"Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Reden und Handeln in christlicher Verantwortung"

Fastenessen Bayreuth

Meine sehr verehrten Damen und Herren, 

1. Der Beginn der Zürcher Reformation
die Suppe dampft schon. Köstlicher Geruch zieht durchs Haus. Es riecht nach Möhren und Pastinaken, nach Zwiebeln und Petersilie. Herrlich! Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen! Und der Hunger ist groß. Aber ob die Suppe satt macht? „Ach hätt’ ich doch ein schönes Stückchen Wurst. Geräuchert, gut abgehangen, kräftig gewürzt – wir sind hier in Franken – mit Kümmel und Majoran.“ So mag sich manch einer denken. Aber halt, es ist Fastenzeit! Da ist das Essen von Fleisch und Wurst verboten. Es gilt, Abstinenz zu halten. So schreibt es die Kirchenordnung vor.

Trotzdem, es riecht nicht nur nach Suppe. Es duftet eindeutig auch nach Wurst. Und tatsächlich: Einer holt zwei schöne, geräucherte Würste hervor, schneidet sie feierlich mit seinem Messer klein und reicht sie herum. Ein kurzes Zögern, dann langen die Anderen zu. Die Wurst schmeckt – verboten, aber herrlich. Die Reformation hat begonnen.

Soweit die Ereignisse im Frühjahr 1522 in Zürich. Dort begann die Reformation anders als in Wittenberg nicht mit Hammerschlägen, mit denen ein Mönch 95 Thesen an einer Kirchentür befestigte, sondern mit einem Wurstessen mitten in der Fastenzeit. Es wurde veranstaltet von Christoph Froschauer dem Älteren, seines Zeichens Buchdrucker und gerade beschäftigt mit dem Druck eines Buches für Erasmus von Rotterdam.

In seiner Werkstatt saßen etliche Männer beisammen und brachen das Fastengebot. Nicht im stillen Kämmerlein, wie das wohl der ein oder andere brave Bürger heimlich tat, sondern öffentlich. Huldreich Zwingli, der Pfarrer des Zürcher Großmünsters, war auch dabei in der Werkstatt des Buchdruckers. Er schaute allerdings nur zu. Aber man darf annehmen, dass er sehr amüsiert war. Ganz anders der Rat der Stadt Zürich. Der leitete eine Untersuchung ein gegen die Fastenbrecher. – Haben Sie es übrigens gemerkt: der Rat, nicht die Kirche! – Nun sprang Zwingli für die Männer in den Ring, denn es ging ja um die Wurst, nämlich um die evangelische Freiheit.

In einer Predigt verteidigte der Pfarrer die Fastenbrecher. Kurz darauf veröffentlichte er seine Argumente in der Schrift „Von Erkiesen und Fryheit der Spysen.“, sprich: „Von der Wahl und der Freiheit der Speisen.“ – Mögen Sie raten, wer das Buch gedruckt hat? … Natürlich der eben genannte Christoph Froschauer der Ältere.

In der Bibel lesen wir, dass Moses vierzig Tage fastete, als er von Gott die Zehn Gebote bekam (Ex 34,28). Der Prophet Elias hat ihm das später nachgetan, bevor er Gott begegnete (1Kön 19,8). Außerdem berichten die Evangelisten Matthäus und Lukas davon, dass Jesus während seines vierzigtägigen Aufenthaltes in der Wüste nichts gegessen habe (Mt 4,2 // Lk 3,1f). Hier fasteten einzelne herausragende Personen.

