Gottesdienst am Sonntag Okuli

Auenkirche Berlin-Wilmersdorf

Liebe Gemeinde,

heute feiern wir den Sonntag Okuli. Der Leitvers aus dem 25. Psalm lautet: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn.“ Das ist wie ein Motto, das uns in der Passionszeit, von der nun schon fast die Hälfte hinter uns liegt, begleitet.
Die Passionszeit ist wie keine andere Zeit geprägt durch einen Blick in die Höhe. Wir blicken auf das Kreuz. Es bildet in aller Deutlichkeit die Leiden Christi ab. Uns wird wieder einmal deutlich: Das Kreuz ist mehr als ein Schmuckstück. An ihm haben sich der Gang Gottes mit der Welt und unser Verhältnis zu Gott entschieden.

Ein Marterinstrument ist für uns zum Heilszeichen geworden. Ein Heilszeichen, das uns schmücken darf und Gott zur Ehre gereicht, wenn wir es nicht bagatellisieren. Von diesem Kreuz ergeht der Ruf an die Welt: „Lasst Euch versöhnen mit Gott.“

Und auch die biblischen Texte, die uns durch die Passionszeit begleiten, unterstreichen das. Sie lenken unseren Blick auf Christus. Sie rufen uns dazu auf, in aller Nüchternheit von uns selbst abzusehen und auf ihn zu blicken.
Viele von uns lassen sich in der Passionszeit darauf ein, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern im ganz wörtlichen nüchtern zu bleiben. Sie entsagen ein Stück weit der Welt, indem sie auf Dinge verzichten, die ihnen sonst lieb sind, um sich so besser auf Christus und seinen Weg an das Kreuz konzentrieren zu können.

Durch das Verzichten auf Gewohnheiten wollen wir den Blick auf unser eigenes Leben schärfen, uns hinterfragen wie wir leben und ob das gut ist, was wir tun - wie wir zu uns und zu anderen stehen. Manche verzichten auf Alkohol, auf Süßigkeiten, auf das Fernsehen oder das Internet, um sich nicht durch das eine oder andere permanent bestimmen zu lassen.

Die Passionszeit ermöglicht es uns zurückzunehmen, um Gott mehr Platz einzuräumen. Wir entziehen uns einiger Genüsse und Gewohnheiten der Welt, um uns deutlich zu machen, dass diese Zeit anders ist als andere. Ein Choral gibt dem Ausdruck, wenn wir singen: „Herr stärke mich dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken.“

Das Sich-Versenken in die Heilstat Christi und das alleinige Schauen auf Christus kann aber auch eine Kehrseite haben.

Wenn wir es übertreiben, wenn wir besonders nüchtern, abgeklärt und konzentriert nur auf Christus blicken, dann verlieren wir allzu leicht alles andere um uns herum aus unserem Blickfeld. Dann kann die zeitweilige Weltentsagung zur dauerhaften Weltflucht werden, dann wird die Konzentration auf Gottes Wirken zur Weltferne. Dann werden Christen selbst  weltfremd oder fordern zur Weltfremdheit geradezu auf.

Richtig ist: Der Welt gegenüberzustehen, ist Ausdruck nicht nur von gesundem Menschenverstand, sondern auch von wohl verstandenem Christentum. Wir schulden der Welt diesen anderen Blick auf sie, das Sprechen mit anderen Worten, das Formulieren von Gedanken, die nicht alltäglich sind.

Von diesem Leben durch das neue Sein derer, die Jesus als ihren Herrn erkannt haben und nun bekennen, spricht auch der Apostel im 1. Petrusbrief im ersten Kapitel:

13 Darum umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi. 14 Als gehorsame Kinder seid nicht den Begierden gleichgeschaltet, denen ihr früher in der Zeit eurer Unwissenheit dientet; 15 sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel. 16 Denn es steht geschrieben (3.Mose 19,2): »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« 17 Und da ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person einen jeden richtet nach seinem Werk, so führt euer Leben, solange ihr hier in der Fremde weilt, in Gottesfurcht; 18 denn ihr wisst, dass ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid von eurem nichtigen Wandel nach der Väter Weise, 19 sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes. 20 Er ist zwar zuvor ausersehen, ehe der Welt Grund gelegt wurde, aber offenbart am Ende der Zeiten um euretwillen, 21 die ihr durch ihn glaubt an Gott, der ihn auferweckt hat von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, damit ihr Glauben und Hoffnung zu Gott habt.

