Bibelarbeit zu Lk 1, 39-56 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin

Margot Käßmann, Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017

1. Der Text

Lassen sie uns zunächst den Bibeltext lesen. Im Programmheft finden Sie auch die Übersetzung für diesen Kirchentag und eine Übersetzung in leichter Sprache. Im Jahr des Reformationsjubiläums aber lese ich aus der revidierten Lutherübersetzung 2017:

39 Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda
40 und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth.
41 Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt
42 und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!
43 Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?
44 Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe.
45 Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Denn es wird vollendet werden, was ihr gesagt ist von dem Herrn.

Marias Lobgesang

46 Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn,
47 und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;
48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
49 Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
50 Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten.
51 Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
54 Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf,
55 wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.
56 Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.

2. Eine Begegnung in Freundschaft

Als ich den Text für die Bibelarbeit gelesen habe, bin ich beim ersten Vers gleich stecken geblieben: Warum? Warum geht eine schwangere Frau übers Gebirge in das Haus einer anderen Frau und bleibt da volle drei Monate? Gebirge heißt doch: nicht gerade ein Spaziergang! Allein und schwanger – warum? Sehr jung muss Maria gewesen sein, Exegetinnen schätzen heute, sie war 13 oder 14 Jahre alt. Bleibst du da nicht lieber zuhause, bei deiner Mutter oder bei deinem Mann?

Für all diese Fragen finden wir keine Antwort im Text. Es gibt in der römisch-katholischen Kirche die Legende, Marias Mutter habe Anna geheißen. Erstmals taucht das im Jahr 550 nach Christus auf und dann wieder im Jahr 1142. Und dann soll sie auch noch „unbefleckt“ Maria empfangen haben, zwar natürlich gezeugt, aber von Erbsünde befreit. Bei aller Liebe zur Ökumene – das ist schlicht Legende, in der Bibel steht davon nichts. Da halte ich mich an Martin Luthers Grundsatz von ‚sola scriptura‘, allein die Schrift ist der Maßstab.

Nach der Erzählung des Lukasevangeliums hat Maria soeben begriffen, dass sie schwanger ist und ein Engel verkündigt ihr, dass ihr Sohn eine ganz besondere Rolle spielen wird. Nun könnten wir sagen, das glaubt jede Mutter. Italiener haben dafür offenbar einen besonderen Sinn, wenn es heißt:

1. Nur ein Italiener wohnt bis 30 bei seiner Mutter.
2. Nur ein Italiener kann seine Mutter für eine Jungfrau halten.
3. Nur eine italienische Mutter meint, dass ihr Sohn Gott sei.

Gut, kommen wir aber ernsthaft zu unserem Text zurück. Warum macht sich Maria auf so einen beschwerlichen Weg? Ich denke, sie sucht eine Gleichgesinnte, Schutz und Trost und Ermutigung braucht sie in ihrer schwierigen Situation. Sie ist schwanger, sie kann es kaum begreifen, sie hatte diese Engelerscheinung. Wohin mit all den Gefühlen? Manche sagen, Elisabeth war ihre Tante, ihre Cousine, das alles wissen wir nicht. Aber es ist klar: Elisabeth war auch schwanger und zwar auch unerwartet. Es heißt, sie sei „hochbetagt“ gewesen, als sie schwanger wurde, aber das hieß damals wohl eher 30. Heute wird Janet Jackson mit 50 schwanger, Gianna Nanini mit 54, das war in biblischen Zeiten schlicht unvorstellbar. „Betagt“ ist insofern ein sehr relativer Begriff.

Es geht um zwei Frauen also, die in ungewöhnlicher Situation schwanger werden, die eine lange kinderlos geblieben, die andere sehr jung, nicht verheiratet. Wenn ich die Geschichte so lese, gefällt sie mir immer besser. Da sucht die sehr Junge bei der Älteren Halt. Und die Ältere freut sich geradezu begeistert über diesen Besuch. Die Ängste teilen, die Fragen, die für beide im Raum stehen. Der Mann der Älteren ist verstummt, vom Mann der Jüngeren hören wir bis hierher bei Lukas noch gar nichts. Ist da wirklich Gott im Spiel? Was wird werden?