Das Fasten war immer wichtig, aber es gibt in der Bibel keinen Gebotskatalog, der allen Gläubigen eine feste Fastenzeit mit einer bestimmten Fastenordnung vorschreibt. Deswegen, meinte Zwingli, seien die Christen frei von dieser kirchlichen Verordnung. Statt unter dem kirchlichen Gebot können sie in evangelischer Freiheit leben. Das hörten Viele gern, denn bis zu 130 Fastentage schrieb die Kirche den Gläubigen im Mittelalter vor: Die strengen Regeln verboten unter anderem das Fleisch warmblütiger Tiere, zudem Milch, Butter und Eier. Dass gerade in Bayern schon vorreformatorisch viele Mönche mit allen Tricks versuchten die päpstlichen Fastenregeln ins Leere laufen zu lassen, wissen Sie. Noch heute gibt es ja in der Fastenzeit ein spezielles Starkbier, mit dem sich findige Mönche einst über die Zeit der Entbehrung hinwegtrösteten - getreu der Regel "Flüssiges bricht Fasten nicht".

Wo Alkohol explizit dem Fastengebot unterlag, mussten sich die Klosterbrüder etwas anderes einfallen lassen. So brauten einige Mönche ein Fastenbier, das sie zu Genehmigungszwecken zum Papst nach Rom transportieren ließen. Dort angekommen, war die Plörre so verdorben, dass der Pontifex befand: "Wenn sie so etwas trinken wollen, dann sollen sie es haben." Lange Verfahrenswege haben eben auch Vorteile.

Damit sind wir nun von der köstlichen Bayreuther Kartoffelsuppe für die „Suppe am Samstag“ über die Zürcher Wurstsuppe auf das Thema meines Vortrages gekommen.

Im Folgenden soll es also um Freiheit gehen: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Reden und Handeln in christlicher Verantwortung“.

2. Evangelische Freiheit: Martin Luther
Froschauers Wurstessen und Zwinglis Verteidigungsschrift waren ein lauthals formuliertes „Nein!“. Genauso wie Martin Luthers Thesen gegen den Ablass. Ein „Nein!“ gegen die Ordnung der Institution Kirche und vor allem gegen die Vorschriften, die sie den Gläubigen auferlegte als Voraussetzung dafür, dass diese Anteil an Gottes Heil empfangen könnten. Solche Vorschriften gab es viele. Das ist nicht verwunderlich, denn bei einer Lebenszeit der Kirche von damals schon 1500 Jahren kann man sich leicht vorstellen, wie sich Strukturen aufbauen und verhärten. Die Europäische Union zum Beispiel setzt nach einer im Vergleich dazu sehr kurzen Zeit ihrer Existenz auf das hilfreiche Wirken eines ehrenamtlich Beauftragten für den Bürokratieabbau.

Die von Luther, Zwingli und anderen beklagten Vorschriften der Institution Kirche zielten auf das Heil der Menschen ab. Genau das machte sie für die Reformatoren so unerträglich. Ich glaube, man kann gerade Luthers Kampf gegen Ablass, Mönchtum und Heiligenverehrung nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, wie groß die Angst dieses Mannes war, vor Gott zu versagen.

Tage- und nächtelang quälte er sich mit der Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Und kam doch immer wieder zu dem Schluss: „Ich schaffe es nicht.“ Luther begriff: Er kann Gott nicht gnädig stimmen, auch wenn er tagelang betet, asketisch lebt oder eine Bußübung nach der anderen vollzieht. Luther wollte sich Gottes Liebe erzwingen und spürte doch, dass es so nicht ging.

Vor diesem Richter muss jeder versagen, das wurde ihm immer deutlicher. Seine göttlichen Maßstäbe sind dem Mensche nicht gerecht. Selbst, wenn Menschen sich sehr stark bemühen, niemand kann immerzu gerecht, liebevoll, aufrichtig, barmherzig, uneigennützig leben.

Menschen machen Fehler, verstricken sich in Schuld, versündigen sich an ihren Mitmenschen und an Gott – auch wenn sie es nicht wollen.

