„Was bedeutet Ökumene der Profile?“ - Vortrag beim Symposion „Ökumene der Profile“ der Evangelischen Kirche im Rheinland in Düsseldorf

Wolfgang Huber

I.

Vorgestern wurde ich während meines Aufenthalts beim Katholikentag ausdrücklich und herzlich zu einem Besuch beim Stand des Erzbistums Köln eingeladen. Begründet wurde diese Einladung mit dem bevorstehenden Evangelischen Kirchentag in Köln. Dass sich die Katholiken des Erzbistums auf diesen Kirchentag freuen, wollte man mir versichern. An Beispielen erläuterte man mir das gute ökumenische Klima. Die Art und Weise, in der den Partnerschaften zwischen katholischen und evangelischen Gemeinden am Ort eine verbindliche Form gegeben wird, hat mich dabei besonders beeindruckt. Deutlich war die Hoffnung zu spüren, dass auch in kirchenleitender Verantwortung das positive ökumenische Klima gefördert wird, dass zwischen den Gemeinden, zwischen Pfarrgemeinderäten und Presbyterien, zwischen Diözesanräten und Synoden besteht und mit viel sensibler Aufmerksamkeit gepflegt wird.

Unmittelbar nach diesem Besuch sprach mich der Vertreter eines Arbeitskreises konfessionsverbindender Ehen an. Eindringlich sprach er um ein ausführliches Gespräch.

Gestern feierten wir in Berlin einen Jubiläumsgottesdienst am Sonntagmorgen. Der Pfarrer der katholischen Nachbargemeinde und Vertreter des Pfarrgemeinderats hatten es sich nehmen lassen, ihre Grüße zu überbringen. Sie sahen ein wichtiges ökumenisches Zeichen darin, am Festgottesdienst selbst teilzunehmen und nicht nur am anschließenden Empfang. Aber leicht fiel ihnen das nicht. Denn die Pflicht zum doppelten Gottesdienstbesuch, die damit verbunden war, ließ sich nicht einfach verwirklichen. Umso höher war die ökumenische Geste zu werten. Vielleicht ist in einer Stadt wie Berlin, in der unsere Kirchen manchem Gegenwind gemeinsam standhalten müssen, das kostbare Gut eines verlässlichen ökumenischen Miteinanders besonders bewusst.

Diese Erfahrungen aus den letzten 48 Stunden mögen genügen, um Ihnen deutlich zu machen, aus welchem Geist ich mich der Aufgabe einer ökumenischen Standortbestimmung zuwende: Dankbarkeit für das Erreichte, Verantwortung gegenüber den Gemeinden und ihren berechtigten Erwartungen, Verpflichtung gegenüber dem einen Herrn, zu dem wir uns als Kirche bekennen, bestimmen den ökumenischen Horizont, in dem ich mich bewege und auch mit den heutigen Überlegungen bewegen will.

Es sind in der gegenwärtigen ökumenischen Landschaft vor allem zwei Aussagen, auf die man immer wieder stoßen kann: „Uns verbindet mehr, als uns trennt!“ Und: „Trotz gewisser Irritationen müssen wir den ökumenischen Weg weitergehen!“

Beide Sätze gehören zusammen und kennzeichnen den Kern des heutigen ökumenischen Klimas. In den letzten Jahrzehnten wurde ökumenisch viel erreicht.  Falsche Bilder und Vorurteile übereinander wurden abgebaut; gemeinsame Aufgaben wurden nicht nur erkannt, sondern auch in Angriff genommen. Es sind genau diese Fortschritte, die uns heute die Mühen der Hochebene einer „Ökumene der Profile“ auferlegen. Sie bestehen darin, dass wir weder Grund noch Anlass dazu haben, denjenigen Fragen auszuweichen, in denen sich bleibende – jedenfalls einstweilen bleibende – Unterschiede zwischen unseren Kirchen zeigen. Mit dem Abarbeiten von Bildern, die nicht oder nicht mehr zutreffen, ist es heute nicht mehr getan; wir müssen uns vielmehr mit den Unterschieden beschäftigen, die offenkundig bestehen. Und die gemeinsame Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung war so ertragreich, dass wir verstärkt an den Grundlagen arbeiten sollten, auf denen diese Gemeinsamkeit beruht; denn nur dann können wir sie in einer lebendigen und nicht nur Bekanntes wiederholenden Weise weiterführen. Wenn wir aber den Überschneidungsbereich gemeinsamer theologischer Haltungen weiter entwickeln wollen, dürfen wir denjenigen Themen nicht ausweichen, in denen wir unterschiedliche Akzente setzen oder verschiedene Wege gehen. In diesem Sinn habe ich im August des letzten Jahres in Köln, als ich den Begriff einer Ökumene der Profile zum ersten mal verwendet habe, gesagt: Die doppelte Wahrnehmung der erreichten Nähe und der bleibenden Unterschiedlichkeit gehört zur Wahrhaftigkeit in unserer Situation.