Im Grunde ist das doch eine sehr sensible Geschichte von Frauenfreundschaft. Zwei Frauen wissen voneinander. Sie nehmen sich Zeit miteinander, drei Monate lang (!), dieses Wunder der Schwangerschaft zu erleben. Die Unsicherheit miteinander auszutauschen. Die Glücksgefühle zu teilen, aber auch die Ängste. Und sie erleben, dass ihre Kinder offenbar aufeinander reagieren. Gewiss, Lukas komponiert das, um das Verhältnis von Johannes und Jesus, das später eine große Rolle spielt, vorweg darzustellen. Aber wir wissen heute, wie entscheidend bereits die Phase der Schwangerschaft für das im Mutterleib heranwachsende Kind ist. 

Die Zeit der Schwangerschaft ist für jede Frau sehr sensibel. Der Körper verändert sich massiv. Die Hormone spielen Chaos. Und dann kommt der Moment Ende fünfter, Anfang sechster Monat, da bewegt sich das Kind in deinem Körper. Was für ein Erschrecken, was für eine Freude! In der Kirchentagsübersetzung heißt es, das Kind „strampelte“ im Bauch von Elisabeth, als Maria sie besucht. Das klingt doch ein wenig banaler als Luthers „hüpfte“, oder? Wir können viel streiten mit Luther, aber er hatte ein gutes Gefühl für Sprache und Lebensgefühl, selbst wenn er als Mann das kaum nachempfinden konnte, was eine Frau in der Schwangerschaft erlebt. 

Ja, es gibt Frauen, die das alles locker wegzustecken scheinen, im neunten Monat noch Parteitage bewältigen, drei Wochen nach der Entbindung von Zwillingen wieder voll berufstätig sind wie Yahoo-Chefin Marissa Mayer oder wie Heidi Klum sieben Wochen nach der Geburt von Sohn Henry mit nach heutigen Kategorien großartigem Körper bei der Dessous-Show von Victoria's Secret. Aber für die Mehrheit der Frauen ist und bleibt eine Schwangerschaft eine enorme Herausforderung, auch im 21. Jahrhundert und auch in Deutschland.

Frauenfreundschaft. Das heißt in dieser Situation, keine urteilt über die Situation der anderen. Sie freuen sich miteinander und für die andere. Ob wir endlich dahin kommen in unserer Gesellschaft? Sich schlicht freuen über eine Schwangerschaft? Bei uns gibt es diese ständige Beurteilung: Wann ist der richtige Zeitpunkt, was ist die richtige Familienkonstellation? Im Wahlprogramm der AfD für dieses Jahr ist das sehr klar. Da heißt es: „Die Wertschätzung für die traditionelle Familie geht in Deutschland zunehmend verloren.“1 Erste Frage: Stimmt das? Weiter: „Die zunehmende Übernahme der Erziehungsaufgabe durch staatliche Institutionen wie Krippen und Ganztagsschulen, die Umsetzung des ‚Gender-Mainstreaming‘-Projekts und die generelle Betonung der Individualität untergraben die Familie als wertgebende gesellschaftliche Grundeinheit.“2 Zweite Frage: Was ist denn das für ein Vorwurf, wen soll der treffen? Und weiter: „Den demografischen Fehlentwicklungen in Deutschland muss entgegengewirkt werden. Die volkswirtschaftlich nicht tragfähige und konfliktträchtige Masseneinwanderung ist dafür kein geeignetes Mittel. Vielmehr muss mittels einer aktivierenden Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als mittel- und langfristig einzig tragfähige Lösung erreicht werden.“3 Keine Frage mehr, jetzt ist es klar. Frauen sollen Kinder bekommen, wenn sie „biodeutsch“ sind. Das ist eine neue rechte Definition von einheimisch gemäß dem so genannten kleinen Arierparagraphen der Nationalsozialisten: zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern. So einfach klein und eng können selbst die Neonazis sich die Welt im Jahr 2017 nicht malen. Ich bin mehrfache Großmutter, aber schon ich bin mit Kindern von Einwanderern aus Anatolien in die Schule gegangen, die einen deutschen Pass haben. Ich denke an Fehim, der hat Abitur gemacht, er und seine Frau Ayse sind Deutsche, haben drei Kinder, die studiert haben und sind Großeltern demnach biodeutscher Kinder. 

