eingehen und danach die drei konkreten Maximen beleuchten, mit deren Hilfe Micha das gute und gerechte Leben verwirklicht sehen will: 1. Das Wort Gottes halten, 2. Liebe üben und 3. demütig sein vor deinem Gott.
Doch vorher regt sich Widerspruch: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist.“ Wenn das so einfach ist, warum gibt es dann den Klimawandel? Warum bringt dann das Verhalten eines Viertels der Menschheit die Erde aus dem Gleichgewicht, ohne dass Rücksicht genommen wird auf die restlichen drei Viertel, die die Folgen genauso zu tragen haben? Wie ist das mit dem, was gesagt ist? Bevor ich mich der Auslegung des Verses aus Micha zuwende, scheint es mir notwendig, kurz auf die traditionelle Auslegung des Ersten Schöpfungsberichtes und auf das Verhältnis des Christentums zur Natur einzugehen.
4. Zum traditionellen Verhältnis von Christentum und Natur
Ihnen Allen wird der Vorwurf eines der Gründungsväter der GRÜNEN, des auch gern als bayerischen Links-Katholik bezeichneten Carl Amery, in den Ohren klingen: „Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums“. In diesem Essay von 1972 wirft der Schriftsteller dem Christentum vor, die geistige Basis für die Umweltzerstörung gelegt zu haben. Er stützt sein Urteil vor allem auf den Ersten Schöpfungsbericht und den darin enthaltenen Auftrag des dominium terrae. Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht. So heißt es in Gen 1,28. Tatsächlich wurde dieser Herrschaftsauftrag bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein immer wieder als göttliche Rechtfertigung dafür verwendet, „sich die Erde mit all ihren natürlichen Ressourcen zur Mehrung der eigenen Lebenschancen untertan zu machen.“ Ein solches anthropozentrisches Verhalten entsprach ja auch anscheinend der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26f), von der die Vorrangstellung des Menschen vor der Tier- und Pflanzenwelt abgeleitet wurde. Doch nicht nur die Auslegung des Ersten Schöpfungsberichtes begünstigte die Spaltung zwischen Mensch und Natur. Auch Hamartiologie und Soteriologie, also die Lehre von der Sünde und die Lehre vom Heil, trugen zu einem negativen Weltverhältnis der Christen bei. Die Welt nämlich wird als Ort der Verführung zur Sünde identifiziert. Dementsprechend wird das Heil nicht in dieser Welt, sondern in einer anderen, im Eschaton erwartet. Der immanenten Welt mangelte es also immer wieder daran, Ziel der Hoffnung zu sein. So musste auch kein Wert auf ihre Erhaltung gelegt werden.
Gerechterweise möchte ich aber hinzufügen, dass es im Christentum durchaus zu allen Zeiten Menschen und Bewegungen gegeben hat, die der Natur einen hohen Stellenwert zugeschrieben haben. Die Alte Kirche beispielsweise hat die Lehre der Marcioniten als Häresie verurteilt, die die Natur als Schöpfungswerk eines bösen Demiurgen angesehen hatte. In eine ähnliche Richtung wies das Gedankengut der Katharer im Mittelalter, und auch diese Lehre wurde mit dem Anathema belegt. Noch heute werden Menschen bewegt vom sog. „Sonnengesang“ des Franz von Assisi, der Gott für seine Schöpfung preist. Und lange vor der modernen Umweltbewegung finden sich Ansätze einer ökologischen Ethik z.B. bei Adolf Schlatter (1852–1932), wenn er von der „Erfurcht vor der Wirklichkeit“ spricht, in der alles Geschaffene seinen je eigenen Wert habe.
Dennoch waren solche Stimmen vereinzelt und sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die christliche Ent-Sakralisierung der Natur und die Identifizierung der Gottebenbildlichkeit des Menschen mit dem Herrschaftsauftrag tatsächlich ihren Beitrag geleistet haben zu einem ausbeuterischen Umgang mit der Umwelt. Die Sicht des Christentums auf die Schöpfung war überwiegend anthropozentrisch. Die Aufklärung und in ihrer Folge der methodische Atheismus der Wissenschaft trieben die Entwicklung dann radikal voran.
