B. Ethische Kriterien für die Gesundheitspolitik

B.II. Theologisch-biblische Kriterien

  1. Das von Juden und Christen geteilte Bekenntnis, dass Gott der Schöpfer dieser Welt ist und den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen hat, war prägend für unsere Kultur und hat viel zu ihrer Humanität beigetragen. Gleichzeitig beleuchtet es immer wieder von Neuem die Aspekte unseres politischen und gesellschaftlichen Lebens, an denen wir hinter diesem Bekenntnis zurückbleiben. Überall, wo der Mensch nur noch als Mittel zum Zweck und nicht zugleich als Zweck an sich behandelt wird, verschwindet die dem Menschen zugesprochene Würde hinter Nützlichkeitserwägungen, seien es finanzielle Kalkulationen, Effektivitätsüberlegungen oder andere als Sachzwang empfundene Umstände. Ob das gegenüber solchen Erwägungen sperrige Menschenwürdekriterium gerade unter Bedingungen materieller Knappheit zu seinem Recht kommt, muss grundsätzlich als Indikator für die Humanität einer Gesellschaft gesehen werden. Erst recht verdient dieses Kriterium zentrale Aufmerksamkeit in einer Gesellschaft wie der unsrigen, in der, verglichen mit der Welt insgesamt, Überfluss herrscht und Mittel genug vorhanden sind, um jedem Menschen die notwendige Hilfe und Aufmerksamkeit zu geben.Wer sich der mit dem Bekenntnis zur Gottebenbildlichkeit des Menschen verbundenen Verpflichtung zur Solidarität verweigert, stellt sich in klaren Gegensatz zur christlichen Überlieferung.
  2. Es kann zu den wesentlichen Charakteristika der biblischen Tradition gerechnet werden, dass Gott in seinem Mitgehen mit seinem Volk durch die Geschichte immer wieder an diese Verpflichtung zur Humanität erinnert. Gottesbeziehung und die Beziehung zu den Mitmenschen sind untrennbar miteinander verbunden. Immer wenn sich der religiöse Kult von der Verpflichtung zur Mitmenschlichkeit ablöst, bringen die biblischen Texte Gottes leidenschaftlichen Widerspruch zum Ausdruck. "Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie" - heißt es beim Propheten Amos - "und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich kein Gefallen daran und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach" (Amos 5,21-24). Gerade da, wo die Menschen besonders verletzlich sind, wie etwa in Situationen körperlicher Gebrechlichkeit oder Krankheit an Leib oder Seele oder auch in Situationen materieller Armut, dürfen sie auf Gottes Beistand hoffen. Dem soll dann aber auch der Umgang mit anderen Menschen entsprechen. Wo Menschen anderen Menschen den menschenmöglichen Beistand verweigern, handeln sie deswegen letztlich gottlos.
  3. Die Verpflichtung zu Solidarität und Mitmenschlichkeit, die den in der Bibel vielfach beschriebenen Bund Gottes mit den Menschen kennzeichnet, wird nicht als von außen aufgezwungenes und autoritär befohlenes Moralgesetz eingeführt. Sie wird vielmehr als Konsequenz der eigenen geschichtlichen Befreiungserfahrung interpretiert und plausibel gemacht: Wie Gott sein Volk aus der Bedrängnis der Sklaverei in Ägypten herausgeführt hat, so soll die Gemeinschaft nun auch ihren Mitmenschen in Bedrängnis beistehen. Nicht der Befehl eines autoritären Gottes oder der moralische Appell ist die Grundlage für die biblische Ethik, sondern die Aufforderung zur Einfühlung in den anderen: "Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid" (Ex 23,9). Ethisches Handeln gründet in der reflektierten Wahrnehmung der eigenen Existenz in Beziehung zu Gott und den Mitmenschen.