Dass Menschen Gottes Geboten, ihren eigenen Ansprüchen und einander nicht gerecht werden, geschieht jeden Tag: in der Familie, in der Schule, unter den Arbeitskollegen, zwischen Freunden wie zwischen Gegnern. Meist nehmen nur die unmittelbar Betroffenen ein solches Scheitern an den Ansprüchen wahr. Manchmal allerdings geschieht dies im Licht der Öffentlichkeit. Dann nämlich, wenn Personen des öffentlichen Interesses als „Lichtgestalten“ auf einen Sockel gestellt werden. Es ist verständlich, dass Menschen sich tadellose und verehrungswürdige Vorbilder wünschen. Und es ist auch verständlich, dass jene es sich gefallen lassen und daran Gefallen finden, auf einen Sockel des guten Ansehens gestellt zu werden. Doch es ist nicht leicht, dort oben zu stehen. Die Gefahr ist groß, wieder herunterzufallen. Menschen sind nun einmal keine Statuen, die nichts falsch machen können. Wir alle sind doch irgendwie Gefallene – und Gott sei Dank von Gott wieder Aufgerichtete.

Martin Luther hatte als unbekannter Mönch kaum damit zu kämpfen, dass er den Ansprüchen der Öffentlichkeit nicht gerecht geworden wäre. Ihn quälte vielmehr die Angst, Gottes Ansprüchen nicht zu genügen. Seine Verzweiflung wuchs und ging schließlich soweit, dass er Gott zu hassen begann. Gott, so wie er ihn verstand: als strengen, aber gerechten Richter, der unparteiisch und unbarmherzig jede Wohltat belohnt und jede Verfehlung bestraft.

Welch eine Last muss Martin Luther da die Erkenntnis von den Schultern genommen haben, dass er Gottes Gnade gar nicht erkämpfen muss, weil Gott sie ihm schenkt. Dass sein Bild von Gott falsch ist, weil er die Barmherzigkeit Gottes übersehen hatte. Dabei ist doch genau das der Sinn des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi. In ihm sagt Gott den Menschen, dass er sie angenommen hat und liebt, ohne dass sie etwas dazu tun müssen. Gottes Liebe braucht keine Fleißbildchen. Vielmehr gilt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“, wie es schon der Apostel Paulus im 5. Kapitel des Galaterbriefes schrieb.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Luther war diese Erkenntnis enorm wertvoll. Von nun an gehörte sie zu ihm, wie sein Name an der Tür. Und so änderte er seinen Namen. Geboren als Martin Luder nannte er sich nach dem 31. Oktober 1517 Martin Luther. Das „th“ im Namen mag auf den ersten Blick nur ein kleiner Unterschied sein. Doch Luther leitete es her aus einem griechischen Wort, das er zunächst in seine Unterschrift eingebaut hatte: eleutheros – auf Deutsch: der Befreite. Da er aber nicht immer umständlich Martin eleutheros schreiben wollte, übernahm er das „th“ daraus kurzerhand in seinen Nachnamen. Und so wurde aus Luder Luther. Kürzer kann man seine Theologie kaum zusammenfassen: Luther, der Befreite!

 Reformation und Freiheit sind also untrennbar miteinander verbunden. Daher lautet so auch das Motto des laufenden Jahres im Rahmen der Lutherdekade. Mit der Lutherdekade – das wissen Sie wahrscheinlich – bereiten die evangelischen Landeskirchen, die EKD, die Länder und der Bund sich auf das große Reformationsjubiläum vor, das wir 2017 feiern werden.

500 Jahre ist es dann her, dass Martin Luther seine Thesen gegen den Ablass veröffentlichte. Jedes Jahr der vorbereitenden Dekade steht unter einem Motto, das zentrale Gedanken und Entwicklungen der Reformation aufnimmt. Im kommenden Jahr feiert der Leipziger Thomanerchor sein 800-jähriges Bestehen. Aus diesem Grund wird 2012 das zentrale Jahresthema „Reformation und Musik“ heißen.

Natürlich sind Sie hier in Bayreuth mit Musik auf höchstem Niveau verwöhnt – dafür sorgen nicht nur die Hochschule für evangelische Kirchenmusik, das Lisztjahr 2011 sowie natürlich die jährlichen Wagner-Festspiele. Kann bei so viel Konkurrenz das Themenjahr „Reformation und Musik“ überhaupt punkten? Ich denke schon, denn bei diesem Hörgenuss müssen Sie nicht jahrelang auf Eintrittskarten warten – das kann ich Ihnen versprechen.
 
