"Der gute Geist des Hauses" (Apg 2,2.4a)

Andacht zum Abend für das Bundestags-Protokoll

Liebe Festgemeinde,

Donnerstag oder Freitag, morgens um halb neun. Der Plenarsaal des Bundestags ist noch leer. Auf den Tribünen befinden sich keine Besucher, keine wichtigen Gäste. Die Stühle unten im Saal, im für die Kameras idealen, einzigartigen Blau, sind noch nicht besetzt. Es scheint ruhig. Vielleicht sitzt ein Abgeordneter auf seinem Platz und liest Zeitung. Doch über alle Sitze spannt sich ein virtuelles Netz. Jeder Platz ist für eine bestimmte Person vorgesehen. Die Tribünen je nach Veranstaltung nach einem komplexen Protokoll besetzt. Und auch die Einnahme der Plätze erfolgt nach einem kunstvollen Zeremoniell. Und ganz konkret, real bewegen sich durch die Gänge schon längst zielsicher Frauen und Männer in dunkelblauen Kostümen und Fräcken, mit exakt gebügelten weißen Blusen und Hemden und goldenen Jackenknöpfen mit Bundesadler darauf. Ihre Körperhaltung verrät höchste Konzentration und Aufmerksamkeit. Sie betreten Räume und verschwinden wieder. Nehmen Telefonanrufe entgegen und bearbeiten die Papierstapel an den Faxgeräten. Im Bundestag gibt es Menschen, die sich um das sorgen, was in unserer Zeit immer wichtiger geworden ist und wird: den Informationsfluss. Sie sind die feinen, so faszinierenden Fäden eines kunstvollen Netzes aus Bedeutungen und Informationen, die den Bundestag durchspannen. Ohne sie realisierte sich nicht die Ehre und Ordnung der Ämter. Und verebbte so mancher Informationsfluss der Redner ohne ein Glas Wasser. Mit ihrer Freundlichkeit, ihrem Durchhaltevermögen und ihrer Gelassenheit in der Begegnung mit wichtigen und oft gestressten Menschen, mit ihrem Organisationsgeschick, perfekten Personengedächtnis und einem freundlichen Lächeln sind sie das, was man den guten Geist des Hauses, den guten Geist des Bundestages nennen könnte.

Dieser gute Geist des Hauses durchwirkt mit seinen Fähigkeiten auch Veranstaltungen der Kirche im bundespolitischen Kontext. Wer kommt, wann und wo sitzt er, wenn die Kirche einlädt? Wie verbindet sich politisches Zeremoniell und kirchliche Liturgie? Und ganz konkret ist donnerstags und freitags um zwanzig vor neun schon der Andachtsraum im Bundestag mit Kreuz, Bibel und Orgel zu einem christlichen Andachtsraum geworden. Und wenn die Orgel zu spielen beginnt, studiert die Bundestagsgemeinde auf ordentlich bereitgelegten Zettel, mit welchem Lied, Psalm, Text sie gestärkt in den Bundestagsalltag starten kann.

‚Ein guter Geist im Haus‘ ist ein Bild, was uns vielleicht noch vom vergangenen Sonntag vor Augen steht. Die Jünger sind zum jüdischen Wochenfest Schawuot in einem Haus versammelt. Es ist Dankfest der Weizenernte und sie gedenken nach der Befreiung aus Ägypten zum Passahfest nun der Offenbarung Gottes am Berg und der Bewahrung der Freiheit durch die Zehn Gebote. Es ist Pfingsten, fünfzig Tage nach dem Tod Jesu. Eine sich nur allmählich lichtende Zeit der Trauer und des Abschieds, ein langsames Heilen der Wunden und eine schleichende Erkenntnis: Christus ist nicht tot, sondern auferstanden. Die Gemeinschaft ist nicht zu Ende, sondern geht weiter. Diese fünfzig langen Tage, die erst später zu einer österlichen Freudenzeit werden, werden aber jäh abgebrochen. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren … . Die Apostelgeschichte leitet unvermittelt das Pfingstgeschehen ein. Unvermeidlich mussten die Jünger im von Sturm und Feuer erfüllten Haus wohl auch den bebenden und rauchenden Sinai vor Augen haben. Und die Donnerstimme Gottes hören, die damals durch das Tal schallte. Eine dramatische Szene. Heftig und plötzlich. Die lethargische, lähmende Stimmung wird mit einem Mal hinwegfegt. Unerwartet tritt etwas in das Leben der Jünger. Ein Echo, ein Widerhall, ein Brausen wie ein heftiger Sturm. Ein Brausen, das mit so starken Bildern geschildert wird, dass seine nur in einem Satzteil beschriebene Wirkung beinahe in Sturm und Feuer untergeht: Und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt.