  4. Das Liebesgebot, das als Summe aller jüdisch-christlichen Ethik gesehen werden kann, trifft genau den Kern dieser Einsicht. Martin Buber hat es treffend so übersetzt: "Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du." Im Neuen Testament finden wir aus dem Munde Jesu die sogenannte "Goldene Regel": "Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten" (Mt 7,12). Die Goldene Regel bringt die Ethik der Einfühlung auf den Punkt, die die gesamte Bibel durchzieht. Wer die eigenen Leidenserfahrungen reflektiert und bereit ist, sich auch in den anderen einzufühlen, der weiß, wie er ihm gegenüber zu handeln hat. Die neutestamentliche Ethik kann also als wohlüberlegte Verbindung eines Aufrufs zum Leben als Christ und dem Bemühen um Plausibilisierung für alle Menschen guten Willens verstanden werden.
  5. Die darin zentrale "vorrangige Option für die Armen", so das ökumenische Sozialwort von 1997, wird als unverzichtbare Dimension der Gottesbeziehung geschildert, die Altes und Neues Testament miteinander verbindet. Im Neuen Testament wird das Auftreten Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung Gottes an die Armen gedeutet (Lk 4,18-21). Im Gleichnis vom Weltgericht werden die Hungrigen, die Durstigen, die Fremden, die Nackten, die Kranken und die Gefangenen unmittelbar mit Christus selbst identifiziert (Mt 25,31-46). Auf die Frage Johannes des Täufers, ob Jesus der Messias sei, lässt Jesus ausrichten: "Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt" (Mt 11,5). Paulus deutet Jesu Tod am Kreuz als Zeichen dafür, dass Gott gerade das vor der Welt Geringe, das Schwache, das "Nicht-Seiende" erwählt hat (1. Kor 1,27f).
  6. Sosehr Pflege und Heilung kranker Menschen Konsequenzen des christlichen Liebesgebots sind, so notwendig ist es auch, die menschliche Endlichkeit anzunehmen. Die Versuchung, die Endlichkeit mit allen Mitteln überwinden zu wollen, scheint die Menschheit von Anfang an begleitet zu haben. In der biblischen Urgeschichte wird erzählt, wie Adam und Eva sich über Gottes Verbot hinwegsetzen und von dem Baum der Erkenntnis essen. Nachdem das geschehen ist, sagt Gott: "Nun aber, dass der Mensch nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich." Es kann als Akt der Liebe Gottes verstanden werden, wenn Gott den Menschen davor bewahrt, dieser Versuchung zu erliegen: Gott weist den Menschen aus dem Garten Eden und stellt die Cherubim vor den Eingang, "zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens" (1. Mose 3,24). Die Weisheit, die in diesen Sätzen liegt, ist verblüffend aktuell: Wo der Mensch krampfhaft versucht, seine Endlichkeit zu überwinden, und dabei jedes Mittel anwendet, da verfehlt er das gelingende Leben, das Gott ihm zugedacht hat. Deswegen gilt es, wachsam zu sein, wenn heute der Segen des Heilens in sein Gegenteil verkehrt wird. Die Achtung vor der Würde des Menschen kann sich sowohl darin zeigen, dass Heilungsmöglichkeiten genutzt werden, als auch darin, dass Endlichkeit angenommen wird, wenn der Kampf gegen die Krankheit eine Eigendynamik entwickelt, die das menschengerechte Maß nicht mehr wahrt.
  7. Die Heilung von Krankheiten spielt in den neutestamentlichen Texten, die von Jesu Verkündigung des Reiches Gottes berichten, eine zentrale Rolle. Jesus verkündet in der Ansage des Reiches Gottes das Heil. Viele Geschichten von Jesu Wirken zeigen, dass mit dem in Christus anbrechenden Heil auch Erfahrungen der Heilung verbunden sein können, die das Heil körperlich und seelisch zeichenhaft sichtbar werden lassen. Sowenig Glaube mit körperlicher Heilung untrennbar verknüpft werden kann, so sehr dürfen Erfahrungen körperlicher und seelischer Heilung als Wirken Gottes interpretiert und dankbar angenommen werden. In den Geschichten von Jesu Heilung sind die Heilungen häufig auch mit der Erfahrung wiedergewonnener Gemeinschaft verbunden. Die Pflege und Behandlung kranker Menschen und die Assistenz für behinderte Menschen können deshalb Zeugnis der christlichen Hoffnung auf das Reich Gottes sein.
