Den Bildungsauftrag wahrnehmen - Evangelische Perspektiven zur Situation der Hochschulen in Deutschland

Ein Votum des Evangelischen Hochschulbeirats der EKD, EKD-Texte 105, 2009

II. Zu Situation und Auftrag der Hochschulen in Deutschland

Schon seit jeher hat sich die evangelische Kirche den Fragen der Bildung und der Wissenschaft gewidmet. Ein evangelisches Verständnis von Bildung hat in jüngerer Zeit in einer Reihe von Stellungnahmen aus der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Bildungsengagement der Kirche [2], zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft [3], zur religiösen Bildung in der Schule [4], zur Erwachsenenbildung [5], zum Dienst der evangelischen Kirche an der Hochschule [6] und zur bildungstheoretischen Diskussion [7] Ausdruck gefunden. An dieses Verständnis knüpft eine evangelische Perspektive auf die Situation der Hochschulen an, indem sie die an den Hochschulen in akademischer Forschung und Lehre betriebene Wissenschaft als Bildungsprozess in den Blick nimmt. Auch für Hochschulen als Stätten wissenschaftlicher Bildung gilt: "Im Zentrum von Bildung und Erziehung steht das Individuum in seiner Bezogenheit auf Gott, auf sich selbst, auf die Mitmenschen und auf Welt und Gesellschaft. [...] Der Bildungsbegriff bringt präzise die nicht-instrumentalisierbare Zweckfreiheit des lebenslangen Bildungsprozesses zum Ausdruck und trägt so der dem einzelnen Menschen geschenkten Würde Rechnung."[8]

Das Engagement der evangelischen Kirche richtet sich deshalb von Anfang an nicht allein auf religiöse Bildung, sondern auf jede Gestalt von Bildung. Daher ist es auch nicht allein an theologischer Wissenschaft interessiert, sondern am Wissenschaftsprozess insgesamt. Indem es im Zentrum der Wissenschaft "das Individuum in seiner Bezogenheit auf Gott, auf sich selbst, auf die Mitmenschen und auf Welt und Gesellschaft" sieht, besteht es auf der Prämisse, dass eine Entgegensetzung von Wissen und Glauben die anthropologischen Bedingungen sowohl des Glaubens als auch des Wissens – und der Wissenschaft – verfehlt: Wissen ohne Glauben ist defizitär, denn das Wissen bleibt auf Erwartungen und Überzeugungen des Wissenden über sein existenzielles Verhältnis zur Wirklichkeit angewiesen. Zugleich aber benötigt der Glaube das Fundament des Wissens.

Aus evangelischer Perspektive gehört zum Verständnis der Wissenschaft in erster Linie ihr Wahrheitsbezug unter ausdrücklicher Anerkennung ihrer methodischen wie disziplinären Eigenständigkeit. Von außen vorgegebene Resultate oder zweckgebundene Ausrichtungen sind der Wissenschaft wesensfremd. Vielmehr vollzieht sich wissenschaftliche Wahrheitssuche nach je eigenen Regeln und Standards des wissenschaftlichen Diskurses. Auf jene innere Autonomie und "Eigengesetzlichkeit" [9] der Wissenschaft ist die verfassungsrechtliche Garantie des Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz ("Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei") bezogen. Die Anerkennung dieser Freiheitsdimension impliziert weder eine Immunisierung der Wissenschaft gegen eine von außen kommende Kritik ihrer Methoden, ihrer Gegenstände oder ihrer Ergebnisse, noch schließt sie angesichts ihrer Risikopotentiale den Gedanken einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft kategorisch aus. Im übrigen lebt Wissenschaft als prinzipiell ergebnisoffener Prozess geradezu von Kritik und Gegenkritik im Sinne beständiger Suche nach dem besseren Ergebnis. Aus diesen Gründen darf wissenschaftliche Forschung nicht auf ein Mittel zur Verwirklichung von Interessen reduziert und nicht einem Nutzenkalkül unterworfen werden, sei dies ökonomischer, politischer oder weltanschaulicher Natur. Forschung ist gewiss eine auch ökonomisch nützliche produktive Kraft; sie darf aber nicht auf eine gesteuerte Produktion wirtschaftlicher Standortfaktoren reduziert werden, sondern dient der ergebnisoffenen Suche nach Erkenntnissen, auf die nicht zuletzt auch die langfristige ökonomische Produktivität des Forschungssystems angewiesen bleibt. Lehre steht gewiss auch im Dienst der Berufsqualifikation; sie darf aber nicht auf die Ausbildung für die Erwartungen des Arbeitsmarktes reduziert werden. Bildung dient der Entwicklung von Menschen im Sinne einer Professionalität, die zur Verantwortung in Beruf und Gesellschaft befähigt und eine Kompetenz zur individuellen Lebensgestaltung einschließt.