Liebe Gemeinde, „umgürtet die Lenden Eures Gemüts“. Was heißt das? Nichts anderes als: Legt Euren Emotionen und Wünschen ein Zaumzeug an, beheimatet Eure Seele, verliert euch nicht selbst in unüberlegten Handlungen und planlosen Taten, lasst euch nicht wegreißen vom Strom – umgürtet euch. Kurz gesagt: Reißt euch am Riemen und lasst euch nicht gehen. Setzt eure Hoffnungen nicht auf die, die euch Hoffnung an jeder Ecke versprechen, damit ihr letztlich nicht hoffnungslos in der Enttäuschung endet.

Petrus weiß, liebe Gemeinde, wie gern wir uns von den bunten Hoffnungsversprechen der Menschen verführen, einladen und gefangen nehmen lassen. Hoffnung ist ein Geschäft, und viele sind und waren im Namen der Hoffnung unterwegs. Das gilt für die Politik, für die Wirtschaft, für die Medizin, für den spirituellen Bereich. Und wie gern hören wir auf diese Stimmen und glauben diesen weltlichen Seligpreisungen der Hoffnungsindustrie. - Schluss. Aus. So nicht, ruft Petrus uns zu. „Bleibt nüchtern, seid doch nicht dumm, setzt Eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi.“
Es ist die Gnade, die uns durch die Offenbarung Christi angeboten wird, die Ziel unserer tiefen die Seele ausfüllenden Hoffnung ist und sein soll. Und wie wahr ist es! Was kann uns mehr Hoffnung geben als Gottes Gnade – uns immer wieder anzunehmen, uns trotz aller Verstricktheit in Sünde, Tod und Schuld täglich Zukunft zu eröffnen. 

Das gilt für uns heute und galt auch den Gemeinden, denen Paulus dies schrieb. Sie lagen verstreut und vereinzelt in der Gegend der heutigen Osttürkei, damals wie heute in einer absoluten Diasporasituation für Christen. „Solange ihr hier in der Fremde weilt“, schreibt Petrus. Er weiß wohl recht genau, wovon er redet, wie sehr sich die Christen wegen ihres Bekenntnisses zu Christus von ihren Nachbarn unterscheiden. Sie gelten als religiöse Sonderlinge. Sie werden komisch angeschaut oder sogar misstrauisch beäugt. Sie fremdeln mit ihrer Umwelt und diese Umwelt fremdelt mit ihnen. Ein guter Nährboden für unerfüllte Hoffnungen. Viele Ausgangspunkte, sich Gedanken über das Leben, die Existenz, das Woher und Wohin zu machen. War früher nicht alles besser? Ging es nicht leichter, als wir noch nicht an diesen Christus glaubten?

Recht drastische Worte wählt der Autor, um zu bezeichnen, wie er die heidnische Vergangenheit der Gemeindemitglieder aus seiner christlichen Perspektive heraus einschätzt: nichtig war ihr damaliger Lebenswandel nach der Väter Weise und deshalb sollen sie nicht mehr gleichgeschaltet sein den Begierden, denen sie früher in der Zeit ihrer Unwissenheit dienten.

Luther übersetzt dieses „gleichschalten“ noch mit „gebt euch den Begierden nicht hin“; ich habe mir erlaubt, etwas zuzuspitzen, um in unserer modernen Sprache spürbar zu machen, wie negativ der Apostel an dieser Stelle formuliert. „Gleichschaltung!“ Widerlich! Es schwingt viel Abscheu mit, wenn Petrus von der heidnischen Umwelt und der Vergangenheit seiner Gemeinde spricht. Das Leben der neu bekehrten Christen war früher einer heil-losen Ideologie verfallen. Dieses Leben ging in die falsche Richtung.

Es war stromlinienförmig angepasst an die herrschenden Verhältnisse, an das Althergebrachte, an den Lauf der Welt. Durch den Glauben an Christus ist das ganze frühere Wertgerüst der Gemeinde nun auf den Kopf gestellt. Was man zuvor hochschätzte, ist nun falsch. Aber ist es auch fremd geworden?