  8. Es ist kein Zufall, dass in den Texten, die von der vorrangigen Option Gottes für die Armen sprechen, immer auch die Kranken eine besondere Rolle spielen. In der Entstehungszeit der Texte war das Kranksein eines der größten Hindernisse für soziale Teilhabe. Kranksein führte schnell zum Ausschluss aus der Gemeinschaft. Nicht zuletzt als Konsequenz christlicher Hilfskultur, wie wir sie heute in Diakonie und Caritas institutionell verankert finden, hat sich das Bild von Krankheit im Lauf der Geschichte verändert. Krankheit führt heute nicht per se zur Marginalisierung. Die seit biblischen Zeiten kontinuierlich geübte Praxis der Sorge für die Nächsten, vor allem für die Schwachen, Kranken und Menschen mit Behinderung, hat dem heute so wichtigen Grundgedanken unseres Gemeinwesens, dass ein jeder Mensch Träger einer unveräußerlichen Würde ist, kräftig zugearbeitet.
  9. Auch wenn der damit verbundene Humanitätsgewinn dankbar registriert werden kann, sind langwierige und schwere Krankheiten und Behinderungen auch heute mit dem Risiko des sozialen Ausschlusses verbunden. Schwere seelische und körperliche Krankheiten führen dazu, dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren oder sogar dauerhaft erwerbsunfähig werden und damit Einkommensverluste und Einschränkungen in der gesellschaftlichen Teilhabe erleiden. Damit ist ein Kernaspekt von Gerechtigkeit berührt. In der ökumenischen Sozialethik hat sich in dieser Hinsicht das Konzept der Teilhabe- oder Beteiligungsgerechtigkeit entwickelt. "Es zielt wesentlich auf eine möglichst umfassende Integration aller Gesellschaftsglieder. Niemand darf von den grundlegenden Möglichkeiten zum Leben, weder materiell noch im Blick auf die Chancen einer eigenständigen Lebensführung, ausgeschlossen werden" (Rat der EKD, Gerechte Teilhabe, Ziffer 60). Auch wenn im Falle von Krankheit oder Behinderung die Einschränkung der Lebensmöglichkeiten in der Regel nicht beseitigt, sondern nur begrenzt werden kann, so stellt sich doch umso mehr die Aufgabe, die Hindernisse für die soziale Teilhabe kranker oder behinderter Menschen so weit wie möglich zu beseitigen.
  10. Der Einsatz für solche soziale Teilhabe kann als ein Ausdruck der Freiheit eines Christenmenschen verstanden werden. Das spezifische christliche Verständnis von Freiheit "kommt in der engen, unauflöslichen Beziehung von Freiheit und Bindung, Freiheit und Dienst zum Ausdruck: Frei ist derjenige Mensch, der sich in Bindung an Gott zum Dienst an den anderen als befreit erleben kann. Freiheit ist nicht auf die Wahlfreiheit des Individuums zu reduzieren, sondern als "kommunikative Freiheit" in Verantwortung vor Gott wie vor den anvertrauten Menschen zu verstehen" (Rat der EKD, Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Ziffer 31). Gerade Kranke sind darauf angewiesen, dass die Mitmenschen ihre Freiheit nicht als Alternative zum Einsatz für den Nächsten, sondern als Grundlage für einen solchen Einsatz verstehen.
  11. Heute ist neu darauf hinzuweisen, dass menschliche Begleitung Kranker und materielle Absicherung gegen die Krankheitsrisiken zu den wesentlichsten Ausdrucksformen von Humanität in einer Gesellschaft gehören. Sowohl der Empathie und Hilfsbereitschaft der einzelnen Menschen als auch sozialstaatlicher Daseinsvorsorge kommen dabei zentrale Bedeutung zu. Zivilgesellschaftliches Engagement und staatlich garantierte Absicherung gegen Risiken gehen Hand in Hand. Keines davon darf schlechtgeredet werden. Deswegen darf auch die Ermutigung zur Eigenverantwortung nicht gegen staatlich organisierte Solidarität ausgespielt werden. Das gilt umso mehr dann, wenn die Möglichkeit, Eigenverantwortung wahrzunehmen, durch Krankheit und Behinderung oder durch materielle Armut minimiert oder unmöglich gemacht ist.
