Orientierungshilfe für Unterstützungsleistungen

Orientierungshilfe für Unterstützungsleistungen

zu Unterstützungsleistungen an Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs in Anerkennung ihres Leids

Kirchenamt der Evangelischen Kirche
in Deutschland
Herrenhäuser Straße 12
D-30419 Hannover

Stand: 17. April 2012


I. Vorbemerkungen

Die evangelischen Landeskirchen sind sich ihrer Verantwortung, wirksame Maßnahmen zur Prävention und Intervention bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ergreifen, bewusst. Entsprechende Leitlinien und Hinweise, verbindliche Verfahrensabläufe sowie Programme zur Sensibilisierung zu diesem Thema sind lange etabliert und wurden in den letzten zwei Jahren nochmals überarbeitet.

Genauso wichtig ist die Unterstützung der Betroffenen von sexuellem Kindesmissbrauch und ihrer Angehörigen bei der Bewältigung des Erlittenen. Hierzu bieten die Landeskirchen unabhängige Beratungen an. Die Kirchenkonferenz hat überdies ausdrücklich die Überlegungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ unterstützt, welche ein ergänzendes Hilfesystem der sozialrechtlichen Leistungsansprüche vorsehen. Dieses soll die Aufgabe haben, noch andauernde Belastungen als Folgewirkung des Missbrauchs auszugleichen bzw. zu mildern. Die evangelischen Kirchen werden an diesem ergänzenden Hilfesystem auch finanziell beteiligt sein.

Der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“ hat darüber hinaus festgestellt, dass „Leistungen zur Genugtuung der Betroffenen […] allein den Tätern und ggf. den Institutionen, in deren Verantwortungsbereich der Missbrauch geschah, [obliegen]“.(1)  Dies entspreche auch dem Anliegen der Betroffenen, dass sich Täterinnen und Täter und ggf. auch Institutionen mit dieser Leistung deutlich zu ihrer konkreten Verantwortung bekennen. Eine pauschale Regelung würde das tatsächliche Maß der Verantwortung hingegen verwischen. Insoweit hat der Runde Tisch darauf verzichtet, über die Einzelheiten der jeweiligen organisatorischen Verantwortung Empfehlungen auszusprechen, gleichwohl aber grundsätzliche Standards benannt, die in den Verhandlungen von Institutionen mit Betroffenen über Anerkennungsleistungen beachtet werden sollen. Diese werden unter III. beschrieben.

Die Prämisse, von einer pauschalen Lösung Abstand zu nehmen, schließt allerdings eine schematische Lösung aus. Diese Überlegungen dienen deshalb auch lediglich als Handreichung für die Entscheidungsfindung im Einzelfall.

Unabhängig von einer Teilhabe am ergänzenden Hilfesystem und ggf. materiellen Leistungen in Anerkennung des Leids sollten die Betroffenen – so sie es wünschen – bei Bemühungen um einen Täter-Opfer-Ausgleich, zu dem auch finanzielle Aspekte gehören, unterstützt werden.

 
II. Finanzielle Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids

1. Grundsatz

Die Erfahrung aus der Arbeit der kirchlichen Ansprechstellen für Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigt die Überlegungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“, dass pauschale Entschädigungs- oder Schmerzensgeldzahlungen für alle Missbrauchsfälle, in denen die Täterinnen oder Täter Mitarbeitende in kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen waren, nicht empfohlen werden können. Dies würde weder der Verantwortung der Täterinnen und Täter für die Tat und deren Folgen, noch ggf. der Verantwortung einer kirchlichen Institution im konkreten Fall gerecht. Auch eine Gesamtbetrachtung der diesbezüglichen Situation in der evangelischen Kirche spräche gegen pauschale Lösungen. Sie können überdies dem Einzelfall nicht gerecht werden.

