Hundert Jahre Lernen

1918 endete der Erste Weltkrieg. Gut, dass die Kirche Untertanengeist und Nationalismus hinter sich gelassen hat, findet Margot Käßmann

Gedenkstätte auf dem ehemaligen Schlachtfeld bei Ypern, Belgien
Gedenkstätte auf einem ehemaligen Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs bei Ypern, Belgien.

Es war ein Schicksalsjahr für Deutschland. Zu Beginn des Jahres 1918 war Russland besiegt, der Frieden von Brest-Litowsk schien das zu besiegeln. Aber die deutsche Bevölkerung war demoralisiert und hungerte. Wie auch die Soldaten. Die Militärs, die alles beherrschten, hatten weder mit der Macht der britischen Panzer noch mit dem Kriegseintritt Amerikas gerechnet. Niederlage reihte sich an Niederlage. Admiräle 
wollten die Marine in eine letzte sinnlose Seeschlacht ­führen, die Soldaten meuterten, der Aufstand setzte sich bis Berlin fort. Am 9. November rief zuerst der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vor dem Reichstagsgebäude die Republik aus, wenige Stunden später Karl Liebknecht vor dem Berliner Schloss eine „freie sozialistische Republik“. Noch im selben Monat dankte der deutsche Kaiser ab. Es folgte der Versailler Vertrag, der von vielen Deutschen als demütigend, als „Schmach“ empfunden wurde.

1918 war ein Schicksalsjahr auch für die Kirchen. Die Katholiken waren mit der Zentrumspartei im politischen System der Weimarer Republik gut vertreten. Die Evangelischen fühlten sich heimatlos. 1914 hatten evangelische Pfarrer und Bischöfe dazu aufgerufen, sich für Volk und Vaterland zu opfern. So predigte etwa am 2. August 1914 der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring von den Stufen des Reichstags: „Ja, wenn wir nicht das Recht und das gute Gewissen auf unserer Seite hätten, wenn wir nicht . . . die Nähe Gottes empfänden, der unsere Fahnen ent­rollt und unserm Kaiser das Schwert zum Kreuzzug, zum ­heiligen Krieg in die Hand drückt, dann müssten wir zittern und zagen. Nun aber geben wir die trutzig kühne Antwort, die deutscheste von allen deutschen: Wir ­Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!“

Kirchen waren Teil des Nationalismus

Bei solcher Predigt graust es mir. Hier haben Menschen Ideologie und Zeitgeist mehr gehorcht als dem Gott, der die Ohnmacht am Kreuz kennt. Es ist erschreckend, wie der Kollege diese Kriegstreiberei mit der Botschaft Jesu hat in Verbindung bringen können. Aber nicht nur in Deutschland, auf allen Seiten waren die Kirchen Europas Teil eines national verblendeten Getöses. Der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom steht für die wenigen Ausnahmen.

1918 trauerten die deutschen Protestanten „ihrem Kaiser Wilhelm“ hinterher. Martin Luther hatte ja keine Bischöfe als Kirchenoberhäupter eingesetzt, sondern die Landes­­­fürs­ten, weil er meinte, sie könnten seine Reformation besser schützen – so wie Friedrich der Weise ihn selbst schützte. Mit der Republik mochten sie sich nicht anfreunden. 1933 sollten sie deshalb mehrheitlich einen neuen 
Führer begrüßen in der Hoffnung, er werde auch die Kirche führen. Der Untertanengeist, der mit Bezug auf Paulus und auch Luther gepredigt wurde, prägte viele Protestanten.

Manchmal muss man Gott mehr gehorchen als den ­Menschen

Es tut gut zu sehen, was unsere Kirche gelernt hat in 100 Jahren. Beispielsweise, dass die Trennung von Staat und Kirche richtig ist. Dass wir gerne in einem Land von Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit leben. Dass es in unserer Kirche eine gewisse Grundskepsis gegenüber dem Militärischen gibt und die Militärseelsorge immer wieder kritisch diskutiert wird. Dass wir wissen: Manchmal müssen Christen Gott mehr gehorchen als den Menschen; wir dürfen nicht wieder in die Irre gehen wie 1933–1945, als unsere Kirche sich nicht schützend vor Juden, Homosexuelle, 
Sinti und Roma sowie Kommunisten gestellt hat, die ermordet wurden; wir sollten die Türen weit öffnen für Kritik 
wie in der DDR der 80er Jahre. Und es tut gut zu sehen, dass Kirchen nicht für Nationalismus einstehen, sondern für eine Gemeinschaft über nationale Grenzen hinweg.

Die letzten 100 Jahre haben uns deutlich geprägt. Ich bin dankbar für diese Lernprozesse.