Sich neu erfinden

Die Digitalisierung stellt Kirche und Diakonie vor eine anspruchsvolle Aufgabe

Die Digitalisierung verändert das Leben – und bringt Chancen und Herausforderungen für Gesellschaft und Kirche. Eine Tagung der Evangelischen Akademie Loccum befasst sich theoretisch und praktisch damit. Aber auch der soziale Dienst der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Diakonie, bemerkt die Auswirkungen. Denn die Digitalisierung verändert auch das Sozial- und Gesundheitswesen. Darüber sprechen Diakonie-Präsident Ulrich Lilie, Markus Horneber von Agaplesion und Peter Dabrock vom Deutschen Ethikrat.

Computer, Hände auf Tastatur, Symbolbild

Sie erhielten 2017 den Preis „Vordenker des Jahres“, Herr Horneber. Wofür wurden Sie aus­gezeichnet?

Markus Horneber: Zum einen ging es um die wirtschaftliche Entwicklung von Agaplesion. Wir sind mittlerweile das größte diakonische Unternehmen in Deutschland mit 1,3 Milliarden Euro Umsatz. Zum anderen wurde unser soziales Engagement geehrt. Und der dritte Punkt sind unsere Innovationen, insbesondere zur Digitalisierung, die bei uns seit drei Jahren eine ganz große Rolle spielt.

Was machen Sie konkret?

Horneber: Als Basis wollen wir die Daten, die im Konzern vorliegen, in digitaler Form abbilden. Wir können mittels sogenannter Big Data intelligente Schlüsse für die Behandlung von Patienten, aber auch für Abrechnungsdinge ermitteln. Mit unseren 224 Krankenhäusern sind wir zur Hälfte durch. Damit haben wir überhaupt erst mal die Grundlage geschaffen, über Digitalisierung zu reden. Zweiter Punkt ist die Digitalisierung der Prozesse, das heißt: Wir wollen die Abläufe im Krankenhaus miteinander vernetzen. Es gibt täglich Abweichungen von Planungen, zum Beispiel bei Operationen. Und diese Störungen führen dann zum Griff zum Telefonhörer oder zum Gespräch. Viele Prozesse könnte man aber elektronisch rückkoppeln, etwa dass bei Verzögerungen im OP der Transport des nächsten Patienten ein bisschen später ausgelöst wird. Ein weiteres schlichtes Beispiel: Wir identifizieren in einem Krankenhaus mit einem digitalen System die schmutzigen Betten. Die Reinigungskräfte sehen auf ihren Handys, wenn ein Bett wirklich frei ist. Wir sparen damit 26 Prozent der Zeit.

Herr Lilie, Agaplesion ist ein Vorreiter der Digitalisierung. In welchen anderen Bereichen der Diakonie ist Digitalisierung jetzt schon Realität?

Ulrich Lilie: Big Data ist ein Transformationsthema in allen Lebensbereichen. So wird die Digitalisierung die ambulante Pflege völlig verändern, man kann mit den Leuten, die „on the road“ sind, in Echtzeit kommunizieren und Touren besser organisieren. Big Data heißt: Wir wissen viel mehr und können das Wissen auch ganz anders auswerten. Ich bin da nicht zuerst Bedenkenträger. Vieles ist segensreich und bietet Chancen. Gleichzeitig stellt aber die Digitalisierung viele unserer Arbeitsbereiche vor die Frage, wer zukünftig davon wirklich profitiert. Wir müssen jetzt darüber diskutieren, wie sich unsere Arbeitswelt verändern wird.

Herr Professor Dabrock, mit Big Data in Medizin und Pflege hat sich vor kurzem der Deutsche Ethikrat beschäftigt, dessen Vorsitzender Sie sind. Wie sehen Sie die Prozesse, die sich gerade im Gesundheits- und Sozialwesen entwickeln?

Peter Dabrock: Big Data ist ein Transformationsgeschehen, das uns nicht so zurücklässt, wie wir hinein­gegangen sind. Wenn man solche Prozesse gesamtgesellschaftlich und global betrachtet, muss man Chancen und Risiken, die in der Technologie schlummern, identifizieren. Da tun sich häufig Möglichkeiten auf, die wir vor zehn Jahren so noch gar nicht gesehen haben, etwa für eine sogenannte Präzisions- oder personalisierte Medizin. Angesichts der Überfülle an Daten stellt sich aber die Frage des Datenschutzes und vor allem der Datensouveränität: Wie kann der Patient der Herr seiner Daten bleiben und die Weitergabe beeinflussen? Wer wird Erstnutzer oder gar Eigentümer der Daten? Wird die Forschung ihre Ergebnisse als Open Data zur Verfügung stellen oder nicht? Und was wir beim Thema Big Data und Gesundheit sehen, ist paradigmatisch für viele andere Bereiche der Gesellschaft: Hier wächst zusammen, was bisher nicht zusammengehörte – und was unter bestimmten Bedingungen vielleicht auch nicht zusammengehören sollte. Denn jedes Datum erzeugt, wenn es mit anderen kombiniert werden kann, eine neue Relevanz.