Sofern entsprechende Ansprüche gegenüber der Kirche verjährt sind, wird aber eine freiwillige, individuelle finanzielle Leistung in Anerkennung des Leids in den Fällen, in denen ein institutionelles Versagen, d.h. ein Tun oder Unterlassen kirchlicher Verantwortungsträger bzw. von Vorgesetzten der Täterinnen und Täter (mit)ursächlich für die Tat war bzw. diese ermöglicht hat, empfohlen.

2. Anknüpfung an die Rechtsordnung – Unbilligkeit der Verjährungseinrede wegen eines institutionellen Versagens

Diese Hinweise beziehen sich also ausschließlich auf solche Fälle, in denen mögliche Schmerzensgeld- oder Schadensersatzansprüche aufgrund der eingetretenen Verjährung nicht mehr durchsetzbar sind. Ansprüche gegen die Kirche entstehen prinzipiell in den Fällen, in denen beruflich oder ehrenamtlich Mitarbeitende im Zusammenhang mit einem durch kirchliche Tätigkeit vermittelten Zugang zu Kindern sexuell übergriffig werden. Sie können auch dort entstehen, wo die kirchliche Personalaufsicht nicht wahrgenommen wurde.

Die zivilrechtliche Verjährung dieser Ansprüche tritt in aller Regel nach Ablauf von drei Jahren ein, spätestens nach Ablauf von dreißig Jahren nach Erreichen des 21. Lebensjahres bzw. bei Beendigung der häuslichen Gemeinschaft (§§ 199, 208 BGB).

Nicht verjährte Ansprüche sind – nach ausreichender Klärung – selbstverständlich unverzüglich zu erfüllen.

Die Einrede der Verjährung sollte nicht geltend gemacht werden, wenn dies aufgrund eines institutionellen Versagens im konkreten Fall unbillig wäre. Das wäre insbesondere anzunehmen, wo durch ein schuldhaftes Unterlassen oder aktives Tun kirchlicher Verantwortungsträger bzw. Vorgesetzter des Täters oder der Täterin die Tat nicht verhindert, (mit) ermöglicht oder diese gar geduldet wurde. Indizien hierfür sind beispielsweise der Verbleib von Mitarbeitenden in ihrem Aufgabengebiet, obwohl die Tat bekannt war, eine Versetzung, die gleichwohl den dienstlichen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen nicht ausschloss oder ggf. auch das Unterlassen einer Strafanzeige, der Einleitung eines Disziplinarverfahrens oder einer Kündigung trotz erheblicher Verdachtsmomente.
Sowohl im Hinblick auf die tatbestandliche Begründung (a) als auch aufgrund der Höhe der finanziellen Leistung (b) kann die Rechtsordnung als Maßstab dienen:

a)  Amtshaftungsanspruch

Der möglichen finanziellen Leistungen wegen eines institutionellen Versagens zugrundeliegende Anspruch ist in der Regel in einer Amtshaftung nach § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG begründet. Auch auf die Kirchen als öffentlich-rechtliche Körperschaften ist der Amtshaftungsanspruch anwendbar.

Voraussetzung einer Amtshaftung ist, dass ein Beamter oder eine Beamtin im haftungsrechtlichen Sinne (1) in Ausübung seines öffentlichen Amtes (2) eine ihm/ihr gegenüber einem Dritten obliegende Amtspflicht verletzt (3) hat.
 
(1) Der haftungsrechtliche Beamtenbegriff nach § 839 BGB ist weiter gefasst als der statusrechtliche, wie bereits der Wortlaut von Art. 34 GG („jemand“) klarstellt. Hierunter fallen grundsätzlich auch kirchliche Angestellte. Entscheidend ist, ob Bedienstete im Rahmen einer kirchlichen Aufgabe tätig geworden sind.
 
(2) Als Bedienstete einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft üben kirchliche Mitarbeitende, soweit sie nicht rein fiskalisch oder im innerkirchlichen Bereich tätig werden, ein öffentliches Amt i.S.v. Art. 34 GG aus.