Dieses Jahr aber steht unter dem Motto „Reformation und Freiheit“, weil die Befreiung vom Zwang, sich Gottes Liebe erwerben zu müssen, für die Reformatoren zentral war.

Es ist kein Zufall, dass die Evangelische Kirche in Deutschland zugleich für das Jahr 2011 ein „Jahr der Taufe“ ausgerufen hat. Denn die Taufe ist das sichtbare Zeichen der Freiheit eines Christenmenschen. Bevor ein Mensch irgendetwas dafür tun kann, spricht ihm Gott schon zu: „Du bist mein geliebtes Kind. Du gehörst zu mir. Ich schenke dir das Leben hier und ich verspreche dir das Leben in meinem Reich.“ Für Luther war seine Taufe denn auch ein unfassbares Glück, das ihm Halt gegeben hat, wenn doch wieder einmal Zweifel an ihm nagten.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich halte es für eine vornehme Aufgabe der Kirche und jedes einzelnen Christen, die Bedeutung der Taufe wieder sichtbar und hörbar werden zu lassen.
Wie wichtig ist dies in einer Gesellschaft, in der Menschen sich permanent rechtfertigen müssen! In einer Gesellschaft, in der Jugendliche sich als Verlierer fühlen, weil sie „nur“ die Hauptschule besuchen. In einer Gesellschaft, in der das „normale“ Leben langweilig scheint und man es schon zum Superstar bringen muss. Oder nehmen Sie ein Beispiel aus meinem Leib- und Magengebiet, dem Sport: Wie schnell landet ein Sportler im Abseits, wenn er nicht jedes Mal 150-prozentige Leistung erbringt. Wie gut ist es, wenn Menschen da immer wieder gesagt wird, dass Gott sie nicht nach ihren Schulnoten, ihren Toren, oder nach sonstigem bemisst, sondern dass er sie schon angenommen hat, bevor sie überhaupt irgendetwas leisten können. Wenn Menschen dies glauben können, dann können sie mit menschlichen Anforderungen und Vorgaben befreiter umgehen.

3. Warum dann Fastenzeit?
Lassen Sie mich noch einmal zurück zur Suppe kommen und damit zur Fastenzeit. Wenn wir für Gott nichts leisten müssen, warum ist dann die Fastenzeit auch in evangelischen Kreisen wieder eine sehr intensiv betriebene Übung?

Die EKD höchst selbst veranstaltet ja seit einigen Jahren eine Fastenaktion. Seit 1983 gibt es diese Initiative, die von Aschermittwoch bis Ostersonntag dauert und an der sich inzwischen jedes Jahr ca. zwei Millionen Menschen beteiligen. Viele Jahre lang schon haben die Fasten-aktionen der EKD ein Thema. Das diesjährige Thema hat es dabei in sich, es lautet: „Ich war’s! – Sieben Wochen ohne Ausreden.“
Das ist zuviel verlangt. Das ist zuviel verlangt und im Alltag kaum vorstellbar. Der Ehrliche, das wissen wir doch seit jeher, ist immer der Dumme. Oder?

Nein, behauptet die evangelische Kirche. Sehr schön haben die Macher von „Sieben Wochen Ohne“ dies im Aktionsflyer anmoderiert. Sie schreiben: „Wer sich mit Ausreden aus einer misslichen Lage befreit, vertuscht damit nicht nur seine Fehler, sondern auch immer ein bisschen sich selbst. Er stiehlt sich nicht nur aus der Verantwortung, er stiehlt sich auch selbst die Verantwortung – und damit eigene Handlungsoptionen. Wer nicht aufrichtig zu seinen Taten stehen kann, dem kommt mitunter der aufrechte Gang ganz abhanden. Gönnen Sie sich die Ehrlichkeit, genauso gut oder schlecht dazustehen, wie Sie den Alltag eben so meistern. Und Ihre Mitmenschen mit genau der Großzügigkeit und Nachsicht behandeln, die ihnen Gleiches erlaubt.“

Ist der Ehrliche wirklich der Dumme?