  12. Staatlich organisierte Solidarität kann Barmherzigkeit als persönliche Haltung nicht ersetzen. Die in personalen Akten der Zuwendung zum Ausdruck kommende menschliche Nähe ist durch institutionelle Settings nicht abbildbar. Genauso gilt aber: Es bedarf solcher institutionellen Formen, um Solidarität verlässlich zu machen. Wenn demokratische Gesellschaften sich durch entsprechende Sozialgesetzgebung zur Solidarität verpflichten und damit auch ihren Bürgerinnen und Bürgern entsprechende Solidaritätsbeiträge abverlangen, dann kann das als Ausdrucksform von Freiheit verstanden werden. Ein Gesellschaftsvertrag, in dem Freiheit und Solidarität als wechselseitig aufeinander bezogene Größen verstanden werden, kann sich mit guten Gründen auf die christliche Tradition berufen.
  13. Damit der Staat seine Solidaritätsaufgabe wahrnehmen kann, ist er auf die Bereitschaft seiner Bürger angewiesen, durch die je vorhandenen Möglichkeiten entsprechenden Steuerzahlungen zum sozialen Ausgleich beizutragen. Solcher soziale Ausgleich ist letztlich im Interesse aller, auch der gut Situierten. Sehr breit angelegte neuere sozialwissenschaftliche Vergleichsstudien [6] haben gezeigt, was auch eine christliche Ethik, die über die gesellschaftlichen Konsequenzen der Gleichheit der Menschen vor Gott nachdenkt, bewegt: Wenn Nationen einen vergleichbaren Wohlstand produzieren, aber das eine Mal Einkommen und Vermögen sehr unterschiedlich, das andere Mal recht gleichmäßig verteilt sind, sind die Menschen der von mehr Gleichheit geprägten Gesellschaft im Durchschnitt glücklicher, gesünder, gebildeter und weniger von Kriminalität betroffen als in der Gesellschaft mit großen Vermögensunterschieden. Nur auf den ersten Blick ist erstaunlich, dass dieses Resultat nicht nur für die weniger Begünstigten, sondern für alle gilt, also auch für die, die in der sogenannten sozialen Hierarchie oben stehen. Zwar lassen sich urmenschliche Faktoren wie Neid und Streitsucht nie völlig ausschließen. Aber das Gefühl, sich durch ständigen Vergleich entweder nach oben oder unten aggressiv abgrenzen zu müssen, scheint signifikant in einer eher egalitären Gesellschaft nachzulassen.
  14. Ergebnisse von Studien zeigen, dass die Zufriedenheit der Bevölkerung in Gesellschaften, die auch auf Gleichheit und nicht nur auf individuelles Wohlergehen oder auf Eigenverantwortung achten, weit höher ist als in Gesellschaften mit hoher Ungleichheit. Sie sind für die evangelische Sozialethik von hoher Bedeutung. Diese Resultate sind wichtig, wenn es darum geht, nach den ethischen Kriterien einer gerechten und humanen Gesundheitspolitik zu fragen. Sie sind entscheidend, weil sie zeigen: Trotz aller Konfliktbeladenheit menschlichen Lebens haben sehr viele Menschen ein elementares Interesse an Gemeinschaft, wechselseitigen Solidaritätsbindungen sowie an Unterstützung von Schwächeren. Diese teils auf Wechselseitigkeit, teils auf Hilfe zielenden Bindungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen - von Familien, Vereinen, zwischen Generationen und Belegschaften eines Betriebes hin zu neuen Formen von Internet-Communities - kreieren und fördern eines der wichtigsten Güter, das Menschen suchen und benötigen: Respekt und wechselseitige Anerkennung. Ohne Respekt voreinander, ohne geschenkte und ohne gegebene Anerkennung kann menschliches Leben nicht funktionieren. Respekt und wechselseitige Anerkennung entsprechen der grundlegenden Würde jedes und jeder Einzelnen und müssen deshalb auch im Mittelpunkt des sozialen Miteinanders wie des Wirtschaftens stehen. Mit dem Wunsch nach Respekt und Anerkennung auch jenseits ihrer Leistungen und Leistungsfähigkeit bringen Menschen zum Ausdruck, dass für sie die Suche nach Lebenssinn mit dem Glück und der Sicherung elementarer Bedürfnisse anderer Menschen vereinbar ist, ja, dass der Respekt vor anderen und die wechselseitige Anerkennung zum Lebensglück gehören.