Ich bin davon überzeugt davon, dass die Würdigung dieser neuen Konstellation uns auf dem Weg in eine reife, mündige Ökumene voranbringen kann. Dagegen halte ich es nicht für erfolgversprechend, wenn man sich mit nostalgischem Ton nach den erfolgreichen Aufbruchszeiten der Ökumene zurücksehnt. Die gegenwärtigen Herausforderungen enthalten ihre eigenen Chancen und Möglichkeiten. Ihnen sollten wir uns stellen.

Von dieser Grundüberzeugung her will ich Ihnen mein gegenwärtiges Verständnis von einer „Ökumene der Profile“ in fünf Thesen entfalten.

II.

These 1: Uns verbindet mehr, als uns trennt!

Der Aufbruch der Reformation war von der Absicht bestimmt, zur ursprünglichen Gestalt des Evangeliums zurückzukehren. Nicht die Bildung einer neuen Kirche, sondern die Wiederherstellung der alten Kirche war die Intention. Die Confessio Augustana von 1530 formulierte das reformatorische Bekenntnis so, dass es als gemeinchristliches Bekenntnis erkennbar sein sollte. Der gemeinsame Bezug auf die Heilige Schrift, aber ebenso auch auf die altkirchlichen Bekenntnisse gaben dem reformatorischen Aufbruch von Anfang an einen ökumenischen Impuls. Mit der verbindlichen Geltung der altkirchlichen Bekenntnisse verband sich die Idee, die Epoche der altkirchlichen Konzilien und der Kirchenväter als den Zeitraum eines consensus quinquesaecularis, eines Konsenses der ersten fünf Jahrhunderte auszuzeichnen. So standen die Kirchen der Reformation von Beginn an unter einem ökumenischen Auftrag. Dieser Ansatz wurde durch wechselseitige konfessionelle Polemik ebenso verdunkelt wie durch die verheerenden Auswirkungen der konfessionellen Bürgerkriege. Deshalb waren die nachreformatorischen Jahrhunderte in hohem Umfang durch einen Geist der Abgrenzung geprägt.

Einen Durchbruch zu einem Neuansatz brachte das 20. Jahrhundert, das insofern zu Recht als Jahrhundert der Ökumene bezeichnet werden kann. Nun erkannte man die verpflichtende Bedeutung des ökumenischen Auftrags neu, für dessen biblische Grundlegung man sich auf das Hohepriesterliche Gebet Jesu berief, in dem es heißt: Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben, damit sie alle eins werden. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.

Heute ist uns in unseren Kirchen bewusst, wie stark das Band der Einheit schon ist: die gemeinsame Bibel als Grundlage und Richtschnur, die großen altkirchlichen Bekenntnisse als gemeinsame regula fidei, die Taufe als sakramentales Band der Einheit und die  gemeinsame Verpflichtung zu Frieden und Gerechtigkeit verbinden uns. Die wechselseitigen Lehrverurteilungen des Reformationsjahrhunderts sind aufgearbeitet, auch wenn diese Aufarbeitung nicht so klar rezipiert ist, wie das wünschenswert wäre. Die Gemeinsame Offizielle Feststellung zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre hat einen Konsens in der zentralen Thematik der Reformation formuliert, auch wenn evangelische Theologen in Deutschland an der Tragfähigkeit dieser Formulierung Zweifel angemeldet und wir alle im Übrigen die nächsten Schritte, die damals verabredet wurden, bisher nicht sehr wirksam vorangebracht haben. Zu diesen Verabredungen gehörte beispielsweise der Schritt, das gemeinsame Verständnis der Rechtfertigung durch das Studium ihrer biblischen Grundlagen zu vertiefen.