Im Ersten Korintherbrief lesen wir: „Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache.“ (1Kor 1,27)
Damit hat der ehrliche Dumme – wenn er denn überhaupt noch so genannt werden kann - einen starken Partner. Und er zeigt auch selbst Stärke. Die Stärke, Kritik auszuhalten. Die Stärke, zu sich zu stehen und Schuld für kritikwürdiges Verhalten zu benennen, zu bekennen - und nicht auf andere abzuwälzen. „Sieben Wochen ohne Ausreden“, das ist „Reden und Handeln in christlicher Verantwortung“.

Ob „Sieben Wochen ohne Ausreden“, oder sieben Wochen, in denen wir einen Bogen um den Fernseher machen, um den Kühlschrank oder um den Zigarettenautomaten: Christen halten die Fastenzeit ein, nicht weil sie glauben, dass sie sich damit Bonuspunkte bei Gott erwerben, sondern weil die Fastenzeit die Gelegenheit bietet, sieben Wochen lang auszuprobieren, wie es ist, anders zu leben. Sieben Wochen lang einfach einmal Verhaltensweisen abzulegen, die sich aus Bequemlichkeit eingeschlichen haben, die die Umwelt erwartet oder die in unserer Gesellschaft vordergründig notwendig erscheinen. Im Idealfall wird durch diesen Entzug Raum geschaffen: für verschüttete eigene Bedürfnisse, für die Begegnung mit anderen - und natürlich nicht zuletzt für die Begegnung mit Gott. Unsere Seligkeit aber hängt nicht davon ab. Letztlich sind wir frei, zu tun oder eben auch zu lassen, was wir für richtig halten. Das ist die Freiheit, die Gott uns geschenkt hat.

4. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“: Christliches Handeln aus Freiheit
Freiheit, das ist ein wahrhaftig verheißungsvoller Begriff. Wie kein anderer kann er Hoffnung nähren und Kräfte freisetzen. Wie das aussehen kann, sehen wir in diesen Tagen jeden Abend im Fernsehen, an den beeindruckenden und bedrückenden Bildern aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Gleichzeitig kann Freiheit Ängste auslösen und Überforderung, ja sogar Zerstörung. Auch hier werden Sie alle sofort Bilder aufrufen können, die Ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Nach christlichem Verständnis ist Freiheit ein Geschenk Gottes an die Menschen, das beides beinhaltet: die Verheißung des Gelingens ebenso wie die Verführung zum Misslingen. Es liegt in unserer Hand, wie wir die Freiheitsgabe verwenden. Allerdings verbindet Gott mit dieser Gabe einen Auftrag, nämlich: die Freiheit verantwortlich zu gebrauchen.

Zwar ist es richtig, dass wir nach reformatorischem Verständnis nicht Rechenschaft ablegen müssen über unser Leben, und dass wir uns Gottes Erlösung nicht durch die Anhäufung guter Taten verdienen müssen. Wir sind bereits erlöst. Dass wir durch Jesus von der Sünde frei gesprochen sind, wirkt sich dennoch auf den ganzen Lebensvollzug aus.

Die uns geschenkte Freiheit beinhaltet natürlich auch die Freiheit des Gewissens. Nicht den Ansprüchen der Mächtigen darf dieses Gewissen unterworfen sein, allein Gott ist die Instanz dafür. Die Freiheit, die er uns gegeben hat, äußert sich in der Verantwortung für andere.

Der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, hat in diesem Zusammenhang den Begriff „Freiheit zur Verantwortung“ geprägt. Er erklärt dies folgendermaßen: Wenn der christliche Glaube auch darin der Freiheit die Treue hält, dass er aufmerksam ist für die Bedingungen, die diese Freiheit behindern, dann gilt dies keineswegs nur für die jeweils eigene Freiheit, sondern gerade auch für die Freiheit des anderen. Dass die Freiheit eines Christenmenschen den durch Gott aufgerichteten Menschen meint, verdeutlicht die gesellschaftliche, politische und kirchliche Verantwortung der Christen.