  15. Niemand sollte deshalb davon ausgehen, dass Gerechtigkeit, Solidarität und Unterstützung für Schwache oder Benachteiligte nur dem Zweck dienten, die Gesellschaft zu stabilisieren oder ein besseres Bruttosozialprodukt zu erzielen. Diese Effekte mögen auch zutreffen. Wichtiger ist aber, dass es für viele ein Grundbedürfnis ist und dass sie es insgesamt sehr schätzen, wenn es der Gesellschaft, in der sie leben, nicht egal ist, wie es denen geht, die besonderen Lebensrisiken ausgesetzt sind. Studien zum freiwilligen Engagement, zu Entwicklung von Familien und Bürgergesellschaft zeigen, dass ganz entgegen mancher Inszenierung von Teilen der Medien oder der Politik ein Großteil der Bürger weiterhin ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement pflegt, sich um kranke Angehörige kümmert, Steuern zahlen will und auch die solidarische Krankenversicherung im Prinzip für ein im Vergleich zu Alternativmodellen sehr gutes Gesundheitssystem erachtet. Bürgerinnen und Bürger zweifeln allerdings oft daran, dass die jeweils gute Grundidee angemessen umgesetzt wird. Eine grundsätzliche Bereitschaft zur Solidarität wird mit dieser oftmals berechtigten Kritik aber nicht in Frage gestellt. Diese hohe Sympathie für solidarische Bindungen, die die evangelische Kirche aus den oben genannten Kriterien ihrer eigenen Sozialethik heraus engagiert unterstützt, gilt auch für die Jugend. Keineswegs ist sie allein an egoistischer Selbstverwirklichung und Spaßmaximierung orientiert. Studien zeigen vielmehr ein starkes Interesse Jugendlicher an - allerdings - bisweilen neuen Formen von Solidarität. Diese sind oft kürzer und stärker projektorientiert, aber keineswegs weniger intensiv als traditionelle Formen des ehrenamtlichen Engagements. Die einhellige Botschaft verschiedener Jugendsurveys lautet: Wer das Klagelied auf die Jugend singt, missachtet entgegen der Datenlage deren Engagement, verbaut sich den Zugang zur Zukunft und lenkt möglicherweise von eigener Phantasielosigkeit, Solidaritäten neu zu leben, ab. Jedenfalls gibt es keinen substanziellen Anlass zur Sorge, mit der Einstellung der heutigen jüngeren Menschen verlöre der Wunsch nach einer solidarischen Gesellschaft seine Grundlage.
  16. Ermutigend sind die vielfachen Belege für den nachhaltig wichtigen Zusammenhang zwischen Solidarität und gesellschaftlichem Wohlergehen auch deshalb, weil sie zeigen: Solidarität, der Wunsch nach Begrenzung von Ungleichheit in einer Gesellschaft und Unterstützungsbereitschaft für Menschen mit besonderen Risikolagen schwächen keineswegs Eigenverantwortung und Eigeninitiative in einer Gesellschaft. Im Gegenteil: Gerade die seit Jahrzehnten ökonomisch prosperierenden skandinavischen Länder ziehen einen beträchtlichen Teil ihres Erfolges daraus, dass sie die genannten Werte und Güter vertreten. Gestritten werden darf allerdings darüber, wie die sozialstaatlichen Ausgaben verteilt werden. Deshalb kommt alles darauf an, wie diese Mittel so eingesetzt werden können, dass gesellschaftliche Teilhabe auf breiter Basis ermöglicht wird. Hier ist in Richtung auf Befähigung, Bildung und Beteiligung noch viel Kreativität zu entwickeln und vor allem umzusetzen. Denn es liegen schon sehr viele sehr gute Vorschläge - beispielsweise in der Gestaltung des Generationenverhältnisses - vor, aber es mangelt noch häufig an der Umsetzung. Insgesamt besteht kein Zweifel daran, dass Wohlfahrtsstaatlichkeit mit der ihr innewohnenden Tendenz zu Solidarität und zu mehr als weniger Gleichheit als freiheitsförderlich und keineswegs freiheitshinderlich erachtet und genau deshalb im Grundsatz von vielen als ein hohes Kulturgut wertgeschätzt wird. Umgekehrt zeigt sich, dass mit wachsender ökonomischer und sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft Gewaltbereitschaft und Kriminalität, Probleme von Jugendlichen und in Familien zunehmen, während das Engagement und die gesellschaftliche Bindung abnehmen.