Die Bildungsverantwortung für die Wissenschaft gehört aus evangelischer Perspektive zur Gemeinwohlverpflichtung des Staates. Sie muss von dem Willen der Gesellschaft getragen sein, der Wissenschaft und ihrer Eigengesetzlichkeit im Gefüge gesellschaftlicher Interessen Raum zu geben. Dazu gehört die Bereitschaft, öffentliche Mittel für die Wissenschaft ohne unmittelbar sichtbaren "return of investment" und zwangsläufig auf Kosten anderer möglicher Verwendungszwecke einzusetzen. Hilfreich hierfür ist der durch das Bundesverfassungsgericht für die verfassungsrechtliche Garantie der Wissenschaftsfreiheit in Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz hervorgehobene Gedanke, "dass gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient" [10]. Spiegelbildlich bedingt das Gemeinwohlinteresse an der Wissenschaft, dass sie nicht an partikulare Interessen gebunden werden darf. Das setzt einem Rückzug des Staates aus der Finanzierung des Wissenschaftsbetriebs quantitative und qualitative Grenzen, die verhindern, dass er in eine Abhängigkeit von privatwirtschaftlicher Finanzierung gerät. Für die Hochschulorganisation kommt es darauf an, die Autonomie der Wissenschaft streng auf die Selbstverwaltung der Forschenden und Lehrenden sowie Lernenden auszurichten und die Gefahr ihrer politischen Gängelung nicht in eine Auslieferung an private wissenschaftsfremde Steuerungsinstanzen einzutauschen.

In der Gemeinwohlverantwortung für die Wissenschaft hat in evangelischer Perspektive der Leistungs- und Wettbewerbsgedanke durchaus einen wichtigen Platz. Im Wettbewerb der Ideen und Erkenntnisse ist es legitim, wissenschaftliche Eliten zu identifizieren und herauszustellen. Die darauf bezogenen Differenzierungskategorien können auf Erkenntnisse, Institutionen oder Menschen bezogen sein. Das Urteil im Wettbewerb der Ideen und Erkenntnisse muss ausschließlich dem wissenschaftlichen Diskurs selbst vorbehalten bleiben. Der Wettbewerb der Institutionen darf nicht die individuelle Würdigung der wissenschaftlichen Leistung des einzelnen Menschen überlagern – etwa mit einer Privilegierung nach der Herkunft aus einer "exzellenten" Institution. Wo das Leistungsprinzip den Umgang mit dem einzelnen Studierenden und Wissenschaftler bestimmt und bestimmen muss, mahnt die evangelische Perspektive, den ganzen Menschen über das hinaus, was er leistet, als Bildungssubjekt im Blick zu behalten. Die legitime Differenzierung im Wettbewerb darf sich unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zu wissenschaftlicher Bildung nicht zu einer Exklusion des "weniger Exzellenten" und zu einer Abwertung der akademischen Breitenbildung verschärfen.

Da aus evangelischer Perspektive das Individuum als Bildungssubjekt im Zentrum steht, verlangt sie von der Gestaltung des Wissenschaftsbetriebs die Gewährleistung von Chancengleichheit. Chancengleichheit ist zugleich ein Aspekt des Leistungsprinzips. Die Teilhabe am wissenschaftlichen Bildungsprozess darf nicht durch soziale Herkunft oder private Finanzkraft bedingt sein.

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