Ach ja und die Betreuung. Genau richtig, wenn die Mutter zu Hause bleibt. Berufstätig sein musst du! Ist doch eine lockere Sache, bisschen Kinder, bisschen Beruf und du bist happy. Heute wird doch jede Alleinerziehende vom Staat versorgt. Krippe, na klar! Nee, keine Tagesmutter zu finden in der Stadt. Alle wissen in unserer Gesellschaft immer alles besser. Warum nicht so: Jede Mutter – möglichst gemeinsam mit jedem Vater – sollte entscheiden können, wie es für sie und ihr Kind, ihre Kinder, am besten ist und alle Möglichkeiten haben, zu wählen!

Das finde ich an unserem Bibeltext heute Morgen großartig: Die beiden Frauen freuen sich miteinander an ihren Schwangerschaften. Klar, sie haben Sorgen: Schaffe ich das noch in meinem Alter? Bin ich zu jung? Hat Gott etwas damit zu tun? Wie komme ich klar ohne Ehemann? Was werden die Leute sagen? Ganz egal. Da wachsen zwei Kinder heran und sie sind ganz offensichtlich willkommen, völlig gleich, in welcher Konstellation sie geboren werden. Da können sich alle schlicht einmal mitfreuen und die Ängste wie die Freude und die Hoffnung mittragen.

3. Die Reden der Frauen

In nur einem einzigen biblischen Kapitel gibt es hier zwei Reden von Frauen! Das ist mehr, als mancher Theologenkongress heute zu bieten hat! Die Theologin Claudia Janssen schreibt: „Die Beschreibung von Elisabet und Maria geht weit über das hinaus, was ansonsten im Lukasevangelium an Frauenaktivität sichtbar wird: Nirgendwo sonst halten Frauen Reden, Elisabet spricht sogar als erste ein christologisches Bekenntnis…“4. Zunächst begrüßt Elisabeth die junge Maria, sie segnet Maria und ihr Kind. Noch einmal Claudia Janssen: „Elisabets Segen umfasst Maria und ihr Ungeborenes. Zwischen ihnen fließt die Kraft Gottes, die heilige Geistkraft, die sie ermächtigt, laut zu werden und ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.“5

Elisabeth ist geradezu begeistert. Sie spürt, dass mit Maria etwas Besonderes geschieht, dass da eine Geschichte beginnt, die die Welt verändern wird. Und zwar begreift sie es, weil ihr Sohn in ihrem Körper strampelt. Sie sagt zu Maria, diese sei gesegnet, ebenso das Kind, das in ihr heranwächst. Das ist ein sehr, sehr schöner Gedanken, ja eine Zusage, die die junge Frau in dieser Situation gewiss gut gebrauchen kann. 

Da kann sich eine einfach schlicht und ergreifend mitfreuen. Sie urteilt nicht, sie äußert keine Besorgnisse, sie wägt nicht ab, sondern jubelt. Das ist wahrhaftig Willkommenskultur. Egal, woher du kommst, ganz gleich, wer du bist, was immer auch kommen mag: Jetzt ist es schön und gut, dass du schwanger bist. Und ich, ja wir werden alles tun, dich zu unterstützen, denn so eine Schwangerschaft ist ein Segen Gottes. Die Ewige hält die Hand über dich.