Was gerade noch das ganze Leben der Menschen in all seinen Facetten bestimmte, benennt Petrus rückblickend als nichtig und überholt.

Auch wir lernen heute mit einer Diasporasituation zu leben. Und wir verstehen daher umso besser, was Petrus meint. Gerade in Berlin spüren wir manchmal, dass wir inzwischen Außenseiter sind. Wir staunen über das, was gedacht und geredet wird und erkennen, dass unsere Umwelt nicht mehr als selbstverständlich ansieht, was christliche Überzeugung ist.

Und wenn wir uns als Christen in das gesellschaftliche Getriebe mit politischer Kraft einmischen, dann merken wir auf einmal, wie der Wind bläst. Sei es, dass es um den Religionsunterricht geht oder um den Sonntagsschutz. Unsere Vorstellung eines Ruhetags für alle in Verbindlichkeit ruft dann Erstaunen und Irritation, bei manchen nicht zuletzt auch Ärger hervor.

Wir sind gefordert, uns auf den „Marktplatz des Dialogs“ zu begeben. Wir müssen erklären und erläutern. Die Selbstverständlichkeiten, der gesellschaftliche Konsens mit Blick auf christliche Vorstellungen der Weltgestaltung sind im Schwinden.

Daher können auch wir uns vorstellen, wie viel Kraft es die jungen Diasporagemeinden gekostet hat, sich zu artikulieren, sich zu behaupten und ihren Weg der Erkenntnis und des Glaubens in ihrer Lebensführung durchzuhalten.
Je mehr es aber Kraft kostet, die eigene Position gegenüber der Mehrheitswelt zu artikulieren und zu leben, desto größer wird der Wunsch nicht aufzufallen, sich anzupassen an das, was mehrheitlich gedacht, geschrieben und gelebt wird.

An uns selbst können wir beobachten, wie die Grenzen zwischen unserem Glauben und der Welt verschwimmen.

Wir bewegen uns mit derselben Selbstverständlichkeit in nicht-christlichen Zusammenhängen wie in christlichen Kreisen und auch in diesen Mechanismen fühlen wir uns selbstverständlich zu Hause.
Wir sind Grenzgänger im Leben, und das ist auch gut so. Und doch müssen wir immer auch darauf achten, was wir in die Gemeinde und in die Kirche an Zeitgeist einfließen lassen.

Manchmal adaptieren wir zu viel und zu unüberlegt, akzeptieren zum Beispiel in unseren christlichen Krankenhäusern Sprachwendungen, die uns modern und zukunftsweisend erscheinen, doch nicht recht zu unserem Menschenbild und zur Vorstellung der Menschenwürde passen. Da werden auf einmal Patienten zu Kunden, und pflegebedürftige Menschen zu Kostenfaktoren. Da wundert es nicht, wenn das diakonische Handeln selbst bei uns manchmal zu stark allein unter die Perspektive der Ökonomie gerät. Doch damit steht unser Glaube in der Gefahr, das zu verlieren, was ihn ausmacht: einen anderen Blick auf den Menschen zu ermöglichen.

Als Kirchen, Gemeinden und Christen sind wir in Gefahr unauffällig im Zeitgeist unterzutauchen, bei denen mit zu schwimmen, die immer wissen, was scheinbar richtig ist. Unsere Neigung zur Assimilation ist groß, weil neben allen hehren Zielen von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glaubenstreue, doch der eigene Seelenfriede uns häufig der höchste Wert ist. Anpassung verschafft eben Ruhe. Und deshalb machen wir keinen spürbaren Wind um unseren Glauben, damit bloß keiner Wind bekommt, von dem, was uns eigentlich erfüllt. Wie oft wissen die meisten Menschen um uns herum überhaupt nichts von unserem Bekenntnis zu Christus? Wie oft machen wir es uns in der Welt bequem?