  17. Gesundheit ist nicht alles, aber vieles ist ohne sie schwierig. In Krankheit kann die eigene Welt aus den Fugen geraten. Schmerz, körperliche oder seelische Einschränkungen hindern daran, eigene und fremde Erwartungen zu erfüllen. Der Ausschluss aus dem Gewohnten wie persönlichen Beziehungen, aber auch aus beruflichen Routinen droht, wenn eine Krankheit chronisch wird, wie es immer häufiger der Fall ist. Dabei ist durchaus umstritten, was genau die Begriffe "Gesundheit" und "Krankheit" meinen und wie ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen ist. Die wegen ihres utopischen und allumfassenden Anspruchs viel kritisierte Definition der Weltgesundheitsorganisation WHO ("Gesundheit ist der Zustand vollständigen körperlichen, seelischen, geistigen Wohlbefindens") hat doch ihr Gutes. Sie sagt nämlich auch: Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit und Krankheit sind also weder einfach Zustände, die unabhängig voneinander sich komplett ausschließen, noch zwei Pole eines Kontinuums. Wenn vielmehr Gesundheit die Fähigkeit ist, mit den eigenen körperlichen und seelischen Begrenzungen überwiegend konstruktiv umgehen zu können (D. Rössler), dann können kranke, gebrechliche oder körperlich eingeschränkte Menschen jedenfalls zu einem gewissen Grade gesund sein. Gesundheit und Krankheit sind dann bisweilen auf verschiedenen Ebenen angesiedelt und können vieldimensional gestärkt oder geschwächt werden.
  18. Viele Faktoren tragen folglich dazu bei, wie gesund und wie krank ein Mensch ist und sich fühlt: biologische, soziale und Umweltbedingungen, Ernährung, Einstellung und Verhalten. Das wiederum heißt: Gesundheit wird nicht nur durch das Gesundheitssystem hergestellt und bewahrt. Die größten Gewinne an Lebenszeit und Lebensqualität hat die Menschheit in den letzten 150 Jahren eher durch Hygienemaßnahmen, Arbeitsschutz, Bildung und Ernährung erreicht. Diese Einsichten mindern keineswegs die erheblichen Fortschritte in der Medizin, ordnen sie aber in ein größeres Ganzes ein.
  19. In den letzten Jahrzehnten haben sich als menschenrechtliche und moralische Ansprüche das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Gesundheitsversorgung etabliert. Wenn von einem Recht auf Gesundheit die Rede ist, meint dies selbstverständlich nicht, dass man eine Gesundheit im rechtlichen Sinne als subjektives Recht einklagen könne (vgl. dazu auch spätere rechtliche Kriterien). Vielmehr soll damit das Bündel an sozialen Maßnahmen, die ein Leben in Gesundheit im oben beschriebenen Sinne ermöglichen und die über die medizinische Versorgung hinausreichen, als Bedingung für ein menschenwürdiges Leben in Erinnerung gerufen werden. Aber jenseits dieser Maßnahmen besitzt nach zahlreichen Deklarationen der UN und der WHO auch das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung seine dringliche Notwendigkeit. Denn in akuten Notsituationen wie chronischen Störungen des Leibes können nur die Medizin und ärztliches Handeln Schlimmeres verhindern. Der Einzelne ist finanziell wie von seinen persönlichen Kompetenzen dann oft überfordert, seine Gesundheit allein wiederherzustellen oder mit seinen Einschränkungen konstruktiv umgehen zu können.
