"Sorget nicht"
Sommerfest der Evangelischen Akademie zu Berlin
Liebe Sommerfestgemeinde, sorget nicht!
Ich gebe zu, es fällt mir leicht, an einem so schönen Tag wie heute diese Aufforderung auszusprechen. Sorget nicht! Ich kann es ganz sorglos und fröhlich sagen, denn für uns wird gut gesorgt. Heute kümmern sich sorgfältige Menschen vom Catering um uns, bringen uns Speisen, schenken Wein und Wasser nach. Der Gastgeber hat für das Programm und die Musik gesorgt – wir brauchen es nicht tun. Wir dürfen diesen Tag genießen, uns miteinander und aneinander freuen und sorgenlos sein.
Sorget nicht! – das klingt aber auch nach einem Sonntagsspruch, der spätestens wenn am Montag der Wecker klingelt vergessen ist. Einige von uns werden vielleicht schon heute Abend von Sorgen geplagt, wenn sie nach Hause zurückkehren (versuchen einzuschlafen). Denn wir leben in keiner sorglosen Zeit – und wahrscheinlich haben noch nie Menschen in sorglosen Zeiten gelebt. Alltagskümmernisse treiben uns um: Finanzielle Schwierigkeiten, Ärger am Arbeitsplatz, Ängste um die Gesundheit und die Sorge um Menschen, die wir lieben. Doch wohin tragen uns diese Sorgen, wohin tragen wir sie?
Besorgte Menschen sind anfällig. Wer unsicher und ängstlich ist, sucht nach schnellem Heil und einfachen Lösungen. Darauf setzten extremistische Parteien, wenn sie für komplexe gesellschaftliche Fragen simple Lösungen anbieten. Auch religiöse Fundamentalisten nutzen die Sorgen von Menschen aus und gewinnen diese für ihre fanatischen Ansichten. Und der Esoterikmarkt hält unzählige Angebote für Besorgte bereit; er macht Geschäfte mit Amuletten und Püppchen gegen schlechte Träume oder mit Armbändern, die für eine bessere Sauerstoffanreicherung im Blut sorgen sollen.
Menschen mit großen Sorgen sind auch körperlich anfällig. Das beginnt, wenn einem ein Problem auf den Magen schlägt, und kann über den Burn-Out bis hin zum Schlaganfall führen. Auch für Suchtkrankheiten sind Besorgte anfälliger. Sorgen machen uns krank.
Dale Carnegies Buch „Sorge dich nicht – lebe!“, das 1948 erstmals veröffentlich wurde, ist heute immer noch populär. Doch helfen uns solche Imperative weiter? Sorget nicht! Oder: Sorge dich nicht – lebe! Können wir solchen Befehlen nachkommen? Selbst wenn wir alle uns bekannten Tipps befolgen und Kniffe anwenden: Es gelingt uns nicht wirklich. Denn genau das macht ja die Sorge aus: Wir entkommen ihr nicht, sie kommt über uns und nimmt uns gefangen. Die Anspruchshaltung, locker, entspannt und sorgenfrei zu sein, wird schnell zu einer weiteren Überforderung: Man sorgt sich um das eigene Sorgen.
Es scheint keinen Ausweg aus dem Teufelskreis des Sorgens zu geben. Friedrich der Große hat es seinerzeit mit einem Schloss versucht – Sanssouci. Tatsächlich aber ging er davon aus, dass allein der Tod stärker denn die Sorgen wäre: Als er Schloss Sanssouci in den frühen vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts bauen ließ, ging er mit seinem Hofphilosophen Jean-Baptiste de Boyer, Marquis d’Argens spazieren. Friedrich deutete auf eine verborgene Gruft und sagte, „Quand je serai là, je serai sans souci.“ („Wenn ich dort bin, werde ich ohne Sorge sein“ nach F. Nicolai).
Doch vorher erlebte Friedrich noch einige Jahrzehnte, die von der Sorge um sein Territorium geprägt waren. Kriege führten zwar immer wieder zu Erfolgen, doch es kam auch zu Niederlagen und 1760 sogar zur vorübergehenden Besetzung und Plünderung Berlins. Und trotz aller Vorsorge, die Friedrich getroffen hatte, wurde er nach seinem Tod am 17. August 1786 nicht auf der Terrasse des Schlosses Sanssouci beigesetzt. Es dauerte noch über 200 Jahre bis Friedrich der Große an den Ort gebracht wurde, von dem er gesagt hatte „Quand je serai là, je serai sans souci“.
Liebe Gemeinde, selbst die Mächtigen dieser Welt müssen vor der Sorge kapitulieren. Und auch wir haben davon zur Genüge. So muss sich die Evangelische Akademie immer wieder Gedanken machen um ihre finanzielle und personelle Ausstattung, um die „richtigen“ Themenangebote und deren zeitgemäße Aufbereitung, um Gehör im riesigen Berliner Veranstaltungskonzert. Und derzeit kostet, wie ich hörte, auch das Kümmern um eine angemessene optische Präsentation der Akademie und aller ihrer Angebote und Publikationen einiges an Kraft.
Es bleibt die Frage, wie wir mit den Sorgen umgehen. Martin Luther soll gesagt haben: Dass die Vögel der Sorge über dein Haupt fliegen, kannst du nicht verhindern – doch du kannst es verhindern, dass sie Nester in deinem Haar bauen. Dieser Duktus entspricht dem in unserem Bibeltext. Dort heißt es „Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Luther hatte verstanden, was der Bibeltext aussagt: Sorgen gehören zum Leben. Wir können sie nicht ignorieren oder wegmeditieren – es geht vielmehr darum, sich nicht von ihnen vereinnahmen zu lassen, und es geht darum, sich nicht andauernd absorbieren und bekümmern zu lassen von Dingen und Umständen, die man ohnehin nicht beeinflussen kann.