Die Beispiele lassen sich vermehren. Es liegt erst wenige Jahre zurück, dass wir den ersten Ökumenischen Kirchentag in Berlin gefeiert haben. Er bildete die Mitte eines Jahres, das wir als Jahr der Bibel gemeinsam gestaltet haben. Wir haben in wichtigen ethischen Fragen gemeinsam unsere Position entwickelt und vertreten. Die Schrift Gott ist ein Freund des Lebens bewährt sich nach wie vor als Grundlage und Bezugspunkt unserer gemeinsamen bioethischen Beiträge, die sich in der Woche für das Leben bündeln, die aber auch in der Christlichen Patientenverfügung einen sichtbaren Ausdruck gefunden haben. Das Gemeinsame Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage hat eine große Resonanz gefunden. Nach meiner Auffassung sind wir durchaus im Stande, seinen Ansatz gemeinsam weiterzuführen, wohl wissend, dass seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1997 durch die dramatischen Auswirkungen der Globalisierung, durch ein verstärktes Eindringen einer neoliberalen Denkweise in die Wirtschafts- und Sozialpolitik und durch die Auswirkungen des demographischen Wandels sich neue Herausforderungen verstärkt haben. In den Aufgaben einer menschenrechtsorientierten Ausländer- und Integrationspolitik vertreten wir eine gemeinsame Position, die sich auch in der gemeinsamen Trägerschaft für die Woche der ausländischen Mitbürger / Interkulturelle Woche zeigt.

Neben diesen Beispielen gemeinsamen Redens und Handelns wird man die in den letzten Jahrzehnten gewachsene ökumenische Gemeinschaft in den Gemeinden gar nicht hoch genug schätzen können. Gemeinsame Feierformen, ökumenische Gemeindeaktivitäten, praktische Zusammenarbeit und ökumenisches Lernen haben sich entwickelt; dadurch wurde vielen Menschen ein konfessionsverbindendes Glaubensleben erleichtert. Natürlich bleiben in diesem in die Intimität des konkreten Glaubenslebens einer Ehe und Familie reichenden Bereich noch wichtige Fragen offen. Dennoch gilt es, das Erreichte zu würdigen, zu bewahren und voranzuführen; dass dabei der Weg der konkreten Verbesserungen nach wie vor Kraft hat, zeigt nicht zuletzt die Charta Oecumenica, die manche neuen Projekte von ökumenischen Gemeindepartnerschaften am Ort wie über Grenzen hinweg anstoßen kann.

These 2: Die Herausforderung zum gemeinsamen ökumenischen Zeugnis wird nicht schwächer, sondern stärker.

Die beiden großen Konfessionen werden in Deutschland in der Außenperspektive in erheblichem Umfang als die christliche Kirche wahrgenommen. Zwar ist es übertrieben zu behaupten, dass die Menschen nicht im Stande seien, die römisch-katholische und die evangelische Kirche zu unterscheiden – obwohl es natürlich insbesondere bei Kirchenfernen auch das gibt. Aber ohne Zweifel werden jeweils beide Kirchen haftbar gemacht für das, was jemandem an der einen Kirche missfällt oder auch gefällt. Wir alle kennen die Berichte darüber, dass ein empörter Zeitgenosse wegen einer Papstäußerung aus der evangelischen Kirche austritt. Umgekehrt ist denkbar, dass ein katholischer Christ wegen einer Äußerung von Bischöfin Käßmann, die ihn überzeugt hat, wieder in seine katholische Kirche zurückfindet.

Die Christen in Deutschland sitzen in einem Boot; und gemeinsam können sie das Boot zu beachtlicher Geschwindigkeit bringen. Die Themen dafür werden uns auch in der vor uns liegenden Zeit nicht ausgehen. Ich nenne als Beispiele die Zukunft der Familie, die Verantwortung für Erziehung, die Zukunft des Bildungswesens und eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Religionsunterrichts, den Umbau der sozialen Sicherungssysteme oder die nächsten Auseinandersetzungen über bioethische Fragen. Von besonderem Gewicht ist die gemeinsame Verantwortung der Kirchen für Europa und in Europa. Unser Konsens im Blick auf die zu wünschende Gestalt der Europäischen Verfassung verdient, nicht nur festgehalten, sondern weiterentwickelt zu werden. Aber die Klärung des christlichen Beitrags zu den religiös-kulturellen Grundlagen Europas erschöpft sich natürlich nicht in Formulierungsvorschlägen für die Präambel der Europäischen Verfassung.