Liebe Gemeinde, ich wüsste gern, was die Jünger damals in diesem Haus widerhallen hörten. Was nahmen sie wie einen heftigen Sturm wahr? Wir wissen es nicht. Wir können es uns vielleicht vorstellen. Manchmal tritt etwas in unser Leben, das unsere lethargische Stimmung, unseren lähmende Alltag, unsere Geistlosigkeit mit einem Mal hinweg bläst. Das Auftreten eines Menschen, eine Rede, ein Wort, das uns befreit und begeistert. Dennoch erscheinen uns dramatische, an Gotteserscheinungen im Alten Orient angelegte, Darstellung der Geisterfüllung heute eher unüblich. Wir denken bei der Pfingstszene vielleicht eher an Menschen, bei denen wir uns fragen, was in sie gefahren ist, an überschwängliche Enthusiasten, nicht an uns. Mit dem guten Geist, der in einem kunstvollen Netz den Bundestag durchwirkt, hat diese Szene auf den ersten Blick nichts zu tun.

Auf den zweiten Blick aber eine ganze Menge. Nehmen wir die Dramatik aus dieser Szene! Malen wir sie nicht in einer altorientalischen Gotteserscheinung mit Sturm und Feuer! Und konzentrieren wir uns auf das, was die Jünger hören, was wie ein Echo das Haus erfüllt, was nachhallt!

Was nachhallt – so stelle ich es mir vor – ist die lebendige Botschaft Christi, die besondere an ihrem Leben erfahrene Begegnung und Gemeinschaft mit Gott. Die Jünger haben in ihrem Leben den unumstößlichen Zuspruch erfahren: Es ist Dein Leben, Du bist gewollt und auch am Ende deines Lebens aufgehoben! Dies hat ihr Leben für sie wertvoll gemacht und dies hallt in ihnen nach. Und je stärker es in ihnen nachhallt, desto stärker strahlt es auch aus ihnen heraus.

Menschen, die erfüllt sind von ihrem Leben, die Ähnliches in ihrem Leben erfahren haben, sind zumeist so motiviert, so voller Lebenseifer, dass es aus ihnen heraus strahlt. In ihnen muss – so erfahren wir es – ein guter Geist wohnen.

Auch wir lassen uns begeistern vom Leben Jesu Christi und lassen unser eigenes Leben und unseren Blick auf die Welt dadurch verändern. Und dies ist der Grund, weshalb auch die Politik das Wort Gottes braucht - warum auch im Bundestag Andachten stattfinden. Liebe Gemeinde, Sie finden – so wünsche ich es Ihnen – viel Sinn in ihrer Arbeit im Bundestag, ein gutes Auskommen, ein soziales Netz und vielleicht Erfüllung, aber der Sinn ihres Lebens ist sie nicht. Ebenso die Politik – sie ist eine zentrale Institution des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, sie und die Güte ihrer Verfassung ermöglichen erst ein friedliches und gerechtes Zusammenleben. Dennoch liegt auch in der Politik nicht unser Heil, unser letzter Lebenssinn.

Deshalb muss auch jeder Bundestagsabgeordnete, jeder Mitarbeiter im Bundestag, jeder Mensch ergründen, worauf er im Ganzen seines Lebens aus ist, welche Überzeugung ihn durch das Leben trägt, was er in seinem Leben als Wahrheit erfahren hat. Eine Gemeinschaft, die den Zuspruch erfahren hat, als Ebenbild Gottes gewollt zu sein und gebildet zu werden, die daran glaubt, dass ihr Leben bei Gott aufgehoben ist, die ist eine christliche Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die aus der frohen Botschaft für ihr Leben Kraft schöpft, die begeistert ist von dieser Botschaft.

Auch in unserer Zeit geht es letztlich nicht um einen hoch effektiven Informationsfluss, um ein faszinierendes Netz der Kommunikation, sondern es geht um die Art der Begegnung.

Ist sie freundlich, beständig, gibt sie Freiraum? Nimmt sie den anderen wahr? Ist in einem freundlichen Lächeln vielleicht auch ein Platz im Herzen für den Anderen angezeigt?

Und die kunstvolle Form, ein Zeremoniell, ist letztlich Ausdruck eines Inhalts. Dies wissen wir in jeder Veranstaltung, die wir gemeinsam planen und organisieren, in jedem Gottesdienst und in jeder Andacht, die wir auch im Bundestag gemeinsam feiern. Die dunkelblauen Kostüme und Fräcke, mit exakt gebügelten weißen Blusen und Hemden und goldenen Jackenknöpfen mit Bundesadler darauf sind ein Ausdruck der Bedeutung und Würde des Bundestages für unsere demokratische Gesellschaft. Kreuz, Bibel und Orgel, und die Bundestagsandachten donnerstags und freitags sind Ausdruck von der Anziehung, der Motivation und der Begeisterung der Botschaft Jesu Christi, die einen guten Geist im Hause schafft – den Heiligen Geist in uns.