Lilie: So, wie aus dem Manchester­kapitalismus die soziale Marktwirtschaft geworden ist, müssen wir bei Big Data lernen, diese Prozesse auch unter den Aspekten Teilhabegerechtigkeit, soziale Kontrolle, Demokratisierung und individuelle Freiheitsrechte zu gestalten. Es gibt ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung, es gibt aber auch ein Recht auf freie wissenschaftliche Forschung. Das darf nicht in Händen von fünf Internetkonzernen liegen.

Horneber: Wir müssen nicht nur das Recht auf Wissen, sondern auch auf Nichtwissen diskutieren. Da treten weitreichende Fragen auf. In der Pathologie ist heute schon Genomentschlüsselung aktuell. Wir wollen das zum Standard machen, um Krebs individualisierter behandeln zu können. Wenn wir Teile des Genoms kennen, kann man mit Wahrscheinlichkeiten bestimmte Dispositionen von Erkrankungen voraussagen – nicht nur für den Patienten, sondern die ganze Familie, die Geschwister, die Kinder, die Eltern. Und da stellt sich genau die Frage: Was sagen die Ärzte? Gehen sie nur gezielt auf die Fragestellungen ein, die es zu diagnostizieren gibt, oder sagen sie auch noch mehr?

Lilie: Ich lebe auf einmal mit völlig neuen Herausforderungen, wenn ich weiß, dass zum Beispiel mein Risiko einer koronaren Herzerkrankung bei 80 Prozent liegt oder es eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine neurologische Erkrankung gibt. Dieses Wissen ist jetzt Bestand meiner Biografie. Ich muss bewältigen, was vorher Zufälligkeit des Lebens war. Will man das wissen? Soll man das wissen müssen?

Dabrock: Ich glaube, wir müssen tatsächlich neu lernen, Risiken einzuschätzen. Vor fünf Jahren hat der Ethikrat eine Stellungnahme zur Zukunft der genetischen Diagnostik abgegeben, in der wir auch auf diese Fragen eingegangen sind: das Recht auf Wissen, das Recht auf Nichtwissen, die Verantwortung gegenüber Angehörigen.

Herr Horneber, wir müssen auch über Geld reden. Digitalisierung ermöglicht Ihnen einerseits, beim Personal mehr Zeit für die Patienten freizuschlagen. Aber die großen Investitionen müssen sich auch wirtschaftlich rechnen und zwingen Sie, Rationalisierungspotenziale zu nutzen. Wie gehen Sie damit um?

Horneber: Für Investition in Digitalisierung braucht man erstmal sehr viel Geld, allein für Rechnerkapazität, für Softwareanwendungen und natürlich für Menschen, die die Daten ständig aktuell halten. Wir können nicht warten, bis der Gesundheits­gesetzgeber Geld zur Verfügung stellt. Also müssen wir Mittel gene­rieren. Den Gewinn, der in unseren diakonischen Einrichtungen erzielt wird, stecken wir zum großen Teil in In­vestitionen, um die Qualität weiter zu erhöhen. Einerseits führt die Digitalisierung zu einer besseren Kommunikation untereinander – wenn nämlich eine elektronische Patientenakte in Echtzeit aktuell gehalten wird. Und zum anderen bleibt mehr Zeit für die originären Tätigkeiten als Pflegekraft, als Arzt, als Seelsorger oder auch als Verwaltungsmensch.

In vielen anderen Branchen hat ja die Digitalisierung zu völlig neuen beherrschenden Marktteilnehmern und Geschäftsmodellen geführt wie Uber oder Airbnb. Wer sind in der Sozialwirtschaft in Zukunft die Amazons – und wer die Quelles und Neckermanns?

Dabrock: Bevor die Deutsche Krankenhausgesellschaft oder der Gesundheitsgesetzgeber Standards setzt, kann ich mir vorstellen, dass die großen Internetkonzerne, die da eine Riesenpower haben, das tun.