Es ist schmerzlich auf die eigene Machtlosigkeit hingewiesen zu werden. Es tut oftmals weh zu sehen, was alles nicht in unserer Hand liegt. Das gilt für die großen weltweiten Dinge: Völkerverständigung, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Und es geht weiter in unserem unmittelbaren Umfeld: Welche Wege unsere Kinder einschlagen, können wir nicht bestimmen, die Gesundheit unserer Eltern nicht beeinflussen. An zentralen Stellen ist uns die Kontrolle über das eigene Leben entzogen: Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? fragte Jesus seine Jüngerinnen und Jünger damals. Und auch wir heute müssen auf diese Frage antworten, dass wir es nicht können.
Das jesuanische „Sorget nicht!“ ist mit einem radikal realistischen Menschenbild verbunden: Es ist die Antwort auf die Verunsicherung und die Selbstüberschätzung des Menschen gleichermaßen. Sorget nicht! denn ihr habt ohnehin nicht das letzte Wort. Kein Schloss, keine Versicherung kann uns der Lebenssorgen entheben - jeder Machbarkeitswahn, jede menschliche Selbstüberschätzung ist zum Scheitern verurteilt.
Doch der Text bietet auch einen Ausweg an. Jesus benennt eine Möglichkeit mit Lebenssorgen umzugehen. Er öffnet die Herzen seiner Zuhörerinnen und Zuhörer für ein neues, ein alternatives Ziel: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes.“
Nach etwas zu? Trachten ist etwas anderes als sich Sorgen zu machen. Es ist sogar das Gegenteil davon. Nach etwas Trachten heißt so viel wie: sich aufrichten auf etwas, sich darauf einlassen und sich danach auszustrecken. Es ist zwar eine aktive Handlung, aber eine, die sich von der Selbstfixierung lösen kann, weil sie etwas anderes vor Augen hat, das über den eigenen Horizont hinausweist. Die Lebenssorgen, die zuvor den Blick verstellt haben, lösen sich zwar nicht auf, aber die Perspektive auf die Sorgen wird eine andere.
Und hier sind wir wieder bei den Vögeln und ihren Nestern. Ein Mensch, der nach dem Reich Gottes trachtet, kann aufblicken. Er hat ein Ziel vor Augen, das auf ihn zukommt. Gott selbst baut sein Reich. Wer zuerst nach dem Reich Gottes trachtet, kann Sorgen daran hindern, dass sie sich „einnisten“, dem gelingt es, ihnen ihre lähmende Kraft zu nehmen. Mit diesem Ziel vor Augen können wir Menschen Hoffnung spüren – eine Hoffnung, die unseren Sorgen etwas entgegen setzt. Die den Blickwinkel weitet, über die Sorge hinaus. Und uns Kraft gibt, mit den Ursachen der Sorge umzugehen und uns hilft, Unsicherheiten zu ertragen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir die Augen vor der Realität verschließen. Das Trachten nach dem Reich Gottes eröffnet vielmehr einen ganz neuen Horizont. Während die Gefangenschaft in der Sorge den Blick auf das Wesentliche verstellt, befreit das Trachten nach dem Reich Gottes zum Blick auf das Wesentliche. Die Selbstfixierung und die ängstlichen Versuche, das unsichere Leben sicher zu machen, werden abgelöst durch einen freien Blick auf das eigentliche Leben – und das ist „mehr als Nahrung und Kleidung.“ Wir leben nicht vom Brot allein, sondern von Gottes Zuspruch, der uns in Gottes Gemeinschaft ruft. Der Blick auf die Sorge führt in die Einsamkeit, das Trachten nach dem Reich Gottes hingegen in die Gemeinschaft; in die Gemeinschaft mit Gott und seiner Schöpfung.
Das Reich Gottes steht für uns Christen in engster Verbindung mit Jesus Christus, von dem der Apostel Paulus sagt: „Alle eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch!“ (1.Petrus 5,7).
Es mag ja sein, dass wir erst im Tode aller irdischen Nöte in Gänze entledigt sind. Aber die Perspektive auf das Reich Gottes, auf das wir trachten können, zeigt uns, dass wir nicht auf den Tod warten müssen. Wir können schon jetzt damit beginnen, unsere Sorgen daran zu hindern, sich in unserem Kopf und Herzen einzunisten. Gott hilft uns dabei.
Das Reich Gottes ist weder eine träumerische Perspektive derer, die die Realität nicht aushalten noch taugt es für frommes Wunschdenken, das alles schön zeichnet. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes – das ist eine verlockende Perspektive, weil sie Realitätssinn nicht mit Zynismus, sondern mit Hoffnung auf Veränderung verbindet“ (S. Glockzin-Bever).
Mit dieser Hoffnung im Herzen werden wir zu freien Menschen: Frei können wir uns auch unseren Sorgen stellen, ohne daran zu verzweifeln. Denn wir wissen, es gibt mehr als unsere Sorge. Wir teilen eine größere Perspektive und haben einen weiteren Horizont, wenn wir nach dem Reich Gottes trachten. Eine Perspektive, die uns bestärkt und beruhigt. Eine Perspektive, in der wir aushalten können, nicht alles in der Hand zu haben, weil wir wissen, Gott hat es in der Hand – Gott hält uns in der Hand.
Amen