Wenn der Verstorbene im Avatar weiterlebt

Der gesellschaftliche Umgang mit dem Tod wandelt sich massiv

Am 26. November ist Ewigkeitssonntag. Jahrhundertelang hatte die Kirche die Deutungshoheit über den Tod und das, was danach kommt. Das ist vorbei, sagen Soziologen. Individualität ist gefragt - im Leben wie im Sterben.

Garten der Frauen in Hamburg

Der "Garten der Frauen" auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf wurde im Jahr 2000 "von Frauen für Frauen" angelegt (Foto vom 16.10.2012). In der Gedenkstätte sind Grabsteine bedeutender Frauen aufgestellt. Die Trauerkultur befindet sich im Wandel. Das betrifft auch die klassischen Friedhofsanlagen und Bestattungen. Viele Angehörigen wollen ihre Trauer um einen Menschen individuell zum Ausdruck zu bringen. So wie der Mensch unverwechselbar gewesen ist, soll es auch das Grab sein.

Tübingen/Passau (epd). Auferstehungshoffnung? Das war einmal. Zumindest, wenn man den Soziologen Matthias Meitzler von der Universität Tübingen fragt. „Die Kirche hatte lange Zeit das Monopol für den Bereich des Sterbens“, sagt er. „Sie war die zentrale Sinngebungsinstanz.“ Aber das sei vorbei. Die Kirche habe in den vergangenen Jahrzehnten einen beispiellosen Bedeutungsverlust innerhalb der Gesellschaft hinnehmen müssen. Inzwischen sei sie nur noch ein Anbieter unter vielen.

Meitzlers Kollege Thorsten Benkel von der Universität Passau stimmt dem zu. Er spricht von „Posttraditionalität“. Zwar gebe es die klassische Jenseitshoffnung auf ein Leben nach dem Tod noch. Allerdings sei die nicht mehr zwingend christlich konnotiert. „Deutschland ist sehr plural geworden - auch bei Thema Sterben und Tod“, sagt der Soziologe. Auf den rund 35 Millionen Gräbern der etwa 32.000 Friedhöfe in Deutschland sei das christliche Kreuz immer seltener zu finden.

Meitzler und Benkel beschäftigen sich seit Jahren mit den Themen Sterben, Tod und Trauerkultur. Mehr als 1.100 Friedhöfe im deutschsprachigen Europa haben sie inzwischen dafür besucht, ihre Erkenntnisse etwa in den beiden Büchern „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe“ und „Game over“ dokumentiert. Ihr Fazit: „Es gibt auf deutschen Friedhöfen nichts, was es nicht gibt.“ Oder wer würde schon mit Skiern, Raumschiffen, Skateboards oder Comicfiguren als Motiven auf Grabsteinen rechnen? Oder mit Inschriften wie „Das war alles“, „Nur tiefergelegt“, „Alles Sch…“ oder „Es Lebbe geht weiter“? Selbst auf dem Totenacker scheint die Individualisierung ihren Siegeszug angetreten zu haben.

Aber nicht nur die Gestaltung der Gräber ändert sich, auch die Materialien. Der Trend gehe zu einheimischen Natursteinen mit matten Oberflächen, weiß Matthias Schäffer, baden-württembergischer Landesinnungsmeister des Bundesverbandes Deutscher Steinmetze. Die seien nicht so pflegeintensiv wie andere Steinarten. „Pflegeleichte Gräber sind das große Thema der letzten Jahre“, sagt Schäffer. Für die ältere Generation sei die Grabpflege häufig noch Trauerbewältigung gewesen. Auf dem Friedhof habe man andere Menschen getroffen und sei so über den schmerzlichen Verlust eines geliebten Menschen hinweggekommen. Junge wollten das nicht mehr. Für sie sei der Friedhof ein Ort, den sie am liebsten mieden. Deshalb suchten sie pflegeleichte Grabsteine.

Und noch einen eindeutigen Trend gibt es: Das Verhältnis von Erd- und Urnenbestattungen hat sich nach Angaben der Verbraucherinitiative Bestattungskultur in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugunsten der Einäscherungen entwickelt. Jüngste Erhebungen beziffern das Verhältnis von Erd- und Urnenbestattungen in Deutschland auf 23 Prozent zu 77 Prozent. Zum Vergleich: 1960 wurden noch neun von zehn Deutschen erdbestattet. Besonders im Norden und Osten nimmt die Zahl der Urnenbestattungen laut Statistik kontinuierlich zu.

Auch sonst verlieren Traditionen nach Beobachtung der Soziologen Meitzler und Benkel immer stärker an Bedeutung. Das klassische Trauerjahr nach dem Tod eines geliebten Menschen etwa gebe es so kaum noch. Immer weniger Angehörige trügen bei einer Beerdigung schwarze Kleidung. Und musikalisch hätten populärmusikalische Stücke wie „time to say good bye“ von Andrea Bocelli und Sarah Brightman oder „I did it my way“ von Frank Sinatra längst kirchliche Choräle wie „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ oder „Mit meinem Gott geh’ ich zur Ruh“ abgelöst.

Inzwischen gebe es sogar einen Trend, den physischen Tod eines Menschen lediglich als eine Art Zwischenstation zu betrachten, wissen die beiden Soziologen, die auch Politik und Kirchen beraten. Avatare lautet das Zauberwort. Start-ups entwickelten Programme, die zumindest einen Teil der Person weiterleben lassen, erklärt Meitzler - etwa durch Sprachbots, die dank Künstlicher Intelligenz Gespräche mit den Verstorbenen simulieren. Meitzler und Benkel gehen davon aus, dass das erst der Anfang einer ganz neuen Art der Trauerbewältigung sein könnte. 

Von Matthias Pankau (epd)