Lilie: Wir erleben derzeit, dass an ganz vielen Stellen Transformationsprozesse entwickelt werden – nicht in einem Ministerium oder in einem Verband, sondern in ganz kleinen, ziemlich hochkarätig besetzten Ingenieurbüros mit medizintechnischen Thinktanks, sehr fokussiert und mit viel Kapital ausgestattet. Da entwickelt sich ein Innovationsschub. Wir müssen alle sehr aufmerksam sein, wie wir den in unsere mittelfristig und langfristig angelegten Prozesse integrieren. Es braucht eine vernetzte Form der Reaktion – das ist nichts, was wir als Bundesverband oder was ein Träger allein hinkriegt. Dieses Jahrtausend wird das Jahrtausend der Kooperation sein. Wer das nicht verstanden hat, wird nicht stattfinden. Wir müssen lernen, Netzwerkorganisationen zu werden.

Dabrock: In die Medizin werden wegen der benötigten immensen Speicherkapazität und der dahinter nötigen unglaublich aufwendigen Infrastruktur die schon existierenden Internetkonzerne massiv reingehen. Das kennen wir aus Amerika. In der Onkologie fallen beispielsweise solch immense Datenmengen an, dass selbst Rieseninstitutionen wie zum Beispiel das Deutsche Krebsforschungszentrum diese auf Dauer nicht mehr verarbeiten können. Und in der Sozialwirtschaft haben die diakonischen Unternehmen und Verbände noch mal eine ganz ande­re, zusätzliche Verantwortung. Sie müssen weiter deutlich machen, dass die Entwicklung der Technologien immer unter der Prämisse vorangetrieben wird, dass der Mensch in den Mittelpunkt gestellt wird. Das ist das Profil, das sie ausmacht – das darf bei Kooperationen nicht untergehen.

Horneber: Wir müssen mit unserem heutigen Verständnis von Gesundheitswirtschaft und Sozialwirtschaft ein Stück weit aufräumen. Was Herr Lilie als Vernetzung bezeichnet, nenne ich Plattformen. Amazon zum Beispiel hat am Firmensitz in Seattle angefangen, ambulante Pflege zu machen – die kommen vom Plattformgedanken jetzt rein in die Wertschöpfung und fangen an, uns anzugreifen in unserer Kernkompetenz. In der Gesundheits- und Sozialwirtschaft wird die ganz spannende Frage sein, wer eigentlich die Klienten, die Patienten, die Kunden steuert. Ist das noch der niedergelassene Arzt? Ist das der Sozialdienst? Ich habe noch keine Antwort darauf, was da unsere Rolle ist. Sind wir als Krankenhaus dann der Provider, der bloß den Operationssaal vorhält? Ich fürchte, gerade im ambulanten Bereich müssen wir gucken, ob wir nicht die „Neckermanns“ werden und Amazon unsere Geschäfte übernimmt. Das fürchte ich viel eher, als dass es um komplexe onkologische Behandlungen und multimorbide Ältere oder polytraumatisierte Patienten geht.

Lilie: Diesen Streit müssen wir füh­ren. Es kann nicht sein, dass einige wenige im Besitz der Plattformen und der dahinter stehenden enormen Informationsfülle sind. Sondern wir müssen darüber reden, wie wir das demokratisieren: teilhabeorientiert, mit allgemeiner Zugänglichkeit und eben auch mit einer demokratischen Steuerung von Macht und Wissen. Die Debatte fängt ja so langsam an: Wo zahlt Google eigentlich seine Steuern? Wir müssen aufmerksam sein, dass da keine Monopol- oder Oligopolstrukturen entstehen, die sich in einem sehr modernen Gewand zu Machtballungszentren entwickeln, die kein Mensch will.

Dabrock: Es spricht viel dafür, dass wir knapp vor dem „point of no return“ sind, denn die Datensamm­lungen in den jeweiligen Kontexten dieser Unternehmen sind schon immens. Man muss sich jetzt nur noch vorstellen, Apple würde von einem der drei anderen aufgekauft. Was würde in der Weltwirtschaft für eine Schieflage entstehen, da läuft es einem kalt den Rücken runter.

Horneber: Wir bezahlen die Internetkonzerne mit unseren Daten und haben einen Riesenkomfort. Also kann ja eine Gegenstrategie nur sein, unseren Zielgruppen ebenfalls große Bequemlichkeit anzubieten – und das bei hoher Transparenz. Übrigens ist etwas anderes auch ganz wichtig: die Regulierung.

Wie kann denn verhindert werden, dass die zurzeit noch kleinteilige, föderale, teils standesrechtlich orientierte Regulierung in der Sozialwirtschaft und Medizin nicht komplett überrollt wird?

Horneber: Ich fürchte, sie wird überrollt werden. Unser Gesundheitssystem ist reformunfähig. Das ist eine Klientelpolitik von kassenärztlichen Vereinigungen, von Krankenhausverbänden und Krankenkassen. Das ist noch komplexer als das Steuersystem, da kommt keiner mehr durch.

