Geflügelte Einhörner

Kirchliches Training enthüllt Entstehung, Attraktivität und Gefahren von Verschwörungserzählungen

Ein neues Virus hat die Welt aus ihrem Tritt gebracht. Corona ist ein Fest für jeden Verschwörungsideologen, der munter Fakten und Fantasie vermischt. Aber wie lässt sich das auseinanderhalten? Zwei Theologen wissen Rat.

Ein Mann sieht durch ein Fernglas

Corona ist ein Fest für jeden Verschwörungsideologen, der munter Fakten und Fantasie vermischt. Aber wie lässt sich das auseinanderhalten? Ein „Entschwörungstraining“ soll dabei helfen.

Bremen (epd). Die Mondlandung lief im Filmstudio. Terroristische Attentate von Schauspielern inszeniert. Das Coronavirus eine Biowaffe der Chinesen: Verschwörungserzählungen wie diese sind es, die besonders in den sozialen Netzwerken viral gehen. Wie sie entstehen, was sie bewirken können und warum sie für so viele Menschen attraktiv sind, das haben am Mittwochabend zwei Theologen in einem „Entschwörungstraining“ der Bremischen Evangelischen Kirche verdeutlicht. Dazu gehörten Informationen und eine eigens für den Abend gebaute „Verschwörungstheorie“ damit man weiß, wie's geht.

Nehmen wir mal den Flughafen Berlin-Brandenburg, eine Lachnummer, unbedingt, und zwar weltweit. Seit einer gefühlten Ewigkeit wird an dem Objekt gebaut, nächster Eröffnungstermin: Ende Oktober. Ursprünglich sollte das schon 2011 geschehen. Aber warum diese Verzögerung? Da kann doch was nicht stimmen, meinen Andreas Hahn, Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen, und Harald Lamprecht, Weltanschauungsbeauftragter der sächsischen evangelischen Landeskirche. Es sind Zweifel, die sich beim „Entschwörungstraining“ in der evangelischen Kulturkirche St. Stephani schnell und tief in die Köpfe des Publikums eingraben.

Und die Geschichte dazu beginnt bei Baupannen und Chaos, was jeder über viele Jahre mitbekommen hat. Fakten also, unbestritten. Dann: Es gibt da einen militärischen Bereich. Warum nicht, gibt es an vielen Flughäfen. Dort auch Bunker für amerikanische Atomwaffen. Zumindest denkbar. Die sollen unter dem Flughafen produziert werden. Um die dazu notwendigen Anlagen unbemerkt von der Öffentlichkeit herzustellen, braucht es Zeit, deshalb die Bauverzögerungen. „Da sind wir im absurden Bereich“, verdeutlicht Lamprecht.

Zweifel säen, mit Fakten ködern

Wohlgemerkt, das ist eine Verschwörungsgeschichte, zu Trainingszwecken erfunden, um ein dahinter liegendes Prinzip zu verdeutlichen: Zweifel säen, mit Fakten ködern, damit am Ende der Schwachsinn geschmeidig durchgestochen werden kann. Und ein weiterer Grundzug aller Verschwörungsideologien ist, erläutert Lamprecht, dass sie die Menschheit in drei Gruppen einteilt: „Die Verschwörer, die im Verborgenen agieren und alle Fäden in der Hand halten, die Masse des Volkes, die getäuscht und dumm gehalten wird und die Elite der 'Truther', die die Wahrheit hinter der Fassade und die Machenschaften der Verschwörer erkannt zu haben meint.“

So sortiert sich die ansonsten unübersichtliche Welt. Schuldige am eigenen Leid sind schnell gefunden. Und weil es der Mensch nicht nur einfach mag, sondern schwer Dinge akzeptieren kann, die ohne erkennbaren Grund einfach so geschehen, hat es der Verschwörungsgläubige auch in dieser Hinsicht gut. „Für ihn ist klar: Was geschieht, passiert, weil die Verschwörer es so wollen“, führt Lamprecht aus und ergänzt: „Damit sind Zufälle, Pannen, Unfälle und alles nicht Fassbare beseitigt. Das bringt eine enorme Entlastung.“ Der Fachbegriff dazu: Kontingenzbewältigung.