Und dann kommt Marias Rede. Was heißt Rede, das ist ein Revolutionslied! Die Mächtigen werden vom Thron gestürzt, die Erniedrigten werden erhöht. „Hungernde erfüllt sie mit Gutem und die Reichen schickt sie mit leeren Händen weg“, wie es für den Kirchentag übersetzt wird. Das ist nicht weniger als eine Umkehrung der Machtverhältnisse, mehr Thomas Müntzer als Martin Luther. So eine Rede einer Frau würde heute noch mit Häme und Spott kommentiert. Eine Spinnerte, der ist irgendwas zu Kopf gestiegen. Die Verhältnisse bleiben wie sie sind, wissen wir doch. Nein, singt Maria, ich habe Hoffnung, dass sich die Verhältnisse ändern können. Gerechtigkeit ist das Ziel, alle sollen Obdach, Nahrung, Bildung, Gesundheitsversorgung haben.

Wir Evangelischen haben ja mit Maria so unsere Probleme. Das hier ist schon sehr beeindruckend! Da klingt Maria so ganz anders, als sie in den vielen Bildern gern dargestellt wird: Die sanftmütige junge Mutter, ganz und gar auf das Kind ausgerichtet. So wird sie gern gesehen: liebevoll, still und demütig, ergeben geradezu. Ihr Lied dagegen kommt selbstbewusst daher: Gott erhebt die Niedrigen!

In unserer christlichen Tradition spielt Maria als die „Gottesmutter“ oder auch „Gottesgebärerin“ eine große Rolle. Viele Mütter der Welt identifizieren sich mit ihr, die unter so schwierigen Umständen gebären muss und ihr Kind schützen will. Die irritiert ist über den Jugendlichen, der im Tempel lehrt. Die um den Sohn ringt, wenn sie mit seinen Geschwistern vor der Türe steht und erduldet, wie Jesus ihr eine Abfuhr erteilt. Die bis zuletzt bei ihm bleibt und auch unter dem Kreuz mitleiden wird. Die Pietá, Maria mit dem toten Sohn im Arm, sie ist weltweit und durch die Jahrhunderte ein Sinnbild mütterlicher Liebe. 

Der Reformator Martin Luther war ein großer – heute würden wir sagen – „Fan“ Marias. In einer Auslegung zum Lobgesang der Maria, diesem besonderen, als Magnifikat bezeichneten Lied schreibt er: „… die zarte Mutter Christi, sie lehrt uns mit dem Beispiel ihrer Erfahrung mit Worten, wie man Gott erkennen, lieben und loben soll. Denn weil sie mit fröhlichem regem Geist sich hier rühmt und Gott lobt, er habe sie angesehen, obwohl sie niedrig und nichts gewesen sei, muss man glauben, dass sie verachtete geringe Eltern gehabt hat.“6 Es ist erstaunlich, wie Luther sich hier in Maria hineinfühlt. Er sieht ihre Selbsteinschätzung der Niedrigkeit als Verweis auf ihre soziale Herkunft. Umso beeindruckender, welche Wertschätzung Martin Luther ihr zukommen lässt. Vielleicht können wir das wieder entdecken im Jahr des Reformationsjubiläums – auch als Zeichen der ökumenischen Verbundenheit.

In seiner Magnifikatauslegung schreibt Martin Luther auch: „Niemand lasse den Glauben daran fahren, dass Gott an ihm eine große Tat tun will.“ Niemand. Das heißt, nicht nur Maria ist gemeint. Auch Du bist gemeint. Wir alle. Gott traut ganz normalen Menschen etwas zu. Allen Menschen. Auch Dir und auch mir. Und wenn wir begreifen, wir sind gemeint, dann können wir einen Teil dazu beitragen, dass eine Spur gelegt wird vom Frieden Gottes schon in dieser Welt. 

