Predigt zur Jahreslosung 2020

Der Ratsvorsitzender der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Gehalten am 01.01.2020 im Berliner Dom zur Jahreslosung "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!" (Markus 9,24)

Text: Mk 9,14-27
Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. 15 Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. 16 Und er fragte sie: Was streitet ihr mit ihnen? 17 Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. 18 Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn zu Boden; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht. 19 Er antwortete ihnen aber und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir! 20 Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn hin und her. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. 21 Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. 22 Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! 23 Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. 24 Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! 25 Als nun Jesus sah, dass die Menge zusammenlief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! 26 Da schrie er und riss ihn heftig hin und her und fuhr aus. Und er lag da wie tot, sodass alle sagten: Er ist tot. 27 Jesus aber ergriff seine Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.

Liebe Gemeinde,
es ist gut, dass wir am Neujahrstag hier im Berliner Dom zusammenkommen. Dass wir hier in den Dom all das mitbringen können, was uns an diesem ersten Tag des neuen Jahres jetzt bewegt. Die freudige Erwartung auf das, was dieses neue Jahr uns bringen wird. Oder auch die bange Sorge gegenüber dem, was da kommen wird. All das dürfen wir in dieser Stunde vor Gott bringen und uns von ihm stärken lassen, uns etwas mitgeben lassen, was uns in den guten Zeiten dieses Jahres begleitet und was uns auch in den Anfechtungen, die kommen mögen, Kraft geben kann. Es ist ein guter Brauch, dass es ein Bibelwort ist, das wir als Jahreslosung mitnehmen dürfen. Ein Bibelwort, an dem wir uns festhalten können, auch dann, wenn uns vieles, was vorher selbstverständlich war, wegbricht.

Denn es gibt sie ja, die Zeiten, an denen wir mit unserem Latein am Ende sind. Da versagen sie, all unsere hoch reflektierten Erklärungen. Da rauschen sie an uns vorbei, die Lebensweisheiten, die eigentlich doch so gut klingen. Da sagen uns auch die theologischen Erklärungen nichts mehr, die doch sonst auch immer wieder Verstehenshorizonte eröffnen können. Es gibt Zeiten, an denen uns das alles nicht mehr erreicht, jedenfalls nicht in der Seele erreicht. Zeiten, in denen wir entweder einfach gar nichts mehr sagen wollen, gar nichts mehr sagen können – oder einfach nur schreien wollen.
 
Deswegen ist die Jahreslosung 2020 aus dem Markusevangelium so kostbar. Denn sie spricht mitten hinein in solche Zeiten und Situationen. Sie erreicht uns in der Seele. Es ist kein Imperativ, kein Glaubenssatz, der uns heute in dieses neue Jahr hinein mitgegeben wird, sondern ein Aufschrei: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Er kommt aus dem Mund eines Vaters, der für seinen Sohn kämpft. Für seinen kleinen großen Jungen, den er Tag für Tag gefährlich fallen sieht, immer wieder nahe dem Wasser oder dem Feuer.

Mich berührt diese Geschichte sehr. Ich bin ein Vater. Ich habe drei Söhne. Ich fühle mich dem Vater in der Geschichte aus dem Markusevangelium so nah. Was hat der Mann nicht all die Jahre verzweifelt versucht, um den Jungen zu retten und gesund zu machen. Von Dämonen besessen sei er, so sagen die Nachbarn, Freunde und Gaffer. Besessen, ja, so sieht es aus, das muss der Vater selbst zugeben. Er selbst erschrickt immer noch, wenn er seinen Jungen so sieht: Plötzlich vollkommen außer sich und nicht mehr er selbst. Von einem Augenblick auf den anderen verliert er sich. Er fällt. Und alles um ihn herum fällt mit. Furchtbare Sekunden und Minuten lang, diese Entstellung, die schon das kleine Kind überfallen hat. 

Erstaunlich, dass der Vater das durchhält, dass sein Glaube das überstanden hat. Er sagt ja gerade nicht: ich will von diesem Gott nichts mehr hören, der mir das antut. Er sagt nicht: „Lasst mich in Ruhe mit Euren schönen religiösen Reden! Ich merke nichts von Eurem liebenden Gott!“ Dabei wäre das in dieser Situation sehr verständlich.