Diese Gemeinsamkeiten zu leugnen oder zu konterkarieren, schadet allen; denn dadurch würden wir es denen besonders leicht machen, die eine weitere Schwächung der Religion und des Glaubens, der Kirchen und des Christentums insgesamt anpeilen. Diese Lust auf eine generelle Religions- und Kirchenskepsis dürfte sich mit der zunehmende Präsenz eines fundamentalistischen Islam in Europa bzw. in Deutschland eher noch verstärken als abschwächen. Wir sind deshalb klug beraten, auch mit unseren Differenzpunkten nicht so umzugehen, dass sich nur die Falschen die Hände reiben. Wir stehen gemeinsam dafür ein, dass der christliche Glaube in unserem Land ein friedensorientierter, die Menschenwürde achtender und die Vernunft würdigender Glaube ist. Wir sollten uns auch weiterhin an dem Ziel ausrichten, dies wo immer möglich gemeinsam deutlich zu machen.

Schon aus diesem Grund halte ich die Vorstellung, es gehe heute darum, eine Konsensökumene durch eine Differenzökumene abzulösen, für wenig hilfreich. Das, was ich die Ökumene der Profile nenne, sollte man nicht mit einer solchen Differenzökumene gleichsetzen. Dass wir das nicht im Sinn haben, zeigen wir exemplarisch durch örtliche, regionale und zentrale ökumenische Gottesdienste oder gottesdienstliche Feiern. Sie werden in verstärktem Maß in Anspruch genommen und finden Beachtung. Unter meinen letzten Erlebnissen dieser Art ist als letztes die Segensbitte für den Berliner Hauptbahnhof am vergangenen Freitag zu nennen. Solche Vorgänge prägen bei einem Teil der gesellschaftlichen Multiplikatoren das Bild vom christlichen Glauben in nicht unerheblichem Umfang.

Sodann gehört zu den realen Gemeinsamkeiten der beiden Kirchen in Deutschland ihre soziale Situation. Die Situation des Christentums in der modernen Welt, die Knappheit an Ressourcen und Kapazitäten in unseren Kirchen, die demographischen und finanziellen Herausforderungen unserer Kirchen, der Zwang zur Konzentration der Kräfte und zur Benennung kirchlicher Prioritäten ist uns gemeinsam. In fast allen Bereichen des kirchlichen Lebens stehen unsere beiden Kirchen vor annähernd gleichen Herausforderungen. Natürlich, die dramatische Entwicklung der Orden und ihres Nachwuchses, auch die besonderen Bedingungen für den Priesternachwuchs treffen die katholische Kirche mehr als uns; dafür kämpfen wir stärker mit der Neigung, die Kirchenmitgliedschaft aufzugeben. Die Zahlen der Trauungen in der katholischen Kirche sind ungleich schneller gefallen als in der evangelischen Kirche, auch, weil die katholische Kirche eine Wiederverheiratung von Geschiedenen nicht eben leicht macht, diese Gruppe aber statistisch enorm zugenommen hat. Umgekehrt haben wir eine in den Städten beunruhigende Entwicklung bei den kirchlichen Bestattungen, insofern sich nur ein zu geringer Anteil unserer Kirchenmitglieder kirchlich bestatten lässt. Insgesamt aber stehen unsere beiden Kirchen in der mittel- oder langfristigen Perspektive vor annähernd ähnlichen Entwicklungen im Blick auf das Mitgliedschaftsverhalten. Es gibt eine ökumenische Gemeinsamkeit in der Umwandlungskrise; die damit verbundenen Herausforderungen können wir noch weit intensiver gemeinsam zu bewältigen versuchen. Denn es ist durchaus denkbar, dass Aufgaben für unsere Kirchen – und auch für Diakonie und Caritas – gemeinsam wahrgenommen werden, deren getrennte Wahrnehmung keineswegs um konfessioneller Besonderheiten  willen vonnöten ist. Das setzt eine Atmosphäre ökumenischen Vertrauens voraus. Sie zu bewahren und weiterzuentwickeln, ist auch unter einem solchen Gesichtspunkt ein hohes Gut.

These 3: Das eigene kirchliche Profil zu leben und zu deuten, ist selbst eine ökumenische Aufgabe.

Papst Benedikt XVI. hat bei der ökumenischen Begegnung in Köln angeregt, bei der Weiterführung des ökumenischen Dialogs die Trias grundlegender Orientierungspunkte im Sinn zu behalten, die sich als Merkmale des altkirchlichen Konsenses nach der Auseinandersetzung mit der Gnosis herausgestellt haben: die Festlegung des Kanons der Heiligen Schrift, die Formulierung der regula fidei im altkirchlichen Bekenntnis und die Ausbildung einer Amtsstruktur, orientiert am monarchischen Episkopat.