Da macht ein Mensch die Erfahrung von Liebe und entdeckt: Mein Leben macht Sinn, ich bin gar kein Looser, nein, mir ist Sinn schon zugesagt. Ich schaffe das schon. Da nimmt eine Familie schlicht einen Flüchtling bei sich auf, ohne großes Trara, weil sie das als christliche Haltung ansieht. Und sie erlebt Bereicherung, Glück an dieser Gemeinsamkeit. Ein Mann tritt für die Würde des Obdachlosen ein, der aus dem Laden gescheucht werden soll, und spürt an sich: Ja, das war gut, das fühlt sich richtig an. Eine Jugendliche verteidigt ihre dunkelhäutige Freundin, die in der Straßenbahn angepöbelt wird. Sie begreift: Unsere Verbindung ist stark, das Miteinander kann dem Hass etwas entgegensetzen. Immer dann ereignet sich etwas von dieser Barmherzigkeit Gottes mitten in unserer Wirklichkeit. Und immer dann sehen wir im Kleinen, was einst im Großen Gottes Zukunft bedeuten wird: Das Ende von Hass und Gewalt. 

Diese Maria ist eine Ermutigende für alle Frauen, die etwas verändern wollen. Sie glaubt daran, dass sich etwas ändern lässt. Und sie fühlt die Geistkraft, die Möglichkeit, dass Menschen miteinander die Verhältnisse ändern können. Solchen Frauen bin ich in meinem Leben immer wieder begegnet. Ich denke an eine Begegnung in Bangladesh. Was für ein hartes Frauenleben. Aber genau da stehen Frauen auf für ihre Rechte. Beispiel Rana Plaza …

Letztes Jahr kam ein Film in unsere Kinos: Zeit der Frauen. Es geht um ein Dorf in Indien, in dem das Leben von vier Frauen inmitten einer äußerst brutalen und sexistischen Gesellschaft sich verknüpft. Die eine, Ranis, sieht ihre Lebensaufgabe darin, als Witwe ihren Sohn zu verheiraten. Die andere Lajjo, wünscht sich sehnlichst ein Kind, wird aber von dem sie prügelnden Mann nicht schwanger, die dritte, Bijli, verdingt sich als Prostituierte und die vierte ist die junge Frau, die Lajjo für ihren Sohn findet. Der Film ist bewegend, weil er zeigt, wie entsetzlich ausweglos die Lage für viele Frauen in diesem Land ist. Sexualität ist nicht Erfüllung, sondern pure Gewalt. Am Ende aber lösen sich diese Frauen heraus, weil sie solidarisch miteinander sind, weil sie Kraft finden, sich gegen die Tradition zu stemmen und füreinander einzutreten. 

Genau das ist auch heute die Aufgabe. Wir können beieinander Schutz und Rat suchen. Junge Frauen und alte. 

Und: Männer sind herzlichst willkommen, dabei mitzuwirken. In der neu definierten Leitkultur sind ja jetzt ohnehin alle Männer im Land Vorkämpfer für Frauenrechte. Das finde ich echt super! In der CSU wird es Frauenmehrheiten im Vorstand geben, Männer werden zwölf Monate Elternzeit nehmen und beglückt sein, dass sie ganz und gar ihre Zeit und Kraft den Kindern, der Familie widmen können. Richtig schön wird das …

4. Von der Kraft, widerständig zu sein

Um es gleich zu sagen: Ich habe mir diesen Bibeltext nicht ausgesucht, weil ich heute mal die Frauenfrage hochziehen wollte beim Kirchentag oder im Reformationsjubiläumsjahr. Er war vorgegeben. Aber in der Tat: 500 Jahre Reformation! Da geht es um Martin Luther, Ulrich Zwingli, Johannes Bugenhagen, Thomas Müntzer, Johannes Calvin, Martin Bucer und so weiter … Aber wer kennt Katharina Zell, Argula von Grumbach, Elisabeth von Rochlitz, Wibrandis Rosenblatt, Elisabeth von Calenberg? Allenfalls Katharina von Bora ist bekannt. Das ist sehr typisch für die Kirchengeschichte in Vergangenheit und Gegenwart. Frauengeschichte wird als weniger wichtig erachtet, theologisch nicht so wertvoll, und ja, schriftliche Zeugnisse gibt es seltener, entweder, weil die Frauen weniger geschrieben haben, oder weil ihre Briefe und Texte als irrelevant vernichtet wurden. Aber das Frauenthema gehört ins Reformationsjubiläumsjahr. Allein, weil die Kirchen der Reformation die einzigen sind, die Frauen ordinieren, Pfarrerinnen und Bischöfinnen kennen. Und zwar nicht aus Anpassung an den Zeitgeist, sondern auf Grund reformatorischer Tauftheologie: Alle, die getauft sind, sind Priester, Bischof, Papst. 