Ist das schon das erste Wunder dieser Geschichte? Der Glaube ist noch da, hat Vater und Sohn durch das lange Tal der Tränen getragen – und er ist aller Anfechtung und Erschöpfung zum Trotz noch wirksam. Wir beklagen immer so viel den Glaubensverlust. Hier haben wir ein eindrucksvolles Beispiel dafür vor Augen, wie robust und stabil Glaube sein kann. Vor allem in meinen Jahren als Gemeindepfarrer und jetzt als Bischof habe ich so viele Menschen kennen gelernt, die wie der Vater in dieser Geschichte durch die schlimmsten Leidenserfahrungen hindurch ihren Glauben nicht verloren haben. Wenn ich heute alten Ehepaaren zur Goldenen oder Diamantenen Hochzeit schreibe und sie mir dann in den Dankesbriefen aus ihrem Leben erzählen, dann berührt mich das immer wieder zutiefst, wenn ich spüre, aus welchem Gottvertrauen sie trotz manchmal schwerer Prüfungen in ihrem Leben bis zum heutigen Tag leben. Das macht mir selbst Mut und stärkt mich.

Das, was der Vater da erzählt, wäre ja eigentlich auch ein Ort für die klassische Warum-Frage. „Warum lässt Gott das Leid zu? Warum geschieht mir das? Warum muss ausgerechnet mein Sohn so leiden?“ Aber der Vater stellt diese Frage nicht. Die Warum-Frage spielt für unsere Theologie eine wichtige Rolle. Sie bewahrt uns davor, auf zu einfache Erklärungen für das Leid in der Welt zurückzugreifen. Die Frage schärft unsere Sinne und bewahrt uns vor zu banalen Antworten. Und sie öffnet den Raum für die Klage, für die wir schon in den Psalmen, aber auch bei Jeremia und im Buch Hiob, so eindrucksvolle Beispiele finden. Eine Klage vor Gott über das erfahrenes Leid. Eine Klage, die ja genau deswegen so berührt, weil sie die Verbindung hält, weil sie von Gott nicht ablässt, und doch alles Leid, alle Wut und allen Schmerz ungeschönt zur Sprache bringt. 

Aber was ist mit den Anfechtungen? Es sind vielleicht keine Dämonen, die uns herunterreißen oder zu Boden werfen. Auch wenn es sich so anfühlt. Aber das Gefühl, am Boden zu sein, zu stolpern und zu fallen in unserem Glauben, das kennen wir. Und vielleicht ist es genau dann, dass wir selbst nichts mehr sagen können. Uns nur noch die Worte des Vaters in der Geschichte leihen können, so wie Dietrich Bonhoeffer es 1934 einmal in einer Konfirmationspredigt beschrieben hat: 

„Da tritt ein großer Schmerz, ein schwerer Verzicht in unser Leben, ein großer Verlust, Krankheit, Tod. Unser Unglaube bäumt sich auf. Warum fordert Gott das von mir? Warum hat Gott das zugelassen? Warum, ja warum? Das ist die große Frage des Unglaubens, die unseren Glauben ersticken will. Keiner kommt um diese Not herum. Es ist alles so rätselhaft so dunkel. In dieser Stunde der Gottverlassenheit dürfen und sollen wir sprechen: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben."
 

Kann die Warum-Frage und der Unglaube unseren Glauben „ersticken“? Bonhoeffer selbst wird sich in seiner späteren Haftzeit im Gestapo-Gefängnis in Berlin mit dieser Frage weiter auseinandersetzen. Wie es ist, Häftling zu sein, abgeschnitten von der Familie, mit einer ungewissen Zukunft. Und dabei den Glauben nicht zu verlieren, das ist in der Biografie Bonhoeffers ein beeindruckendes Zeugnis. Selbst angefochten und doch stark für andere, denen er seine Zeit und seine Briefe widmet. Er bleibt nicht in der Warum-Frage stecken, er lebt seine Zweifel und seinen Unglauben getragen vom Glauben vor Gott. 

Der Glaube lässt uns nicht alles verstehen, aber er kann uns die Kraft geben, das Verstehen auszuhalten. 

Es muss uns  „… klar sein, dass die Funktion des Glaubens trotzdem nicht darin besteht, unseren Durst nach Sicherheit und Geborgenheit zu stillen, sondern darin, uns zu lehren, mit dem Geheimnis zu leben“.  Das schreibt Tomas Halik, der 1968 im Alter von 20 Jahren mit Anrollen der sowjetischen Panzer das Ende des Prager Frühlings kommen gesehen hat. Drei Jahre später ließ er sich in einer Untergrundkirche in Erfurt heimlich und illegal zum Priester weihen. Zehn Jahre wirkte er dann in der Illegalität als Priester. 
Glaube ist da, aber er bleibt unverfügbar. Glaube hat keinen eigentlichen „Zweck“, es fehlt eine „Begründung“. Er ist auch nicht messbar. Der Glauben ist nicht etwas, sondern er tut etwas: Er hält uns bei Gott – trotz oder gerade wegen aller Zweifel und allen Unglaubens.