Warum mache ich nun diese Ausführungen? Thema dieser Bibelarbeit ist ja nicht die Ursachenforschung für den Klimawandel. Und ich will bestimmt auch nicht mit einer großen Geste ein mea culpa bzw. nostra culpa anstimmen, auch wenn dies gut protestantisch wäre. Nein, mir geht es darum, dass wir uns bewusst machen, dass wir heute, im Jahr 2011 und unter dem Eindruck des Klimawandels, biblische Texte anders lesen als frühere Generationen. Dass wir sie sogar gegen die Tradition lesen. So wird der Herrschaftsauftrag heute neu interpretiert, z.B. bei Wilfried Härle. Er schreibt: „Das Herrschen, das nach biblischer Aussage dem Menschen neben dem Bebauen und Bewahren eingeräumt und angewiesen ist, ist zu verstehen als das Handeln, durch das der Mensch den Lebensraum für sich und die übrigen Geschöpfe bewahrt.“ Oder noch deutlicher eine Arbeitshilfe von Brot für die Welt und eed zum Thema Klimawandel: „Die Erde bebauen und bewahren, die Welt gestalten und gleichzeitig das Leben fördern: Man kann kaum eine prägnantere Formulierung für das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung finden.“
Wir bemühen uns also um eine neue und zeitgemäße Interpretation biblischer Texte. Ein solches Ringen um eine Auslegung, die uns nach unserem Kenntnisstand und unserem Verständnis richtig erscheint, ist nicht nur erlaubt, sie ist auch notwendig. Denn genau sie ist die hermeneutische Aufgabe jeder Theologie zu allen Zeiten.
Nach diesen Ausführungen zu Exegese und Hermeneutik nun aber endlich zurück zu dem Text, der eigentlich dieser Bibelarbeit zugrunde liegt: das Leitbild des Propheten Micha. Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
5. Grundlegung
Der Prophet Micha lebte und predigte im Dorf Moreschet südwestlich von Jerusalem etwa 730 Jahre vor Christi Geburt. Dort war er vermutlich so etwas wie ein Dorfältester, weshalb er auch das Recht bekam, in Jerusalem öffentlich zu sprechen. Er selbst bezeichnete sich nicht als Propheten. Diesen Titel erhielt er erst später, nachdem sich seine Worte als prophetisch erwiesen hatten. Und das taten sie weit über die Zeit seines Wirkens hinaus. Noch 100 Jahre später, als Jerusalem von Nebukadnezar II. erobert wurde, erinnerte man sich an Michas Bilder von der Zerstörung Jerusalems. Seine buchstäbliche „Zu-Recht-Weisung“ wurde für das Israel im Exil und später bei der Sammlung und Heimkehr zur Keimzelle neuer Hoffnung. Deswegen wurden auch spätere Texte, die in deuteronomisch-deuteronomistischem Geist das Anliegen Michas weitertrugen, seiner Urheberschaft zugeschrieben. Zu diesen späteren Texten gehört wohl auch der Abschnitt unseres Bibelverses.
Die prophetischen Worte sind klar und hart. Die Zuschreibung ist daher nicht von ungefähr. Denn wenn es um das rechte Zusammenleben in einer Gesellschaft geht, ist Micha der richtige Mann. Er rechnete ab mit raffgierigen Reichen, korrupten Richtern, betrügerischen Geschäftsleuten, unehrlichen Priestern und vor allem mit den falschen Propheten. Jene, die für Geld sprachen und nicht für das Recht. Für dieses Recht aber in einer Welt des Unrechts setzte sich Micha kämpferisch ein. Die wirtschaftliche Not der Bürger in der Stadt und die Armut und Ausbeutung der Bauern außerhalb ließ ihm keine Ruhe. Micha wollte eine gerechte Gesellschaft. Er wollte, dass nicht einige wenige ihre Bedürfnisse auf Kosten der Anderen stillten. Natürlich hat Micha noch nicht an den Klimawandel und seine Folgen gedacht. Doch wer den Klimawandel aufhalten will, muss sich eben auch um die Frage der sozialen Gerechtigkeit kümmern. In Rio 1992 wurde das unterstrichen: „Ohne Umwelt, so die Botschaft, keine Entwicklung, und ohne Entwicklung keine Umwelt. Das Schicksal der Natur und das Erlangen internationaler Gerechtigkeit sind als miteinander verschränkt erkannt worden.“ Daher passt das Wort des Propheten auch in unsere Situation. Denn ob in Israel viele Jahrhunderte vor Christus oder in der globalisierten Welt im dritten Jahrtausend nach Christus: Das Zusammenleben der Menschen ist wesentlich eine Frage der Gerechtigkeit.