Die Solidarität mit den Schwachen und sozial Benachteiligten ist somit eine zentrale Lebensäußerung des christlichen Glaubens. Der Einsatz für diese Menschen in Wort und Tat ist folgerichtiger Ausdruck dieser Verantwortung. Wie die Kirchen diesen Auftrag jeden Tag aufs Neue umsetzen, muss ich Ihnen nicht darlegen. Sie alle wissen um das Wirken der haupt- und ehrenamtlich Tätigen in den Gemeinden überall in Deutschland. Und ich bin mir sicher, dass auch hier nicht Wenige in diesem Raum sind, die sich dankenswerterweise in ihrer Gemeinde engagieren.

Mit ein wenig Stolz ergänze ich einige Zahlen: Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt es mehr als 1.100 Schulen, rund 8.300 Kindertagesstätten und Horte, sowie über 6.000 stationäre diakonische Einrichtungen, also Altenheime, Krankenhäuser, Behinderten- und Jugendhilfeeinrichtungen. Das soziale, seelsorgerliche und diakonische Handeln der verfassten Kirchen wird durch viele hunderttausend Ehrenamtliche unterstützt.

Als „Global Player“ kümmern sich die Kirchen aber nicht nur um die Probleme vor der eigenen Haustür. Aus diesem Grund gibt es beispielsweise den Evangelischen Entwicklungsdienst e.V. (EED), das Entwicklungswerk der evangelischen Kirchen. Er fördert jedes Jahr etwa 1.500 Projekte und Programme in Afrika, Asien und Lateinamerika, in Ozeanien, Südosteuropa und im Kaukasus. Er berät seine Partner und unterstützt sie finanziell. 168,9 Millionen Euro standen ihm in 2009 dafür zur Verfügung.

Neben solcher dringend notwendigen, konkret sich vollziehenden Arbeit, neben der täglich praktizierten Nächstenliebe, gehört zur christlichen Verantwortung für das Gemeinwesen auch die kritische Äußerung zu gesellschaftlichen und politischen Fragen in Deutschland, Europa und der Welt.

Unsere Gesellschaft braucht Kräfte, die in Freiheit und Unabhängigkeit am allgemeinen Meinungsbildungsprozess mitwirken und dabei denjenigen eine Stimme geben, die ansonsten nur unzureichend gehört werden.

Unsere Gesellschaft braucht Kräfte, die nicht nur ihre eigenen Interessen vertreten, sondern sich klar am gemeinsamen Besten orientieren, und das möglichst über den nationalen Tellerrand hinaus. Es ist gut, dass die Kirchen diese Verantwortung häufig in ökumenischer Gemeinschaft wahrnehmen; allerdings gehört zur Suche nach der Wahrheit natürlich auch das Abwägen unterschiedlicher Positionen.

Hier sind wir dann ganz schnell bei meiner Aufgabe als Bevollmächtigter des Rates der EKD angekommen, denn das gerade Gesagte trifft auf meine Funktion als Verbindungsmann zwischen Kirche und Politik in besonderer Weise zu. Als Botschafter unserer Kirche begleite ich nicht nur den politischen Prozess, sondern äußere auch Sorgen und Nöte, Beschwernisse und Freuden, die unsere Kirche mit den politisch Handelnden, zumal den Regierenden hat. Dies tue ich auf Bundes- und auf Europaebene.

Drei große Bereiche liegen mir dabei in aller Freiheit am Herzen.
Zunächst besteht ein wichtiger Teil meiner Aufgabe darin, als Seelsorger für die politischen Akteure da zu sein. Bei offiziellen Staatsakten – wie zum Beispiel bei der Konstituierung des Bundestages oder der Wahl des Bundespräsidenten (die ja, wie wir unlängst erfahren durften, bisweilen häufiger stattfindet als man gemeinhin annimmt) – gestalte ich gemeinsam mit meinem katholischen Kollegen die dazugehörigen ökumenischen Gottesdienste.