Ein Blick auf diese drei Themen zeigt schnell, dass der Konsens hinsichtlich der Bedeutung der Heiligen Schrift und ihres Kanons sowie im Blick auf die Bedeutung der altkirchlichen Bekenntnisse sehr viel weiter entwickelt ist als im Blick auf die Amtsfrage. Die Unterschiede in der Amtsfrage freilich haben erhebliche Auswirkungen auf Verständnis und Praxis der Eucharistie, auf das Verhältnis von Männern und Frauen in der Kirche und auf manche anderen Fragen.

In der Amtsthematik deuten manche Zeichen derzeit eher auf auseinander laufende als auf zusammenführende Tendenzen. Das Jahr 2005 wird auf längere Zeit als ein Jahr im Gedächtnis bleiben, in dem sich die katholische Kirche in einem herausgehobenen Sinn als Papstkirche erwiesen hat. Was das bedeutet, kann man sich auch unter dem Gesichtspunkt verdeutlichen, dass die Päpste der jüngsten Vergangenheit sich selbst zu der Einsicht bekannt haben, dass das Papstamt zu den großen Hindernissen auf dem Weg zur Einheit zu zählen ist. Kardinal Lehmann hat an diese Äußerungen der Päpste seit Johannes XXIII. bei unserer Diskussion zu dieser Thematik auf dem Katholikentag in Saarbrücken am vergangenen Samstag ausdrücklich hingewiesen.

Auf evangelischer Seite wiederum gibt es eine Entwicklung, die auf eine erneute Profilierung des evangelischen Amtsverständnisses vom Priestertum aller Glaubenden aus hinausläuft. Die konstruktive Verhältnisbestimmung zwischen der Ordination zur öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und zur Verwaltung der Sakramente und der besonderen Beauftragung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung pro loco et tempore bildet den Anlass zu diesem Klärungsprozess. Die Schärfe, in der diese Bemühungen von katholischer Seite als Abkehr von einem bereits erreicht geglaubten Konsens kritisiert worden sind, muss zu denken geben.

Mit der Amtsfrage verbindet sich die Frage der Eucharistie. Die Verdeutlichungen der katholischen Position im zeitlichen Umkreis des Ökumenischen Kirchentags konnten nicht überraschen, mussten aber doch als Abkühlung des ökumenischen Klimas wirken. Auf evangelischer Seite konnten wir in diesem Zusammenhang die faktisch bestehende Asymmetrie hinsichtlich der Einladung an den Tisch des Herrn nicht verschweigen. Die auf katholischer Seite unter seelsorgerlichen Gesichtspunkten praktizierte Verbindung zwischen einer generell schroffen Ablehnung eucharistischer Gastbereitschaft mit einer großen Biegsamkeit im Umgang mit der individuellen Situation wird in diesem Zusammenhang von vielen Evangelischen nicht so sehr als hilfreich, sondern eher als befremdlich empfunden.

Unterschiedliche Akzente zeigen sich ferner in Fragen der Sexualethik und des Geschlechterverhältnisses. Die Wertung menschlicher Sexualität, die Mittel der Empfängnisverhütung, die gesetzlich vorgesehene Beratung im Fall von Schwangerschaftskonflikten, der Umgang mit dem Thema der Homosexualität sind sensible Bereiche, in denen die bestehenden Differenzen oft nur verhalten ausgesprochen werden; aber sie sind relevant und wirken sich aus.

Solche Beispiele verdeutlichen, warum wir uns – gerade um der gemeinsamen Herausforderungen willen – auf eine Zeit der Ökumene der Profile einstellen müssen. Dafür gibt es freilich auch noch sehr andere Gründe. Es gibt nach meiner Wahrnehmung keine Kirche, keine Konfession, kein kirchliches Werk und keine Gemeinde, die nicht auf Grund der schwieriger gewordenen kirchlichen Situation in unserer Gesellschaft mit einer Profilierung des je Eigenen antwortet. Das ist theologisch und ekklesiologisch eine außerordentlich sinnvolle Reaktion. Denn der Verlust an gesellschaftlicher Relevanz, die finanziellen Einbrüche und die damit gegebenen missionarischen Herausforderungen führen unvermeidlich und Gott sei Dank dazu, das wir das je Spezifische, das je eigene Profil, das sog. Alleinstellungsmerkmal betonen. Unsere Kirchen wollen und müssen sich in unserer Zeit erkennbarer, sichtbarer und damit wählbarer machen, sie müssen mit der Herausarbeitung ihres Profils das Licht auf den Scheffel stellen. Man kann auch sagen. Eine Situation, in welcher der Auftrag der Kirche nicht mehr selbstverständlich anerkannt und in Anspruch genommen wird, erzwingt von den Kirchen eine missionarische Verdeutlichung ihrer besonderen Angebote.