Das Fünkchen Plausibilität

Dazu kommt, dass Verschwörungsideologien ihre Plausibilität aus dem Umstand saugen, dass wir etwas nicht wissen. Wissenschaftlich lässt sich eben nie exakt beweisen, dass etwas nicht existiert. Lamprecht verdeutlicht (war da ein Schmunzeln um seine Mundwinkel?): „Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis, dass es keine weißen geflügelten Einhörner gibt. Vielleicht sind die Tiere nur sehr selten und zudem unheimlich scheu und geschickt in der Tarnung. Genauso kann man niemals beweisen, dass eine Verschwörung nicht existiert. Man könnte sie höchstens aufdecken, wenn sie existiert.“

Da ist es also, das Fünkchen Plausibilität in einer vielleicht komplett abstrusen Idee – unverzichtbar als Hefe für einen Verschwörungsmythos, der mal groß werden soll. Nun könnte man sagen: Lass sie doch reden, die Verschwörungsideologen. Geht nicht, „denn Verschwörungsmythen erzeugen Opfer, auch ganz real“, warnt Lamprecht und verweist auf den norwegischen Massenmörder Anders Breivik und auf die Attentäter von Christchurch und Halle „die vollgepumpt waren mit Verschwörungsideologie.“

Außerdem verhindere Verschwörungsglaube angemessenes Verhalten und zerstöre Vertrauen. Was also tun? Andreas Hahn bietet eine Checkliste an und rät unter anderem zum hartnäckigen Logiktest, um Widersprüche, Ungereimtheiten und manipulierte Informationen aufzudecken. Auch die Informationsquellen sollten überprüft werden. Und dann bringt er eine uralte journalistische Frage ins Spiel, die hochaktuell ist und sicher bleibt: „Cui bono – wem nutzt diese Verschwörungsideologie, wem die angebliche Aufdeckung? Und will man mit denen in einem Boot sitzen?“

Dieter Sell (epd)

Literaturhinweise

Die „EZW-Texte“ bieten ausführliche Informationen zu ausgewählten Themen aus allen Arbeitsbereichen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen.

Unsichere Zeiten, gesellschaftliche und politische Umbruchsituationen sind immer auch die Stunde der Verschwörungstheoretiker
(„Konspirologen“) und der Weltuntergangspropheten. Die Erkenntnisse, aus denen sie ihre speziellen wie auch eigenwilligen Gegenwartsanalysen
beziehen, entstammen unterschiedlichen Quellen. EZW-Text 177 „Traue niemandem! Verschwörungstheorien, Geheimwissen, Neomythen“ (2004) bietet eine Zusammenschau von historischen, psychologischen, religionswissenschaftlichen und theologischen Perspektiven zum Thema.

Vor allem die Bücher und Filme „Sakrileg“ (The Da Vinci Code“) und „Illuminati“ („Angels and Demons“) haben Dan Brown auch hierzulande einem breiten Publikum bekannt gemacht. Nicht wenige seiner Fans halten die darin ausgebreiteten Verschwörungstheorien für eine spannend aufbereitete Darstellung historischer Fakten. EZW-Text 207 „Der Dan-Brown-Code. Von Illuminaten, Freimaurern und inszenierten Verschwörungen“ (2010) möchte deshalb Hintergrundinformationen sowie Verständnis- und Unterscheidungshilfen an die Hand geben. Der erste Beitrag befasst sich mit grundlegenden soziologischen Reflexionen zu Verschwörungstheorien. Anschließend werden die einzelnen Thriller „Illuminati“, „Sakrileg“ und „Das verlorene Symbol“ in der Reihenfolge ihres Erscheinungsjahres unter die Lupe genommen. Im Zentrum stehen dabei historische Informationen zu den Illuminaten, theologische Perspektiven zur Brown’schen Gralslegende sowie Hintergrundinformationen zur Symbolwelt und Ritualistik der Freimaurerei.