Zurück zum sorgenden Vater: Er schreit seinen letzten Glauben aus sich heraus. Noch hat ihn der Unglaube nicht überwältigt, aber viel fehlt da nicht mehr. Anders als bei der zerstörerischen Warum-Frage, führt ihn der zweifelnde Glaube in den Wirkungsbereich Jesu. Sein Glaube hält an Gott trotzig fest. „Wohin sollten wir denn gehen, Herr? Du hast Worte des Lebens“, sagen die Jünger. Angefochtener Glaube hält die Beziehung zu Gott aufrecht, kehrt ihm nicht den Rücken zu. Schneidet nicht den Faden ab, an dem unsere Hoffnung noch hängt. Die einzige richtige Antwort auf die Warum-Frage, wenn man das denn überhaupt sagen kann, lautet: Stell diese Frage Gott. Wirf ihm deine Zweifel, deinen Schmerz, deinen Schrecken, deine Wut vors Angesicht. Frag ihn all das, was dich quält, selbst: Warum geschieht das alles, warum passiert das? Von dieser Haltung der Gottes-verhaftung sind die Psalmen voll. Sie scheuen keinen Moment, Gott für alles zu verhaften, was passiert. Sie werfen Gott alles vor und danken zugleich für alles, was durch ihn gelingt. In diesem Sinne heißt Glauben trotzig Festhalten an Gott, ihn nicht aufgeben.

Das Entscheidende in der Begegnung des Vaters mit Jesus ist die Bitte: Hilf meinem Unglauben! Das Entscheidende ist, dass der Vater innerlich genau weiß wo seine Grenzen liegen. Glaube lässt sich nicht machen. Glaube lässt sich nur erbitten.

Ich kenne viele Menschen, die nicht glauben können, die aber Sympathie für das Christentum haben, die froh sind, dass es die Kirche gibt, die ihren Kindern wünschen, dass sie diesen innerlichen Anker für sich entwickeln können. Sie selbst aber finden die innerliche Gewissheit einfach nicht, die wir normalerweise Glauben nennen. Es gibt so gute Vernunftargumente für den Glauben, die wir jetzt alle nennen könnten. Argumente, die sagen, warum es überhaupt nichts Unaufgeklärtes ist, heute zu glauben, warum es die beste Idee aller Zeiten ist, sein Leben in den Horizont der Beziehung zu Gott zu stellen. Aber diese Vernunftargumente können eben für den Glauben nur die Tür öffnen. Schaffen können sie den Glauben nicht. Das kann nur Gott. Das kann nur der Heilige Geist. Das kann nur derjenige, zu dem der Vater ruft: Herr, hilf meinem Unglauben!

Diese Jahreslosung des Jahres 2020 ist eine einzige große Einladung, in diesen Ruf einzustimmen. Sie ist eine Einladung an all die Menschen in unserem Land, die auf der Suche sind, die etwas ersehnen, an das sie sich halten können, die aber nicht wissen, wie sie da hinkommen. Sie alle und mit ihnen wir alle, die wir immer wieder von neuem auf der Suche sind und Fragen an Gott stellen, – wir alle dürfen mit dem Vater des Kindes in der Geschichte aufhören, unser Leben kontrollieren zu wollen. Wir alle dürfen mit dem Vater zusammen lernen, radikal aus dem Vertrauen zu leben. Herr ich glaube, oder will es vielleicht nur, aber ich kann es nicht machen. Ich kann es nicht erzwingen. Ich kann es nicht einfordern. Ich kann es nur erbitten, vielleicht auch erflehen. Und alles andere in Gottes Hand legen. In die Hand des Gottes, der sich in Jesus Christus gezeigt hat, der in seiner unendlichen Liebe Menschen geworden ist und in diesem Menschen diese Liebe ausge-strahlt hat und dessen Liebe selbst über den Tod hinaus ihre Kraft nicht verliert. So dass wir mit Paulus sagen können: Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Wenn Sie, liebe Gemeinde, im kommenden Jahr einen solchen Moment haben, dass sie ein Zeichen von Gott ersehnen, dass sie selber keinen Kontakt herstellen können, dass Sie sich dieser Grenze schmerzlich bewusstwerden, dann wagen Sie die Worte des Vaters mitzusprechen: Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben! Vielleicht leise im Herzen, vielleicht aber auch laut. Vielleicht irgendwo unterwegs in einem stillen Innehalten, vielleicht aber auch zu Hause in der Schlafzimmerecke mit einer brennenden Kerze. Oder gestärkt durch die gottesdienstliche Gemeinschaft mit so vielen anderen Menschen, die auch zu Gott rufen und sich von Gott rufen lassen wollen.


„Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Es ist ein Hilferuf. Und es ist ein Ruf des Vertrauens. In den wollen wir an diesem ersten Tag des neuen Jahres einstimmen. Ihn in dieses Jahr mitnehmen. Und fest darauf vertrauen: Der, den wir anrufen, wird helfen.


Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.


Amen.