Die Ungerechtigkeit prangert Micha an. In der redaktionellen Komposition des Buches ist der Vers 8 des 6. Kapitels der Höhepunkt der Zurechtweisung. Während es in den vorangehenden Kapiteln erst um die Schuld und das Unheil Samarias, Judas und Jerusalems und dann um das künftige Heil Israels geht, kündigt der Prophet im 6. Kapitel Gottes Gericht an. Ich lese daraus die Verse 2-8:
2Höret, ihr Berge, wie der HERR rechten will, und merkt auf, ihr Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen! 3„Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! 4Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. 5Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit ihr erkennt, wie der Herr euch alles Gute getan hat.“ 6„Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern? 7Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?“ 8Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“
5.1 Ein Paradigmenwechsel - Vom Sühneopfer zum eigenverantwortlichem Handeln
Dieser Abschnitt beginnt mit einer unheilvollen Drohrede des Propheten: Er kündigt das Gericht Gottes an (der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!; V. 2). Und er fügt gleich darauf an, warum Gott das Recht hat, das Volk zu richten. Er hat schließlich alles für sein Volk getan, er hat es aus Ägypten befreit und es unversehrt ins gelobte Land gebracht. Daran sollte sich das Volk erinnern (V. 3-5). Danach kommt der Angeklagte zu Wort. Er steht pars pro toto für das ganze Volk. Und er fragt ängstlich angesichts seiner Schuld: Wie soll ich Gott entgegentreten? Drei Ideen hat er, wie er Gott besänftigen könnte. Von keiner ist er so recht überzeugt: Werden ein paar kraftvolle Kälber ausreichen, um JHWH zu besänftigen? Oder braucht es schon mehrere tausend ausgewachsene Widder und Unmengen von Öl? Oder muss das Volk bis zum Äußersten gehen und seine Erstgeborenen opfern? Diese Handlungsalternativen glaubt der Angeklagte zu haben. Sie bewegen sich alle innerhalb der Vorstellung des Sühneopferkultes. Dieser Kult folgt dem Prinzip des Besänftigens und des Freikaufens, z.B. durch ein Brandopfer. Angesichts der Schwere der Schuld ist dem Beklagten allerdings bewusst, dass dieses Prinzip an seine Grenzen stößt. Denn das äußerste Mittel, das er sich vorstellen könnte, ist geradezu frivol und nebenbei illegal. Denn die Opferung der Erstgeburt war schon damals innerhalb des JHWH-Kultes ausgeschlossen. Das Volk findet also keine adäquate Ausgleichsleistung für die anerkannte Schuld. Das Paradigma des Sühneopfers wird ad absurdum geführt.
Damit ist unser Vers 8 vorbereitet. Mitten in die angsterfüllte und unbeantwortete Frage, was die Menschen tun sollen, um für getanes Unrecht zu bezahlen und die Strafe dadurch abzuwenden, antwortet Micha: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert.“ Die Menschen werden von irgendwelchen äußeren Opfern auf sich selbst zurückverwiesen. Nicht eine nachträgliche Wiedergutmachung ist gefragt, sondern richtiges Handeln von Anfang an. Das Wissen darum, was gutes Handeln ist, ist ihnen längst mitgeteilt worden.
Dem Hörer des Propheten stellt sich da unmittelbar die Frage: Was wurde denn schon mitgeteilt? Was ist gemeint? Die zahllosen Gesetzesvorschriften? Die Zehn Gebote? Das würde nicht ausreichen. Die gesamte Heilsgeschichte, die Gott bisher mit seinem Volk gegangen ist, beinhaltet das Gute, das dem Menschen gesagt ist. Daran hat JHWH selbst ja gerade erinnert (V. 4). Dieses Gute ist das Leben in Freiheit. Dass die Menschen dieses Geschenk bekommen haben, sollte sie zum Nachdenken anregen darüber, wie sie mit dieser Gabe umgehen. Es sollte ihr Handeln beeinflussen. Daher „fordert“ Gott eigentlich gar nicht richtiges Verhalten, sondern er „sucht“ es bei den Menschen, so nämlich die Grundbedeutung des hebräischen Verbes daraš, das an dieser Stelle steht. Nicht aufgrund eines äußeren Zwanges sollen sie recht handeln, sondern aus Dankbarkeit. Gott fordert nicht ein materielles Opfer, sondern er hofft auf die innere Haltung. Hier findet also ein Paradigmenwechsel statt, der für unser heutiges Fragen nach den ethischen Möglichkeiten bedeutsam ist: Freiheit von Schuld wird nicht durch nachträgliche Opfergaben erkauft. Gott fragt nicht nach dem „Womit“, sondern er fragt nach dem „Wer“. Jeder einzelne Mensch selbst – du (!) – bist die Antwort auf die Suche Gottes. Denn du, Mensch, weißt, was gut ist, und es ist deine Aufgabe, dies zu verwirklichen.