Aber die unvermeidliche Rückseite dieser Herausforderung lautet: Je stärker das je eigene Profil betont wird, desto deutlicher treten auch die Unterschiede hervor. Damit verbindet sich die Gefahr einer Profilierungsfalle: Jede Kirche oder Konfession muss sich profilieren, aber gerade damit geraten die Sensoren und Andockstationen für ökumenische Gemeinsamkeiten in den Schatten. Dem entgegenzuwirken ist gerade der Sinn der Rede von einer Ökumene der Profile. Auch dort, wo unser besonderes Profil gefordert ist, müssen das gemeinsame Zeugnis und das ökumenische Zusammenwirken das Ziel sein.

Nach alledem scheint es mir irreführend zu sein, von einem „stotternden Ökumene-Motor“, von einer „ökumenische Eiszeit“ oder einer „generellen Erschöpfung des evangelisch-katholischen Dialogs“ zu sprechen. Denn die ökumenisch zukunftsweisende Frage, die sich aus dieser Situation heraus stellt, lautet, wie wir angesichts jenes unvermeidlichen Profilierungsdruckes dennoch die Gemeinsamkeiten zwischen unseren Kirchen bewahren und ausbauen können. Oder in aller Kürze: Eine Ökumene der Profile stellt sich der Frage, wie Ökumene gelingen kann, in die beide Kirchen sowohl ihre Gemeinsamkeiten als auch ihr unterscheidendes Profil einbringen.

These 4: Wir müssen lernen, mit bleibenden Differenzen ökumenisch zu leben.

Ob wir mit bleibenden Differenzen zu rechnen haben, ist ökumenisch nicht unumstritten. Denn es ist offen, ob wir uns an einem Modell zukünftiger Einheit ausrichten, das solche Differenzen hinter sich lässt, oder ob wir die künftige Einheit als Gemeinschaft der Verschiedenen deuten. Es mag gute Gründe dafür geben, diese Frage nach dem leitenden Modell der Einheit offen zu lassen. Doch auch dann muss man einräumen, dass es einen Weg zu dieser Einheit nur geben kann, wenn wir uns in unserer Verschiedenheit wechselseitig als Kirchen achten. Einen Weg zu größerer Einheit an einer solchen wechselseitigen Achtung vorbei vermag ich mir dagegen nicht vorzustellen.

Zur Ökumene der Profile gehört deshalb unabdingbar die Ernsthaftigkeit, die jeweils für unsere Kirchen unaufgebbaren theologischen Einsichten auszusprechen und zu vertreten. Eine Ökumene der Profile ist wahrheitsorientiert, sie will das benennen, was den Vätern und Müttern unseres Glaubens unveräußerlich war. Es sollen nicht alte, schon überwundene Gegensätze künstlich wieder belebt werden, um sich zu profilieren. Wohl aber sollen zentrale, für den jeweiligen Glauben unhintergehbare Einsichten ebenso fair wie klar benannt werden. Eine präzise Beschreibung dieser Differenzen ist darum der erste Beitrag zu einer Ökumene der Profile. Deswegen hat Eberhard Jüngel völlig Recht, wenn er vor Kurzem in der FAZ formulierte: „Um der Wahrheit des Evangeliums willen streben denn auch die christlichen Kirchen nach ihrer Einheit. Kirchenpolitische Opportunitäten haben sich der Verpflichtung zur Wahrheit strikt unterzuordnen. Und eben deshalb erwarte ich, dass man sich möglichst präzise darüber verständigt, worüber man sich vorerst nicht zu verständigen vermag.“ (FAZ vom 15.8.05).

Der unerlässlich zweite Schritt für diesen Geist der Wahrheit in einer Ökumene der Profile liegt darin, einen ökumenisch tragfähigen Umgang mit den bleibenden Unterschieden zwischen unseren Kirchen zu finden. In diese Bemühungen bringen die Kirchen der Reformation ihre eigenen Lernerfahrungen mit ein.