(3) Zu den Amtspflichten einer kirchenleitenden Person oder einer/s Personalverantwortlichen gehört es, dem Verdacht eines sexuellen Missbrauchs nachzuge¬hen und dafür Sorge zu tragen, dass weiteres Fehlverhalten verhindert wird. Diese spezifische Aufsichtspflicht besteht gerade auch im Interesse der (potentiellen) Betroffenen. Ist dies nicht ge¬schehen oder wurden die Übergriffe oder Misshandlungen gar geduldet, so liegt unzweifel¬haft eine Amtspflichtverletzung vor. Wurde sie nicht wahrgenommen, so hat der Amtsträger oder die Amtsträgerin eine ihm/ihr gegenüber Dritten obliegende Amtspflicht verletzt.

Für die Fälle, in denen kirchenleitende Personen oder Personalverantwortliche es trotz des Wissens um einen Verdacht wegen sexuellen Kindesmissbrauchs vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen haben, geeignete Maßnahmen zur Prävention von (weiteren) Missbrauchsfällen zu treffen oder gar aktiv die Vertuschung des Falles betrieben haben, ist von der Begründung eines Amtshaftungsanspruches (neben dem bereits auf der ursprünglichen Verletzungshandlung beruhenden Schadensersatzanspruch - vgl. II.2.) auszugehen. Dieser umfasst auch Entschädigungsansprüche für immaterielle Schäden nach § 253 Abs. 2 BGB (Schmerzensgeld). Jedenfalls in diesen Fällen wäre es unbillig, die Einrede der Verjährung des (ursprünglichen) Anspruchs zu erheben.

b)  Höhe der finanziellen Leistung

Die Anknüpfung an die Rechtsordnung durch die Berücksichtigung eines (verjährten) Amtshaftungsanspruchs ist auch Ausgangspunkt für die im individuellen Einzelfall zu treffende Entscheidung über die Höhe der finanziellen Leistung, die sich an dem konkreten Schmerzensgeldanspruch orientiert.
Schmerzensgeld ist die Folge eines immateriellen Schadens, wie dem Verlust an Lebensfreude, einer Körperverletzung, Gesundheitsschädigung und Freiheitsberaubung. Es hat eine Genugtuungsfunktion für die Betroffenen.

Für die Höhe des Schmerzensgeldes in Betracht zu ziehende Aspekte sind insbesondere:

  • der Umfang und die Schwere der Beeinträchtigung der Betroffenen;
  • die Art und das Ausmaß der Übergriffe;
  • der Grad des Verschuldens des Täters oder der Täterin;
  • die Vermögensverhältnisse der Beteiligten.

Die Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs hat in ihrem Abschlussbericht empfohlen, sich bei der Bemessung der „Anerkennungssumme“ am „Schmerzensgeldbetrag, der bei fristgerechter Geltendmachung des Anspruches gerichtlich erzielbar wäre“, zu orientieren.(2)  Hierzu können Gerichtsentscheidungen zu ähnlich gelagerten Fällen herangezogen werden.

III.  Verfahrenshinweise

Die Entscheidung über eine materielle Leistung in Anerkennung des Leids soll so transparent wie möglich und für die Betroffenen nachvollziehbar sein.

1. Empfohlen wird, als Adressat des Antrags die Kirchenleitung vorzusehen. Für die Entscheidung über Anträge auf materielle Leistungen sollte die Gliedkirche erforderlichenfalls ein unabhängiges gesondertes Gremium bestimmen. Diesem könnte neben einem Mitglied der Kirchenleitung und ggf. der Synode auch mindestens eine unabhängige, nicht im Dienst der Landeskirchen stehende, sachverständige Person angehören.

2. Mit der Aufnahme des Antrages soll die Beratungsstelle der jeweiligen Landeskirche betraut werden. Die Beratungsstelle führt keine eigenen Ermittlungen. Sie kann aber, ggf. mit unabhängiger juristischer Unterstützung, den Betroffenen bei der schriftlichen Darlegung des Anliegens und ggf. des Tathergangs (soweit noch nicht durch die Clearingstelle des vom Runden Tisch empfohlenen ergänzenden Hilfesystems festgestellt, s.u.) zur Seite stehen.