Zwei Mal wöchentlich finden in den Sitzungswochen frühmorgens Andachten im Deutschen Bundestag statt. In ökumenischer Verbundenheit gestalten diese Andachten Abgeordnete, die beiden Prälaten sowie Mitarbeiter des Katholischen Büros und meiner Dienststelle. Darüber hinaus lade ich die Abgeordneten des Bundestags mehrmals im Jahr zu Gebetsfrühstücken ein.

Natürlich bin ich an der Schnittstelle zur Politik auch Vertreter kirchlicher, institutioneller Interessen. Dazu gehört zum Beispiel mein derzeitiges „Lieblingsthema“, die Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung, die uns Kirchen sprachlos zu machen droht, und zwar nicht wegen des monströsen Begriffs.

Herr Staatssekretär Koschyk kennt das Thema, wir haben darüber schon gesprochen. Für alle anderen sei kurz erläutert: Künftig sollen Frequenzen, die bisher von drahtlosen Mikrophonen genutzt wurden, für das Breitbandinternet in ländlichen Regionen, das so genannte LTE-Netz, genutzt werden. Das kommt Ihnen in Bayreuth sicher gelegen, auch wenn Sie natürlich zur Metropolregion Nürnberg gehören, das ist mir bewusst. Das neue Internetangebot hat jedenfalls zur Folge, dass absehbar ein im Gottesdienst eingesetztes Mikrophon so stark gestört wird, dass es nicht mehr verwendet werden kann. Neue Mikrophone müssen also her. Das ist – wie Sie sich denken können – ziemlich kostspielig.

Die Bundesregierung hat zwar finanzielle Unterstützung zugesagt – schließlich hat sie durch die Versteigerung der Frequenzen für das LTE-Netz über vier Milliarden Euro eingenommen. Bislang ist die Entschädigung aber nur für solche Anlagen zugesichert, die zwischen 2006 und 2009 angeschafft wurden. Viele Gemeinden nutzen ihre Mikrophonanlagen aber schon wesentlich länger. Hier müssen wir hartnäckig bleiben – ich nehme an, dass auch unter Ihnen Viele sind, die nicht wollen, dass ihrer Kirche „der Saft abgedreht“ wird.

Am deutlichsten geprägt ist unsere Tätigkeit aber von unserer sozialanwaltlichen Rolle und dem Eintreten für das gesellschaftliche Gemeinwohl. Das heißt konkret, dass wir uns in Gesprächen, Anhörungen und Veranstaltungen für die Belange von benachteiligten Menschen in unserem Land und der Welt einsetzen. Allerdings: Anders als ein Pfarrer, der sich ganz konkret um seine Gemeindeglieder kümmert, um die gut Integrierten oder diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, sind unsere Ansprechpartner die „Entscheider“ unserer Republik. Ich finde es gut, dass unsere Kirche vor mehr als 60 Jahren die Entscheidung getroffen hat, bei der Ohnmacht der Mächtigen nicht wegzusehen, sondern da zu sein. Und es gibt viele Themen, die ethischen Charakters sind, die immer auch die Kirche in ihrer Werthaltung berühren.

Diejenigen, die sich beispielsweise um mehr Organspenden in unserem Land bemühen – wie es Volker Kauder und Markus Söder getan haben – ermutigen und unterstützen wir ausdrücklich. Im Blick auf die aktuellen Umwälzungen im Gesundheitswesen müssen wir mahnen, die Lage chronisch kranker Menschen zu berücksichtigen, ebenso wie die Behinderter und die der vielen Menschen, die ein nur geringes Einkommen haben – sie alle haben schwerer zu tragen an weiteren, individuellen Zusatzbeiträgen für Gesundheitsleistungen als Besserverdienende.