Die Reformationskirchen haben 1973 mit der „Leuenberger Konkordie“ ein Grundmodell der Kirchengemeinschaft entwickelt, dass eine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und so eben auch eine Kirchengemeinschaft der lutherischen, reformierten und unierten Kirchen ermöglichte. Dieses Einheitsmodell achtet die Verschiedenheit der Kirchen, ohne die Übereinstimmung im Grundsätzlichen zu vernachlässigen. Denn nach CA VII genügt für eine Übereinstimmung „in Bezug auf die Lehre des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente“ (satis est).

Diese Übereinstimmungsdefinition ist keine willkürliche reformatorische Formulierung, sondern gründet auf denjenigen Abschnitt aus dem Epheserbrief, den man ebenso wie die entsprechende Passage aus dem Hohepriesterlichen Gebet Jesu als neutestamentlichen Bezugspunkt aller ökumenischen Bemühungen im Gedächtnis behalten sollte. Dort (Eph 4, 3 – 6) heißt es: Seid darauf bedacht zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, ... ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater, der da ist über allen und durch alle und in allen. Hier erscheint die Einheit nicht nur als das Ergebnis unserer kirchlichen Bemühungen und ökumenischen Anstrengungen, sondern als eine im Glauben und im kirchlichen Bekenntnis vorgegebene und anerkannte Wirklichkeit.

Nun wurde jüngst von hoher römisch-katholischer Autorität zu diesem Verständnis von Kirchengemeinschaft in evangelischer Perspektive folgende Kritik formuliert: Die katholische Kirche wolle wirkliche Einheit in der Verschiedenheit, also eine Einheit im Glauben, in den Sakramenten und im apostolisch begründeten Bischofsamt. Dagegen habe sich auf der evangelischen Seite die Auffassung durchgesetzt, die man als Verschiedenheit ohne wirkliche Einheit bezeichnen muss. Denn es genüge zur Einheit ein gewisser Grundkonsens hinsichtlich des Evangeliums und der Sakramente, im übrigen aber sind nicht nur vielfältige Ausdrucksformen, sondern auch gegensätzliche Positionen vor allem im Verständnis und in der Gestalt der Ämter möglich.  Wenn aber ein solches Nebeneinander unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Kirchenformen als Ökumene der Profile definiert wird, dann ist das für uns entschieden zu wenig. Damit täuscht man etwas vor, was in Wirklichkeit nicht existiert.

Diese kritische Kommentierung des Selbstverständnisses der evangelischen Kirchengemeinschaft aus Rom ist wenig hilfreich; denn es ist nicht die Aufgabe des ökumenischen Partners, die Qualität der Kirchengemeinschaft der anderen Seite zu beurteilen. Es kann ja durchaus sein, dass im römisch-katholischen Raum eine ganz spezifische Definition von Einheit in der Vielfalt vorherrscht, aber eine Abqualifizierung unserer Einheitsvorstellungen als unwirkliche Einheit lässt doch zu sehr den Eindruck entstehen, es gebe eine Einheit in der Vielfalt nur zu römisch-katholischen Bedingungen. Aber waren wir uns nicht darin einig, dass Ökumene in keinem Fall eine Rückkehrökumene zum Ziel haben kann? Ich frage mich manchmal, ob die römisch-katholische Kirche hier nicht schon einmal erreichte gemeinsame Positionen aufgibt oder beharrlich zu verschieben versucht. Und wie verlässlich sind Partnerschaften, in denen solche Verschiebungen im Gestus des Vorwurfes auftauchen?