6. Konkrete Weisungen
Der Prophet Micha kritisiert sehr scharf und fordert persönliche Verantwortung ein. Aber er lässt die Kritisierten nicht mit einer abstrakten Forderung allein. Vielmehr zeigt Micha einen Weg, auf dem es möglich ist, Gerechtigkeit zu leben. Dafür benennt er drei grundlegende Maximen, die das Leben der Menschen prägen sollen.
6.1 Das Wort Gottes halten
Als erste Handlungsmaxime nennt Micha: Gottes Wort halten. Wörtlich: „das Recht üben“. Mit dem Recht meint Micha die Rechtsordnung, durch welche eine friedliche Gemeinschaft erhalten und wiederhergestellt wird. Kennen sollte diese Ordnung jeder in Israel, das ist nicht die Frage. Es geht um das Tun. Und zwar das Tun der für das Volk Gottes essentiellen Gebote, die sich im Lauf der Geschichte zum Kanon des Dekalogs geformt haben, also zu den Zehn Geboten, wie wir sie aus Ex 20 und Dtn 5 kennen. Wenn Micha also die Umsetzung der Rechtsordnung fordert, dann müssen wir uns mit der Grundlage des jüdischen Rechts, den Zehn Geboten, auseinandersetzen.
Die Zehn Gebote werden aufgrund ihrer Konkretionen oft so verstanden, als ob mit ihnen alles klar „geregelt“ sei. Wer sich an die Gebote hält, führt ein korrektes Leben. Doch solch ein simples Verständnis trifft das Wesen des Dekalogs nicht. Das wird schnell klar, wenn beispielsweise ein Polizist einen Amokläufer nur noch durch einen Todesschuss davon abhalten kann, weitere Menschen umzubringen. Hier ist die Tötungshandlung paradoxerweise geboten! Alle Gebote, bis auf das Erste, können und müssen Güterabwägungen unterliegen. Tatsächlich waren die Zehn Gebote schon in ihrer ursprünglichen Situation nicht als ein Regelkatalog gedacht, sondern als Richtlinien, um mit dem Leben in Freiheit und der damit einhergehenden Verantwortung zurecht zu kommen. Die Zehn Gebote sehen über die Komplexität der Welt nicht hinweg. Vielmehr geben sie ihr grundsätzliche Orientierung. Dadurch behalten sie ihre Gültigkeit, egal in welcher Staatsform Menschen ihr Zusammenleben organisieren.
Und so verbindet uns mit dem Volk Israel von damals heute noch die Erfahrung, dass wir uns vor Alternativen und Weggabelungen gestellt sehen und uns entscheiden müssen. Denken wir an die Frage, die sich den Industrienationen angesichts des Klimawandels stellt: Wollen sie weiterhin ihren Lebensstandard und ihre Produktionsmethoden beibehalten, wodurch sie nicht nur ihre Umwelt, sondern auch die der anderen Menschen in Gefahr bringen? Oder lassen sie sich auf einen Zivilisationswandel ein, der im Blick hat, dass alle ihre Bedürfnisse befriedigen können, auch wenn das für den eigenen Lebensstil eine Einschränkung bedeutet? Die Alternativen setzen voraus, dass die Zukunft noch nicht entschieden ist. Und sie setzen voraus, dass die Menschen auf die Entwicklung Einfluss nehmen können. Auch für solche Entscheidungen dienen die Zehn Gebote als Richtlinien eines gerechten Lebens.