Lilie: Aber mit welchen Strategien reagieren wir darauf? Wenn die politische Steuerungsmacht in fal­sche Hände käme – das würde ganz furchtbar. Das andere ist: Was machen wir selber? Entwickeln wir selber Plattformen? Da bin ich eher skeptisch. Der Zug ist abgefahren, dafür sind die anderen sehr gut und sehr, sehr weit. Ich habe bei einer Reise in San Francisco und im Silicon Valley viele junge Teams getroffen mit einer enormen Dynamik und einer methodischen Stringenz. Ihr Motto heißt „hack your brain“, also raus aus den alten Mustern, die „grüne Wiese“ denken. In dieser Denke sich neu erfinden, das ist die eigentliche Herausforderung: Wie kann man das, was wir tun, unter Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten zum Wohle der Menschen besser und dabei kosteneffizienter machen? Und zwar mit unseren Werten. Wir denken noch sehr viel auf den alten Schienen und in Verlängerung unserer Geschäftsmodelle. Wir müssen lernen, ein bisschen destruktiver zu denken und zu sagen: Wie können wir uns und unsere Dienstleistungen neu erfinden? Wie werden wir kleinteiliger, kooperativer? Wie nutzen wir die Potenziale von Zivilgesellschaften? Wir müssen in der Diakonie Orte entwickeln, wo wir uns diesen Fragen wirklich stellen und sie strategisch angehen. Die Politik alleine wird’s nicht richten.

Kann das denn in den bestehen­­den diakonischen Strukturen passieren? Sie sind komplex, sie sind föderal und fachlich strukturiert. Und das Bereitstellen von Venture-Kapital ist ungefähr das Gegenteil von kirchlich-diakonischer Haushaltsführung.

Lilie: Da stehen wir vor den gleichen Herausforderungen wie die großen deutschen Konzerne. Wir müssen unsere Organisations-, Denk- und Steuerungsprozesse dahingehend ändern, dass das, was an rapider Veränderung kommt, Teil unserer Weiterentwicklung wird. Da stehen wir noch am Anfang, und es wird eine konzertierte Anstrengung erfordern.

Dabrock: In einer christlich geprägten Sozialwirtschaft müsste dabei von besonderer Bedeutung sein, die gesamte Truppe mitzunehmen – und den Mitarbeitenden nicht das Gefühl zu vermitteln: Wir machen hier Arbeit 4.0, und ihr seid nur dazu da, dass rationalisiert wird.

Horneber: Genau das tun wir bei Agaplesion. Wir nehmen die Belegschaften in über 30 Projekten mit. Das geht bis zu den Reinigungskräften, die ihr Handy haben und die Betten disponieren können. Es sind alle Berufsgruppen und Hierarchieebenen dabei, und im Großen und Ganzen haben die Mitarbeitenden verstanden, dass sie keine Angst um ihre Arbeitsplätze haben müssen. Bei der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation sind wir ja heilfroh, überhaupt Mitarbeitende zu bekommen. Wir können aber nur dann unsere diakonischen Dienstleistungen erweitern und vergrößern, wenn wir durch die Digitalisierung Zeit gewinnen, um mehr Patienten zu behandeln. Dazu sollen unsere Leute ihr Know-how besser nutzen und wir wollen ihnen unnütze Arbeit abnehmen, die anders besser erledigt werden kann – und das ist beim Chefarzt genauso wichtig wie bei der Pflegehilfskraft.

Lilie: Wir diskutieren das unter der Überschrift New Work, Arbeit 4.0. Wir müssen lernen, dass lebenslanges Lernen ein Teil einer erfolgreichen Berufsbiografie wird, noch mal ganz anders als bisher. Wir müssen als Verband, als diakonischer Dienstgeber, diesem Bereich der kontinuierlichen Fortbildung einen ganz anderen Stellenwert geben, damit die Leute weiter mithalten können und wir die, die wir auch morgen noch brauchen, an uns binden.

Herr Dabrock, kann der ethische Umgang mit dem Thema Digitalisierung letztlich auch ein geldwerter Marktvorteil sein? Dass etwa die Diakonie sagt: Wir sind die, die diesen Weg gesellschaftlich verantwortungsvoller gehen als andere?

Dabrock: Ich würde das anders­herum sehen: Es kommt darauf an, sich neu zu erfinden. Und das Sich-neu-​Erfinden sollte mit Transparenz, Partizipation und Werten einhergehen und den Menschen dienlich sein. Wenn die Diakonie sich an die eigene Aufgabe erinnert, die alten Quellen im Blick behält und zugleich sensibel für die Herausforderungen der Gegenwart ist, dann bin ich sehr optimistisch, dass dies dann auch einen wirtschaftlichen Effekt hat. Und mit Verlaub: Das ist doch nicht schlimm!