Ähnliches gilt auch für einen anderen Punkt, der unsere ökumenischen Bemühungen immer wieder trübt. Spätestens seit dem römisch-katholischen Dokument Dominus Jesus aus dem Jahr 2000 hat die evangelische Seite immer wieder darauf hingewiesen, dass die von der römisch-katholischen Seite in offiziellen Dokumenten und Situationen stets konsequent angewandte Unterscheidung zwischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ökumenisch unsensibel ist. Dennoch hat gerade in jüngster Zeit diese Unterscheidung wieder eine Rolle gespielt; Bischof Heinz Josef Algermissen aus Fulda hat in einem Leserbrief an die FAZ vom 13. Februar 2006 die vermeintlich ernste Frage gestellt, dass doch die Reformationskirchen selbst gar nicht Kirche im katholischen oder orthodoxen Sinne sein wollten. Doch gesagt wird in Wahrheit mehr. Den Allgemeinbegriff Kirche ausschließlich auf die eigene Definition von Kirche zu beziehen und alle anderen Verständnisse von Kirche abzuwerten als kirchliche Gemeinschaft, ist nicht eben hilfreich für einen von wechselseitigem Respekt geprägten Dialog. Denn auch wenn Beispiele immer hinken: Jeder Vertreter der Automarke Mercedes-Benz würde es für respektlos halten, wenn bei VW die Formulierung etabliert würde, Mercedes-Benz sei kein „Auto im eigentlichen Sinne“. Der Allgemeinbegriff Auto gehört keiner einzelnen Firma, sondern allen Autoherstellern; so viel Fairness muss sein. Und steht hinter dieser mangelnden Fairness nicht doch die Vorstellung, die Reformationskirchen müssten erst einmal bestimmte römisch-katholische Bedingungen des Kircheseins erfüllen, bevor eine respektvollere Rede etabliert werden kann? Ist das etwas anderes als eine im Gewand der Begriffsdefinition verborgene Rückkehr-Ökumene?

M.E. ist dies einer der entscheidenden Zielpunkte einer Ökumene der Profile; dass wir uns unsere bleibenden Unterschiede nicht gegenseitig vorwerfen, sondern sie als Differenzen verstehen lernen, mit denen ökumenisch zu leben unsere zukünftige gemeinsame Aufgabe ist. Dies kann gelingen, wenn wir einen gemeinsamen Sinn, eine gemeinsame Beauftragung in diesen bleibenden Unterschieden erkennen können; aber mit dieser Fragestellung bin ich bei meiner 5. und letzten These.

These 5: Eine „Ökumene der Profile“ entwickeln wir heute angesichts einer gemeinsamen missionarischen Aufgabe.

Vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Geschichte darf man m.E. von beiden Seiten dies eine erwarten: Die Einsicht, dass jede unserer Kirchen Stärken und Schwächen, Licht und Schatten, Einseitigkeiten und Radikalisierungen hat, so dass der Ökumene-Grundsatz Fulbert Steffensky`s gültig bleibt: Die Kirchen brauchen die je anderen Kirchen, um ganz und vollständig werden zu können. Deswegen verstehen wir Evangelischen uns als Kirche im eigentlichen, nämlich biblischen Sinne, und verstehen die römisch-katholische Schwesterkirche als eine weitere, gewichtige und imposante Gestalt der einen heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche, die wir gemäß dem Credo glauben.

Gerade so aber kann unsere ökumenische Situation hilfreich und heilend in die moderne Gesellschaft hinein wirken. Denn unter missionarischem Gesichtspunkt vertreten die beiden großen Konfessionen in Deutschland faktisch zwei unterschiedliche Gestalten des Kircheseins, die beide mit einem je besonderen Profil verknüpft sind. Es ist, als hätte Christus gleichsam zwei Arme, mit denen er auf unterschiedliche Weise die Menschen mit dem Evangelium zu erreichen versuchte. In dieser Perspektive kann man die Stärken des jeweils Anderen verstehen als einen Beitrag zur Mission der einen christlichen Kirche. In einer Formulierung von Erzbischof Zollitsch kann man sagen: Es gibt eine Art arbeitsteilige Ökumene, die sich in vielen Dingen gemeinsam äußern und darstellen kann, die aber auch in ihrer bleibenden Unterschiedlichkeit ein gemeinsames Ziel verfolgt. Eine Ökumene der Profile setzt eine profilierte Missionsstrategie frei, Menschen die Möglichkeit gibt, eine für sie überzeugende Form christlicher Frömmigkeit in unserer Welt zu erlernen bzw. zu wählen.

Entscheidend ist allerdings, dass wir uns je an unserem Ort in den ökumenischen Kontakten darum bemühen, diese Ökumene der Profile mit gelassenem Selbstbewusstsein zu leben und nicht der Versuchung erliegen, durch Abgrenzung und Negation des anderen das eigene Profil zu stärken. Wir unterscheiden uns in einigen grundlegenden Fragen, aber darüber verlieren wir nicht die viel größere Gemeinsamkeit aus dem Blick, die uns aufgegeben und im Glauben eröffnet ist. Deswegen gilt für eine Ökumene der Profile: Evangelisch aus gutem Grund und römisch-katholisch aus gutem Grund und eben deswegen gemeinsam christlich aus gutem Grund.