6.1.1 Zum Beispiel das Dritte Gebot
Nehmen wir das Beispiel des Dritten Gebotes. Dieses heißt (Ex 20): 8Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. 9Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. 10Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Ein Tag, an dem alle und alles ruhen soll, das ist eine Richtlinie, die den Gedanken der Nachhaltigkeit in sich trägt. Denn nach der Arbeit soll es eine Zeit der Erholung geben. Schon Gott ruhte ja am siebten Tag, so begründet zumindest das 2. Buch Mose das Gebot der Heiligung des Sabbats. Zugleich soll der Mensch aber auch Zeit haben, sich daran zu erinnern, dass Gott sein Volk aus der Sklaverei, der abhängigen Arbeit ohne Pause und Unterbrechung geführt hat. So die Begründung in der Fassung der Zehn Gebote, wie sie im 5. Buch Mose zu finden ist. Alle und alles sollen ruhen, jeder Mensch, vom Chef bis zum Angestellten, von der Familie bis zum Fremden. Niemand soll bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit ausgepresst werden. Es muss noch Raum bleiben für die eigenen Bedürfnisse. Und sogar das Vieh soll diesen Ruhetag haben. Es ist eben nicht nur Mittel zum Zweck der Produktion. Es hat eine eigene Würde jenseits aller Nutzbarkeit. In Deutschland, gerade in Berlin, müssen wir immer wieder kämpfen um den Erhalt des Sonntagsschutzes. Es ist an uns deutlich zu machen, dass er auch einen wichtigen Beitrag leistet für eine nachhaltige Gesellschaft.
Brot für die Welt hat in den peruanischen Anden ein Projekt gestartet, das die Ruhe von der Arbeit mit Gemeinschaft und sportlicher Aktivität füllt. Als 2004 ein Dammbruch das Leben der Kleinbauern eines Tales in der Sierra Central zerstörte, die sowieso schon unter harten Bedingungen den kargen Boden zu bewirtschaften hatten, half die Confederacíon Nacional Agraria, eine Partnerorganisation von Brot für die Welt, den Betroffenen beim Wiederaufbau ihrer Landwirtschaft. Diese ist nun auf Nachhaltigkeit hin ausgerichtet, die Landwirte werden dabei unterstützt, ihre Produkte lokal zu verkaufen. Doch nicht nur der ökologische und der ökonomische Aspekt wurden bei der Hilfe beachtet. Auch das Sozialleben wurde einbezogen. So trainieren nun regelmäßig Frauen das schönste aller Spiele, nämlich Fußball. Der gemeinsame Sport schweißt sie zusammen, stellt ihnen mit regionalen Turnieren ein Ziel vor Augen, stärkt das Selbstbewusstsein der Frauen und gibt ihnen Kraft für die tägliche Arbeit.
6.2. Liebe üben
Die zweite Maxime im Leitbild des Propheten Micha lautet in der Übersetzung Martin Luthers: „Liebe üben“. Wörtlich heißt es: „Gnade des Liebens“. Diese Wortverbindung des Nomens Gnade (häsäd) mit dem Verbalabstraktum Lieben (ahabah) ist im gesamten alten Testament einmalig. Sie zeichnet ein heilvolles Bild von menschlicher Zuneigung. Zu dem Guten, das uns Menschen gesagt ist, gehört mehr als das Recht. Zu ihm gehört auch ein freundlicher und zugewendeter Umgang miteinander. Die gnadenreiche Nächstenliebe begegnet uns in den biblischen Geschichten immer wieder. Denken Sie an Ruth, die ihrer alten Schwiegermutter verlässlich verbunden bleibt. Oder nehmen Sie den barmherzigen Samariter, der die gesellschaftlichen Grenzen überschreitend einem Gegner einen lebensrettenden Liebesdienst erweist. Und nicht zuletzt führen Sie sich die unzähligen Gesten der liebevollen Zuwendung vor Augen, die Jesus seinen Mitmenschen geschenkt hat. Die Gnade des Liebens hat ihren Ursprung in der liebenden Gnade Gottes, die er uns Menschen immer wieder erweist. Der HERR selbst hat wenige Verse vorher dem Volk ein Beispiel seiner Gnade in Erinnerung gerufen, nämlich die Befreiung aus der Knechtschaft und die Gabe des Landes, in dem es frei leben kann. Wem selbst Liebe geschenkt wurde, der kann diese weitergeben, denn er hat einen Vorrat, aus dem er schöpfen kann. Daher sucht Gott auf seine Güte nun eine Antwort. Und er findet sie dann, wenn Menschen Freundlichkeit weitergeben und so möglichst Viele die Gnade des Liebens erfahren.