Horneber: Das würde ich hundertprozentig unterstützen.

Bei den großen gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Digitalisierung wird es eine Reihe von Verlierern geben, so wie es sie vor hundert Jahren im Zuge der Industrialisierung gegeben hat. Wie muss sich Diakonie aufstellen, um für diese Leute da zu sein?

Horneber: Ob es langfristig wirklich Digitalisierungsverlierer gibt – da würde ich ein kleines Fragezeichen setzen. Es mag im Moment Menschen geben, die nicht digitalisierungsbegeistert sind. Sie werden sicher die nächsten Jahre gut bewäl­tigen, wenn sie trotzdem motiviert sind, und auch ohne Riesendigitali­sierungswissen eine gute Arbeit machen. Aber es wächst ja niemand mehr auf ohne Smartphone. Diese jungen Menschen würden ja bei uns gar nicht arbeiten wollen, wenn wir die Kurve nicht bekommen.

Dabrock: Den viel zitierten „Digital Gap“ sehe ich jetzt nicht als das Problem, weil der Trend dahin geht, dass bald wirklich jeder mehr oder weniger Erfahrung in der digitalen Welt hat. Es geht jetzt darum, dass es bei der Transformation in die digitale Gesellschaft zu möglichst geringen Verwerfungen kommt. Digitalisierung bedeutet ganz häufig Verdichtung und mehr Flexibilität. Und hier kommt dem Faktor Bildung eine enorme Rolle zu. Es wäre Quatsch zu behaupten, dass jeder programmieren können muss. Es muss ja auch nicht jeder in der Lage sein, ein Auto zu reparieren, um Auto fahren zu können. Es kommt darauf an, mit den unterschiedlichen Medien kritisch umgehen zu können. Natürlich besteht erst einmal ein Risiko darin, dass es zu einer noch stärkeren Spreizung der Sozialstruktur der Gesellschaft kommen kann. Andreas Reckwitz schreibt in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“, dass ungefähr ein Drittel der Menschen das Gefühl hat, sie kämen nicht mit und würden abgehängt. Das kann demokratiegefährdend sein.

Lilie: Zugleich vertritt Reckwitz die These, dass ein anderes Drittel der Leute bestimmt, was angesagt ist. Das sind gerade die „digitalen Eliten“, die globalisiert leben, die „wissen, wie es geht“ und auch die Werte von Leben prägen. Wichtig ist, dass diese beiden Drittel im Gespräch miteinander bleiben – nicht nur digital, sondern auch „face to face“ in den Quartieren. Darum fordert die neue Markenkampagne der Diakonie: „Zuhören.“ Das kann man nicht digital ersetzen.

Dabrock: Wenn ich das als Außen­beobachter an die Diakonie zurück­geben kann: Ich glaube, dass Organisationen wie die Diakonie eine ganz große Aufgabe haben. Sie haben im Vergleich zu vielen anderen Organi­sationen a priori eine lokale, eine regionale und personennahe Orien­tierung. Und sie haben trotzdem eine Infrastruktur bis in die Berliner Netzwerke der Bundespolitik hinein. Insofern kommt Organisationen wie der Diakonie eine gesamtgesellschaftlich große Aufgabe zu. Sie müssen erst einmal nüchtern die Entwicklung sehen und trotzdem mit  dem intellektuellen bis monetären Kapital, das vorhanden ist, erste Schritte nach vorne machen, um den sozialen Zusammenhalt unter Transformationsbedingungen aufrecht zu erhalten.

Gesprächs-Moderation: Dr. Thomas Schiller


Ulrich Lilie ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland und stellvertretender Vorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung e.V. Er studierte Theologie, wurde 1989 ordiniert und arbeitete unter anderem als Krankenhausseelsorger und Gemeindepfarrer.

Peter Dabrock ist Professor für systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er wurde 2012 in den Deutschen Ethikrat berufen und 2016 zu dessen Vorsitzenden gewählt.

Markus Horneber ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender von Agaplesion. Zuvor war er kaufmännischer Geschäftsführer der Klinikum Chemnitz gGmbH und Aufsichtsratsvorsitzender von zehn Tochtergesellschaften des Unternehmens.

Der Text erschien ürsprünglich im Jahresbericht der Diakonie Deutschland 2017 „Hinsehen und Zuhören", S. 8ff. Den gesamten Bericht gibt es auch zum Download.