Und: Nein, ich verherrliche Mutterschaft nicht. Mir ist sehr bewusst, dass manche Frauen darunter auch schwere Lasten zu tragen haben. Andere können keine Kinder bekommen, und haben es schwer damit, ja werden bitter darüber. Wieder andere wollen keine Kinder bekommen und fühlen sich unter Rechtfertigungsdruck. Ist denn Mutterschaft nicht Lebenssinn? Ich denke, wir sollten schlicht aufhören, das zu werten! Es gibt verschiedene Frauenleben, teils als Entwürfe, teils, weil das Leben halt so spielt und wir nicht alles im Griff haben, auch nicht im 21. Jahrhundert, in dem der Machbarkeitswahn auch mit Blick auf Schwangerschaft und Geburt um sich greift. 

Für mich sind auch Frauen nicht die besseren Menschen. Wenn ich die Hetztiraden von Alice Weigel oder Marine le Pen höre und sehe, ist das glasklar. Es wird darum gehen, als Frauen und Männer widerständig zu sein gegen Rassismus, Sexismus, Hetze gegenüber den Schwachen. Und das sind diese beiden schwangeren Frauen auf ihre je eigene Weise. Sie spüren die Zusage Gottes zu ihrem Leben, auch wenn es auf ungeraden Wegen verläuft. Das bringt etwas mit sich, was sich über die zweitausend Jahre hinweg durch die Erzählung des Lukas vermittelt: Zutrauen ins Leben. Eine gewisse Heiterkeit, wie sie der Liederdichter Hanns Dieter Hüsch ausdrückt: Ich bin erlöst, vergnügt, befreit. Das scheint mir eine wunderbare christliche Grundhaltung von Gottvertrauen. 

Elisabeth und Maria wirken innerlich frei. Dabei sind sie wahrhaftig nicht in einer privilegierten, beneidenswerten Situation. Mit Blick auf ihren gesellschaftlichen Status sind sie eher unruhig. In schwierigen politischen Zeiten suchen sie einen Weg für sich und ihre Familien und stützen sich dabei gegenseitig durch ihre Freundschaft. Sie urteilen nicht über den je eigenen Weg, sondern ermutigen sich, ihn zu gehen. 

Beide Söhne dieser Frauen werden eines gewaltsamen Todes sterben! Johannes der Täufer wird enthauptet werden, Jesus qualvoll am Kreuz durch Folter sterben. Damit findet der schöne Anfang der Geschichte ein entsetzliches Ende … Oder? Genau dieses kleine „oder“ mit Fragezeichen ist entscheidend für Christinnen und Christen. Gott schickt nicht Leid. Tod stellt unser Leben nicht in Frage. Sondern die Liebe, sie bleibt, auch im Leid und über den Tod hinaus. Im Leid können wir erleben, dass uns Gott Kraft gibt, aber auch die Menschen, die wir lieben, wie eben diese Frauen unter dem Kreuz und die Frauen, die sich aufmachen am Ostermorgen. Wir hören nichts mehr über Elisabeth, aber sie könnte dabei gewesen sein. Und die Liebe überschreitet die Grenze zwischen Leben und Tod. Das kennen wir alle: Wenn wir an Menschen denken, die wir geliebt haben, die verstorben sind, dann sind sie lebendig präsent mitten unter uns.