Und eben dagegen stellt sich unser Briefschreiber. Der Apostel ruft dazu auf, sich als Christ dieser Versuchung bewusst entgegen zu stemmen und sich aus ihren Verstrickungen zu befreien: „seid nicht den alten Begierden gleichgeschaltet (…) sondern wie der, der euch berufen hat, heilig ist, sollt auch ihr heilig sein in eurem ganzen Wandel.“

Christus ist unser Vorbild. Auch er bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen Weltanpassung und Weltentfremdung. Die Versuchung Jesu in der Wüste berichtet uns eindrücklich davon. Er hätte den Verlockungen des Teufels, den Begierden der Welt nachgeben können. Er hätte die Macht  an sich reißen, alles Geld der Welt haben können. Er hätte für den Kick des Augenblicks leben können. Das hat er nicht. Und genauso gut hätte er sich aus der Welt zurückziehen können, wenn er als heiliger Mann in der Wüste geblieben wäre, um dort nur seine Beziehung zu Gott zu pflegen. Auch das hat er nicht getan.

Jesus blieb in der Welt und bei den Menschen. Er zeigte, dass Gott die Welt liebt und nicht missachtet, dass er sie nicht aufgibt.     

In der Taufe ist das für uns versinnbildlicht, in ihr wird klar: Du gehörst dem Gekreuzigten, er ist die Mitte deines Lebens, er will dein Leben ausrichten auf ihn in Liebe. Durch diese Zusage Gottes wird unser Horizont geweitet, ja geradezu aufgerissen durch die Erkenntnis, dass es noch eine andere Perspektive gibt auf die Welt, ein anderes Leben in ihr, das in den vorherrschenden Mechanismen, Kategorien und Logiken nicht aufgeht. Und so wandeln wir Christus entsprechend seinem Vorbild nach.

In der Passionszeit begleitet uns der besondere Aufruf, unseren Blick auf Gott, auf Christus und sein Kreuz zu richten. Wer diese Perspektive einnimmt, der kann nie weltabgewandt bleiben, nie weltfremd werden, denn er wird von Christus selbst zurück auf die Welt verwiesen. Selbst vom Kreuz aus behält er sie im Blick, schaut diejenigen an, die um ihn trauern, die ihn begleiten.

Als Christen leben wir nicht von dieser Welt, aber in dieser Welt. Wir sollen uns der Welt nicht entziehen, denn wir sind Teil von ihr. Aber wir gehen nicht in ihr auf, wir wissen, dass die Welt nicht alles ist.
Dieses weitergehende Verständnis der Welt rückt unsere menschliche Existenz in der Welt erst ins rechte Licht. Damit sind wir als Christen zwar weiterhin mitten in der Welt, können aber ganz anders mit ihr umgehen.
Vielleicht ist es diese Einstellung, die uns Niederlagen und Machtverlust erträglich sein lässt. Vielleicht ist es diese Nüchternheit und Abständigkeit von den Begierden der Welt, die uns Raum eröffnet für Mitmenschlichkeit, Mitleid und Barmherzigkeit. Vielleicht ist es genau diese Einstellung, dieses Bewusstsein, das uns Gelassenheit in bedrängter Zeit und eine Weite des Herzens ermöglicht. Jesus ist es selbst, der nicht zulässt, dass wir über den Blick auf ihn den Nächsten vergessen. Im Gegenteil: Durch den Glauben an ihn werden wir ihm gleichgestaltet. Wer seine Gestalt in sich trägt, der kann mit den Imperativen und Ermahnungen des Apostels Petrus gut umgehen, denn der weiß, dass dem Sollen immer schon ein Ist einhergeht. Werde, was du bist! Sei nicht allein der Welt gleichgeschaltet, denn du bist Christus gleichgestaltet!

Durch Christi Blut, durch sein Sterben am Kreuz bin ich schon das, was ich eigentlich jeden Tag neu werden will. Ein Jünger Jesu. Als diese vertrauen wir auf seine Gnade. Wir hoffen auf sie. Wir sehen zu Christus auf und wissen doch, dass der Blick zum Kreuz uns nicht der Welt entfremdet. Wenn wir auf ihn blicken haben wir gleichsam die Welt und den Himmel im Auge, können uns in Gott versenken ohne die Welt zu verlieren.

Liebe Gemeinde, Christus hat uns erlöst mit seinem Blut. Darum lasst uns umgürten die Lenden unseres Gemütes und lasst uns nüchtern sein und unsere Hoffnung ganz auf die Gnade richten, die uns in der Offenbarung Jesu Christi angeboten wird.

Amen