6.2.1 Zum Beispiel „Fútbol por la Vida“
Die Gnade des Liebens erfahrbar machen wollen die Betreuer der Mädchen und Jungen auf dem kleinen Bolzplatz in einem Slum von San José, von denen ich Ihnen zu Beginn erzählt habe. In den Slums der Kapitale Costa Ricas herrschen nämlich oft nicht Liebe und Freundlichkeit, sondern Alkohol, Drogen, Gewalt und Prostitution. Das Projekt „Fútbol por la Vida“, das von Mitarbeitern der Lutherischen Kirche Costa Ricas geleitet wird, will die Jugendlichen vor einer kriminellen Zukunft bewahren. Dazu spielen sie dreimal die Woche Fußball unter Anleitung eines professionellen Trainers. Nach dem Training bieten die Mitarbeiter des Projektes Workshops an, in denen Themen wie Kinderrechte, Drogen und Sexualität behandelt werden. Die regelmäßigen Übungszeiten, die Regeln des Fair Play sowie das erworbene Wissen bringen den Kindern soziales Verhalten und Gemeinschaftssinn bei. Außerdem stärkt der Sport ihr Selbstbewusstsein. Dadurch werden sie unterstützt, ihre Zukunft aktiv in die Hand zu nehmen. Und sie lernen, dass der liebevolle Umgang mit sich und mit anderen gnadenreicher ist als der Weg der Gewalt. Das Projekt will den Kindern eine gute Zukunft eröffnen. Ihnen wird beigebracht, wie sie ihre Bedürfnisse erfüllen können, ohne die Bedürfnisse anderer Menschen zu missachten.
6.3 Demütig sein vor deinem Herrn
Die dritte Maxime ist nicht ganz einfach zu übersetzen. Luther wählte „demütig sein vor deinem Gott“ und folgte damit der Vulgata, die für das hebräische zana` „humilitas“ übersetzte. Doch „Demut“ scheint in diesem Zusammenhang nicht recht zu passen. Sie ist zu passiv, während Micha ja betont, dass Gott uns in der Freiheit, in die er uns stellt, jede Menge Souveränität und Eigenverantwortung zumutet. Außerdem übersetzt Luther demütig sein vor deinem Gott, doch Michas Wendung hat nichts statisches. Denn er schreibt vom „Gehen mit deinem Gott“. Micha geht es also um das Unterwegssein mit Gott, um den Lebensweg, den ein Mensch in Verantwortung vor und mithilfe von Gott zurücklegt. In Verbindung mit diesem Bild und unter Beachtung anderer Bezugsstellen der Wurzel zana` könnte man die Wendung daher besser übersetzen mit „wachsam gehen mit deinem Gott“. Der Mensch soll sich also nicht einrichten, sondern soll mithilfe von Gottes Wort sein Handeln immer wieder hinterfragen und gegebenenfalls neu ausrichten. Die Eigenverantwortung in Freiheit bleibt so nicht auf sich allein gestellt, sondern bekommt ein Geländer, das ihr die Richtung anweist.
Bedeutungsvoll ist hierbei, dass nicht von irgendeinem Gott die Rede ist, sondern von deinem Gott. Gefragt ist kein beliebiger Agnostizismus, der irgendwo eine wie auch immer geartete „höhere Macht“ anerkennt, sondern eine Beziehung zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der für uns auch der Gott Christi ist. Mit diesem Gott sollen wir gehen, denn er geht mit uns, und zwar nach seinem Willen den Weg des Heils. Das ist uns in der Geschichte seit den Erzeltern offenbart und wird für uns heute immer wieder erfahrbar.
Dreierlei Gutes sucht Gott also bei uns: Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Frömmigkeit. Dabei kommt eines nicht ohne das andere aus. Gerechtigkeit ohne Nächstenliebe wird hart und grausam, Nächstenliebe verdient ohne Gerechtigkeit ihren Namen nicht und Frömmigkeit, die ihre Gottesbeziehung im Leben nicht sichtbar werden lässt, erscheint scheinheilig.
7. Schluss
Kann ein Prophet, der vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren lebte, uns eine Hilfe sein für die Probleme, die sich im 21. Jahrhundert mit dem Klimawandel und allen seinen ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen und Herausforderungen stellen? Ich denke, ja. Denn das Leitbild des Micha hat Geltung über alle Zeiten hinaus: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich: Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Die oben erwähnte Arbeitshilfe von Brot für die Welt und eed zum Klimawandel beschrieb nachhaltige Entwicklung mit folgenden Worten: „Die Erde bebauen und bewahren, die Welt gestalten und gleichzeitig das Leben fördern. Man kann kaum eine prägnantere Formulierung für das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung finden.“ Mit den Gedanken des Propheten Micha können wir diese Aussage konkretisieren: „Die Erde in Demut vor Gott bebauen und bewahren, die Welt durch das Recht gestalten und gleichzeitig das Leben mit der Gnade des Liebens fördern: Man kann kaum eine prägnantere Formulierung für das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung finden.“