Allzu oft meinen wir, wir müssten uns anpassen. Frieden stiften heißt dann, zur Beruhigung der Situation beitragen. Aber ist der Streit um die Wahrheit nicht immer wieder notwendig? Es gibt genügend Themen in unserem Land, bei denen wir uns nicht in die Verantwortungslosigkeit hineinschläfern lassen dürfen (Siegmund-Schultze). 

Eine meiner Schwestern, die sehr engagiert ist in der Begleitung von Geflüchteten, schickte mir eine Mail, während ich an dieser Bibelarbeit saß: „Eine Afghanin, sagen wir Shirin, ist aus dem Iran geflohen, weil sie wegen einer Schwangerschaft unter Zwang einen Iraner heiraten musste (religiös durch bestochenen Imam) und das Kind schließlich nach einer Trennung der Schwiegerfamilie überlassen sollte. Der zehn Jahre ältere iranische Ehemann wollte dem Druck der Familie nachgeben. 

Leider ist er ihr kurz vor der Flucht auf die Spur gekommen und hat sie begleitet. In Deutschland erhalten sie getrennte Verfahren, da ihr trotz Heirat keine iranische Staatsangehörigkeit gewährt wurde. Du weißt ja, Afghanen sind die Roma des Iran. Sie ist im Iran aufgewachsen und fühlt sich ihr Leben lang benachteiligt ... 

Die Tochter wurde in Deutschland in den Ausweis des Mannes eingetragen, die Mutter erhielt erst verspätet die Möglichkeit, überhaupt Asyl zu beantragen, sie musste allein nach Offenbach zur Anhörung (von Wolfhagen! Ankunft 8.00 Uhr!). Bis heute verweigert die Ausländerbehörde, die Tochter in den Ausweis der Mutter einzutragen. Sie leben hier in einer gemeinsamen Wohnung, der Ehemann droht ständig, mit der Tochter in den Iran zurückzukehren. Die Mutter erhält natürlich keinen Sprachkurs oder irgendeine Integrationsmaßnahme. Sie hat alles vorbereitet, um ins Frauenhaus umzuziehen. Sie hatte gehofft, dass sie in Deutschland Gleichberechtigung finden würde ...“.

Da ist doch unsere Rede gefragt als Elisabeth oder Maria. Wie singen wir das Lied der Solidarität und der Frauenfreundschaft für diese Afghanin? Ja, nicht alle Geschichten gehen gut aus. Wir können nicht alles Leid der Welt bewältigen, das weiß ich sehr wohl. Aber die Christinnen und Christen, 2,2 Milliarden auf der Welt, könnten so reden und so singen wie Elisabeth, ermutigend und beschützend: Du bist ein Segen, dein Kind wird gesegnet sein. Und wie Maria: Es wird sich was ändern und ich bin bereit, dazu beizutragen. Ich werde nicht schweigen, weil es heißt, ich kann doch nichts tun, sondern ich werde reden und handeln für Gerechtigkeit und Frieden. 

Wir lassen uns nicht einschüchtern. Ja, Glaube ist zuallererst die Beziehung zu Gott. Zugleich aber immer auch die Beziehung zu anderen Menschen. Und so ist Glaube die Ermutigung zum Handeln in der Welt. Widerständig, weil wir uns nicht hineinschläfern lassen in die Verantwortungslosigkeit. 

Ich wünsche uns allen gesegnete Kirchentagstage. Wir sehen uns spätestens am kommenden Sonntag auf der Festwiese in Wittenberg!

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1 Wahlprogramm der AfD 2017, Langfassung S. 41.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Claudia Janssen, die Begegnung von Elisabeth und Maria, in: Exegetische Skizzen, hg. DEKT 2017, S. 49ff.;S. 49.
5 Ebd.
6 Maria. Evangelisch, hg.v. Thomas A. Seidel/Ulrich Schacht, Leipzig 2011, S. 190f.