„Wer soll denn sonst die Wahrheit sagen?“

Christlicher Widerstand: Kirchen erinnern an Hinrichtung der „Lübecker Märtyrer“ vor 75 Jahren

Die vier Lübecker Märtyrer

Die katholischen Kapläne Johannes Prassek, Hermann Lange, Eduard Müller und des evangelischen Pfarrers Karl Friedrich Stellbrink wurden im Juli 1943 zum Tode verurteilt. Nur neun Minuten sollen ihre Hinrichtungen am 10. November 1943 gedauert haben.

Als die vier „Lübecker Märtyrer“ vor 75 Jahren in der Hamburger Haftanstalt am Holstenglacis hingerichtet wurden, sei ihr Blut, so wird berichtet, im Hof ineinandergeflossen. Bis heute gestalten die katholische und evangelische Kirche das Gedenken an die vier Lübecker Kirchenmänner gemeinsam. Mit einer Veranstaltungswoche erinnern sie Anfang November an den 75. Jahrestag der Ermordung.

Nach dem verheerenden Bombenangriff auf Lübeck im März 1942 waren die katholischen Kapläne Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange sowie der evangelische Pastor Karl-Friedrich Stellbrink verhaftet worden. Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechen lauteten die Vorwürfe. Im Juli 1943 verurteilte der eigens nach Lübeck angereiste Volksgerichtshof sie zum Tode. Nur neun Minuten sollen ihre Hinrichtungen am 10. November 1943 gedauert haben.

Johannes Prassek (1911-1943) war der „politische Kopf“ der drei Kapläne. Die Tötung von behinderten Menschen empörte ihn ebenso wie die Misshandlungen der polnischen Zwangsarbeiter. Heimlich steckte er ihnen Brot und Kleidung zu. Offen brachte er in Predigten und Gesprächen seine Kritik zum Ausdruck. „Wer soll denn sonst die Wahrheit sagen, wenn es nicht die Priester tun?“ antwortete er warnenden Stimmen.

Der evangelische Pastor Stellbrink (1894-1943) hatte einen ganz anderen Weg hinter sich. Der langjährige Auslandspastor in Brasilien war völkischer Rassist und seit März 1933 NSDAP-Parteimitglied. In Jesus Christus sah er vor allem einen nordischen Heroen. Doch sowohl mit seiner Partei als auch mit seinem NS-nahen Bischof Erwin Balzer überwarf er sich, so dass die NSDAP ihn 1937 ausschloss. Stellbrink und Prassek freundeten sich 1941 an, als Kontakte zwischen den Konfessionen noch verpönt waren. Dokumente über seinen Sinneswandel gibt es kaum.

Den Beteiligten war der Ernst der Lage wohl zunächst nicht bewusst

Nach dem Bombenangriff auf Lübeck im März 1942 hatte Stellbrink gepredigt, dass Gott „mit mächtiger Stimme“ gesprochen habe. Eine Woche später wurde er verhaftet, sieben Wochen danach folgte Prassek. Den Beteiligten war der Ernst der Lage wohl zunächst nicht bewusst.

„Na, das wird ja nicht gleich Kopp ab kosten“, schrieb Hermann Lange (1912-1943) nach der Hausdurchsuchung durch die Gestapo. Im Juni wurden auch er und Jugendkaplan Eduard Müller (1911-1943) verhaftet, gegen den es kaum Belastungsmaterial gab. Die Todesurteile sollten offenbar den NS-kritischen, populären Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen treffen, dessen Predigten die vier Lübecker abgetippt und verteilt hatten.

Abendmahl im Gefängnis

Außer den vier Kirchenmännern wurden auch 18 Lübecker Laien verhaftet, von denen die meisten mehrmonatige Haftstrafen erhielten. Unterstützung bekamen die inhaftierten Theologen durch die Haushälterin Johanna Rechtien (1911-1991). Sie schmuggelte unter anderem Wein und Hostien ins Gefängnis, damit sie gemeinsam Abendmahl feiern konnten. Trauerfeiern für die Ermordeten waren verboten. Die Familie Stellbrink erhielt nach der Hinrichtung sogar eine Rechnung über 1.500,70 Reichsmark für die Haftzeit.

Bemerkenswert ist die offenbar unerschütterliche Gelassenheit der vier Männer vor ihrem Tod. „Was mich erwartet, ist Freude und Glück“, schrieb etwa Prassek. Und bei Lange heißt es: „Heute ist die große Heimkehr ins Vaterhaus, und da sollte ich nicht froh und voller Spannung sein?“

Unterschiede zwischen den Kirchen

Unterschiede zwischen den Kirchen wurden gleich nach der Verhaftung deutlich. Die evangelische Seite tat sich mit ihrem ehemaligen Nazi-Pastor schwer. Während sich die katholische Seite für ihre Kapläne einsetzte, eröffnete der evangelische Kirchenrat umgehend ein Disziplinarverfahren, um Stellbrink noch vor seinem Tod aus dem Amt zu entfernen. Erst 1993 sorgte der Lübecker Bischof Karl Ludwig Kohlwage für die Rehabilitierung von Stellbrink.

Die katholischen Kapläne sprach die Kirche 2011 selig. Vor fünf Jahren wurde eine Gedenkstätte an der katholischen Herz-Jesu-Kirche in der Lübecker Altstadt eröffnet. Schautafeln, Hörstationen und Filme geben Einblick in das Leben der vier Geistlichen. In der Krypta wurde 2016 die Urne von Hermann Lange bestattet. Die evangelische Luther-Kirche, Predigtstätte von Stellbrink, zeigt unter dem Titel „... ich kann dich sehen“ Textplakate und Touch-Screens über die Gemeindegeschichte. Hier befindet sich auch die Urne Stellbrinks.

Als vor einem Jahr elf katholische Kirchen zu einer Groß-Gemeinde fusioniert wurden, erhielt sie den Namen „Zu den Lübecker Märtyrern“. Sie umfasst neben Lübeck und Bad Schwartau auch die Ostseebäder Timmendorfer Strand und Scharbeutz. Von den Ausmaßen her eher klein ist dagegen die jüngste Ehrung: Seit wenigen Wochen sind die vier Geistlichen auch auf einer 70-Cent-Briefmarke vereinigt.

Thomas Morell (epd)