  20. Was unter einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu verstehen ist, wird politisch, ethisch und rechtlich heftig debattiert (vgl. die rechtlichen Kapitel). Wenn eine staatlich garantierte Gesundheitsversorgung zumindest einen Beitrag zu einem menschenwürdigen Leben leisten soll, dann kann sie nicht zu gering ausfallen. Mit ihr soll ja das soziokulturelle Existenzminimum gesichert werden. Es wäre jedoch für ein so reiches Land, wie es Deutschland immer noch ist, beschämend, wenn sich die gesellschaftliche Mehrheitsmeinung auf dieses niedrige Maß der Gesundheitsversorgung beschränken würde. Vielmehr sind die oben erwähnten starken Einstellungen zu wechselseitiger Anerkennung, Gerechtigkeit, Solidarität und zur Unterstützung von Schwächeren zu beachten, um eine - wie es im für die Krankenversicherung zuständigen Sozialgesetzbuch V heißt - "humane Gesundheitsversorgung" (§ 70 SGB V) auf Dauer für alle bereitzustellen.
  21. Ein Gesundheitssystem, das die mit der "vorrangigen Option für die Armen" verbundenen Orientierungen ernst nimmt, wird diejenigen unter den Hilfsbedürftigen besonders im Blick behalten, die aufgrund ihrer Situation dem Risiko des sozialen und ökonomischen Ausschlusses ausgesetzt sind: schwerwiegend chronisch Kranke, Pflegebedürftige, Menschen mit Behinderung und materiell Arme. Aber auch unter den Helfenden gibt es Gruppen, die aufgrund ihrer besonderen Belastungssituation auf Anwaltschaft angewiesen sind. Handlungsbedarf besteht auch da, wo, etwa in der Pflege, Höchstleistungen erbracht werden, ohne dass sie angemessen entlohnt werden. Neben der angemessenen Entlohnung verdienen gerade die Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die sich häufig unter Extrembelastung kranken Menschen zuwenden, Arbeitsbedingungen, die ihnen die notwendige Regeneration ermöglichen und sie damit vor Burnout schützen. Nur wenn Pflegeberufe solchermaßen angemessene Arbeitsbedingungen bieten, werden sich auch so viele Menschen diesen Berufen zuwenden, dass eine gute Versorgung in der Zukunft gesichert werden kann.
  22. Wenn der Appell zur Mitmenschlichkeit konkrete Konsequenzen für das Gesundheitswesen haben soll, dann muss das Verhältnis zwischen medizinischer Versorgung des Körpers und menschlicher Zuwendung neu definiert werden. Die aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten heraus entstandene Verdichtung der Arbeitsabläufe im medizinischen Bereich hat dazu geführt, dass in Arztpraxen und Kliniken immer weniger Zeit für das persönliche Gespräch bleibt. Es ist an der Zeit, einen neuen gesellschaftlichen Konsens dafür zu entwickeln, dass dieses zunehmende Missverhältnis überwunden wird. Im Arzt-Patient-Verhältnis ebenso wie in den Arbeitsabläufen der Pflegekräfte und anderer Mitarbeitenden muss der Stellenwert der Beziehungszeit gestärkt und diese Stärkung auch ökonomisch gewollt werden.
  23. Die Gesundheitsversorgung wird aus pragmatischen und kulturellen Gründen primär im Nationalstaat gewährt. Mit dieser Fokussierung dürfen die großen Probleme der Weltgesundheit nicht außer Acht gelassen werden. Auch der christliche Glaube spricht von seinem ureigensten Verständnis alle Menschen an. Die ausschließliche Konzentration auf die Wohlfahrt einer einzigen Nation lässt sich, auch in Fragen der Gesundheit, mit ihm nicht vereinbaren. Umgekehrt dürfen die Probleme im eigenen Land nicht mit dem Hinweis auf andere, möglicherweise noch größere Herausforderungen geleugnet werden. Deshalb bleibt es legitim und wichtig, gesellschaftliche Weichenstellung im Umgang mit Gesundheit und bei der Gesundheitsversorgung in Deutschland zu diskutieren. Gleichzeitig muss auch im Gesundheitswesen die Herausforderung der Gerechtigkeit in der einen Welt im Blick bleiben. Die Tatsache, dass in vielen Ländern mit einfachsten medizinischen Mitteln Menschenleben gerettet werden können, während hierzulande immense Ressourcen in die Hochleistungsmedizin gesteckt werden, muss als kritischer Stachel im Blick bleiben, auch wenn sie nicht zur Preisgabe der Qualität unseres Gesundheitswesens führen kann.

"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

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