Hilfreich ist möglicherweise ein Muster, mit welchem die wesentlichen Informationen zur Tat selbst und die für die Höhe des Schmerzensgeldes zu berücksichtigenden Aspekte (s.o.) erfasst werden können:

  • zum Tathergang (soweit noch nicht von der Clearingstelle des ergänzenden Hilfesystems festgestellt): Täter oder Täterin, Dauer, Zeitraum, Anzahl und Art der Übergriffe (insbesondere Gewaltanwendung);
  • andauernde Folgeschäden und Beeinträchtigungen;
  • Angaben, ob und wann der konkrete Verdachts- bzw. erwiesene Missbrauchsfall kirchlichen Vorgesetzten/Dienststellen bekannt geworden ist und ggf. Erklärung darüber, wie diese Stellen darauf reagiert haben;
  • gegenüber dem Täter/der Täterin geltend gemachte und ggf. erfüllte Schadensersatz- oder Schmerzensgeldansprüche;
  • Angaben, ob die Tat bereits Gegenstand eines zivil- oder strafrechtlichen Gerichtsverfahrens war oder auf anderem Wege Leistungen für die Tat erlangt wurden.

3. Die Betroffenen sollen im Hinblick auf die Darstellung der Tat(en) soweit wie möglich vor einer erneuten Belastung, schlimmstenfalls Re-Traumatisierung bewahrt werden. Soweit im konkreten Fall bereits eine Entscheidung der Clearingstelle des vom Runden Tisch empfohlenen ergänzenden Hilfesystems ergangen ist, soll deren Feststellung zum Sachverhalt, insbesondere dass die Antragstellerin bzw. der Antragsteller im Verantwortungsbereich der jeweiligen Landeskirche missbraucht wurde, anerkannt werden. Dies erspart Betroffenen die mehrfache Schilderung und Beurteilung ihrer Erlebnisse. Da die Clearingstelle lediglich die konkreten Tat(en) und nicht die Umstände prüft, die ggf. ein institutionelles Versagen begründen, wird es aber auf jeden Fall erforderlich sein, dass das kirchliche Prüfungsgremium diese Umstände prüft.

4. Ist die Clearingstelle des ergänzenden Hilfesystems nicht mit dem konkreten Fall befasst gewesen, so hat das Entscheidungsgremium die Sachverhaltsfeststellung auf der Grundlage der Darstellungen des bzw. der Betroffenen zu treffen. Dabei ist die Beweisnot der Betroffenen, insbesondere in den Fällen, in denen der Missbrauch lange Zeit zurückliegt, angemessen zu berücksichtigen. Die Anforderungen an den Nachweis des Missbrauchs und seine Folgen müssen dementsprechend im Einzelfall abgesenkt werden. Die Richtigkeit der Angaben ist ggf. an Eides statt zu erklären.

5. Die Entscheidung über eine Leistung soll schnellstmöglich getroffen werden. Sofern notwendige Recherchen oder Gespräche einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen, sind die Betroffenen zeitnah zu informieren, damit nicht der Eindruck entsteht, dass ihre Anträge unbearbeitet bleiben.

6. Es wird empfohlen, eine Überprüfungsmöglichkeit abschlägiger Entscheidungen in einem innerkirchlichen Beschwerdeverfahren vorzusehen. Hierzu käme zum Beispiel eine Befassung durch die Kirchenleitung, den Vorstand der Synode oder ein anderes Gremium in Betracht. 


Fußnoten:

(1)  Siehe hierzu: „Immaterielle und materielle Hilfen für Betroffene“ – Empfehlungen des Runden Tisches; Kapitel I „Anerkennung des Unrechts/Genugtuung der Betroffenen“.

(2)  Siehe hierzu: Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs – „Empfehlungen für Hilfen und Prävention“; Kapitel 3.7 „Genugtuung und Wiedergutmachung durch Institutionen“.