Wir setzen uns nicht zuletzt für verfolgte Christen ein. Als großen Erfolg sehen wir daher unseren Einsatz für die Aufnahme von 2.500 Flüchtlingen aus dem Irak in Deutschland. Und froh wären wir, wenn die Bundesregierung ihr Engagement verstetigen und sich an einem auf Dauer angelegten Resettlementprogramm beteiligen würde. Diese Diskussion gewinnt vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in Libyen und anderswo erneute Aktualität.

Sie werden sicher nachvollziehen können, dass mir angesichts dieses vielgestaltigen Engagements der Kirchen in unserer Gesellschaft das Verständnis dafür fehlt, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck kolportiert wird, dass die Kirchen nichts weiter als vom Staat genährte „Riesenvereine“ seien – wie es manchmal auch aus politischen Parteien zu hören ist.

Und das, obwohl von unserem kirchlichen Engagement so viele Menschen profitieren – und oftmals gerade nicht in erster Linie diejenigen, die zur Kirche gehören – so dass es mir einfach nicht in den Kopf will, wenn immer wieder die Rede ist von den kirchlichen „Privilegien“ und von einer „unzulässigen Verflechtung“ zwischen Staat und Kirche.

Deutlich ist, dass wir mit unserem Handeln dem staatlicherseits gewünschten Prinzip der Subsidiarität entsprechen, welches die Eigenverantwortung vor staatliches Handeln stellt. Die logische Konsequenz ist, dass der Staat dies rechtlich wie finanziell unterstützt. Klar muss außerdem sein, dass die Rechte der beiden christlichen Kirchen keine Sonderrechte sind, sondern vom Grundsatz her jeder Religionsgemeinschaft offen stehen. Sie sind nämlich nicht geschichtlich begründet, sondern leiten sich aus dem Status der Gemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts ab. Dass in Deutschland die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften im Sinne der Verfassung gleich behandelt werden, sieht man im Übrigen auch daran, dass nicht nur die jüdischen Gemeinden in Deutschland, sondern sogar teilweise die Zeugen Jehovas diesen Körperschaftsstatus innehaben. Dass dies absehbar auch für einen verlässlich organisierten Islam gilt, bleibt zu hoffen.

Klar ist nicht zuletzt, dass unser Staat bei aller Säkularität und religiöser Neutralität ein sozialethisches Fundament braucht, das er selber weder definieren noch gewährleisten kann. Er kann ihm nur Raum geben – und er muss ihm Raum geben.

Die Kirchen, das wird wohl nicht bestritten werden, sind nicht die einzige, aber eine doch sehr maßgebliche Kraft bei der Bildung dieses Werte-Fundamentes. Gleichgültigkeit gegenüber dem Wirken der Religionsgemeinschaften kann sich also auch der religiös neutrale Staat nicht leisten.

Vor diesem Hintergrund – und nur vor diesem Hintergrund – müssen das Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland, die „fördernde Neutralität“ des Staates den Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber und die Kooperationen, die daraus erwachsen, betrachtet und beurteilt werden.

Und vor diesem Hintergrund gilt für mich: Ja, es ist gut und sinnvoll, dass auch die kirchliche Diakonie gefördert wird. Ja, es ist gut und sinnvoll, dass kirchliche Denkmäler geschützt werden und ja, es ist gut und sinnvoll, dass Kinder in der Schule kirchlich verantworteten Religionsunterricht haben.

Je mehr verlässliche Partner dem Staat dabei von Seiten der Religionsgemeinschaften erwachsen, umso besser für unser Land.

So, wie ein von Gott zur Verantwortung befreiter Mensch nicht gleichgültig sein kann gegenüber dem Staat, in dem er lebt, darf der Staat umgekehrt nicht gleichgültig sein demjenigen gegenüber, der seine Freiheitsgabe zum gesellschaftlichen Besten verwendet.

Wir alle, die wir hier sitzen und uns täglich entscheiden, die uns geschenkte Freiheit von Gott verantwortlich zu nutzen, wir sind gewissermaßen die Wurst, ja vielleicht sogar das Salz in der Suppe der Gesellschaft.

Ja, lassen Sie uns das Salz in der Suppe dieser Gesellschaft sein, denn: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.