Predigt bei der Gebetswoche zur Einheit der Christen im Münchner Dom

EKD-Ratsvorsitzender Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Schwestern und Brüder,

dass wir heute hier im Münchner Dom wieder gemeinsam die Gebetswoche zur Einheit der Christen feiern dürfen, ist mir eine große Freude. Und im Jahr 2018 ist es mir eine besondere Freude. Denn die Dankbarkeit ist so groß. Die Zuversicht ist so groß. Das Vertrauen in die Kraft des Gebets ist so groß. Wir haben in diesem zurückliegenden Jahr gespürt, wie groß die Kraft des Gebets ist.

Ich möchte, so habe ich vor genau vier Jahren in meiner Predigt zur Eröffnung der Gebetswoche 2014 gesagt, ich möchte, dass das Fest aus Anlass von 500 Jahren Reformation kein Jahr der protestantischen Selbstbeweihräucherung wird und auch kein Jahr lutherischen Heldengedenkens. Ich möchte, dass es ein großes Christusfest wird. Dass es zu einer in ökumenischem Geiste geöffneten Quelle neuer Begeisterung für die wunderbare Botschaft des Evangeliums wird.

Viele Menschen – das weiß ich – haben dafür gebetet. Viele, die heute hier sind. Auch ich selbst. Und – liebe Schwestern und Brüder – unser Gebet ist erhört worden. Wir haben die einheitsstiftende Kraft des Gebets erfahren. In vielen Gottesdiensten im Reformationsjubiläums- und gedenkjahr, die wir gemeinsam gefeiert haben, haben wir als katholische, orthodoxe, evangelische, anglikanische, als landeskirchliche und freikirchliche Christen gespürt, dass Gottes Geist in uns wirkt, dass Christus mitten unter uns ist, wo wir in seinem Namen versammelt sind, und dass die Kraft, die von ihm ausgeht, stärker ist als das, was zwischen uns steht, vielfach ja aus ehrlicher Überzeugung zwischen uns steht. Aber wir haben das in Gottes Hand gelegt. Wir haben zu Gott gebetet, dass er uns zusammenführen möge.

Ja, es gibt nach wie vor Grenzen zwischen den Konfessionen. Aber an einem Tag wie diesem, an dem so viele Menschen ganz unterschiedlicher Konfessionen hier im Münchner Dom zusammengekommen sind, spüren wir, dass diese Grenzen ihre Macht immer mehr verlieren. Dass wir dieses große Wort von den Schwestern und Brüdern nicht nur im Munde führen, sondern dass wir tatsächlich Schwestern und Brüder werden. Ich verstehe jetzt, was Frère Roger, der Gründer von Taizé mir vor vielen Jahren gesagt hat. Als junger Student habe ich einmal eine Woche der Stille dort verbracht. In den Gottesdiensten habe ich mit vielen anderen meist jungen Leuten die wunderbaren Taizé-Lieder gesungen. In einem dieser Gottesdienste wurde eine Botschaft von Papst Johannes Paul II. verlesen, in der er zur Ökumene ermutigte. Ich spürte, wie sich in mir Widerspruch rührte. Warum, so gingen meine Gedanken, fordert der Papst uns jetzt vor allem zum Beten auf? Warum räumt er nicht einfach die Hindernisse zur Einheit der Kirchen aus dem Weg?  Er hat doch die Macht dazu! Und ich beschloss, diese Gedanken nicht für mich zu behalten. Am Ende des Gottesdienstes stellte ich mich in die Schlange derer, die Frère Roger noch persönliche Anliegen sagen wollten. Als ich dran war und mein Unbehagen zum Ausdruck brachte, sagte Frère Roger: „Die Einheit wird nur durch das Gebet kommen.“ Vielleicht merkte er, dass ich nicht zufrieden war. Jedenfalls lud er mich spontan ein, nach dem Gottesdienst mit den Brüdern von Taizé zu Abend zu essen. Es wurde kein Wort gesprochen, wir hörten bei Essen klassische Musik. Frère Roger bediente jeden einzelnen. Und wir beteten gemeinsam.

Ich habe immer wieder an diese Erfahrung gedacht. Und jetzt weiß ich, dass Frère Roger Recht gehabt hat.

Wenn wir beten, hören wir. Wenn wir beten, erneuern wir uns. Wenn wir beten, spüren wir die Kraft Gottes. Wenn wir beten, tritt die rechte Lehre in den Hintergrund. Die Lehre wird nicht belanglos, denn wir können ja auch in die Irre beten. Aber sie tritt in den Hintergrund. Wenn es anders wäre, hätten wir ja das Entscheidende nicht verstanden. Wenn die rechte Lehre beim Gebet im Vordergrund stünde, würden wir ja im Gespräch mit Gott nicht auf ihn und seine Stimme hören, sondern Gott selbst zu belehren versuchen. Das Gebet ist das direkte Gespräch mit Gott. Es hat die natürliche Tendenz, die Lehren, die wir Menschen uns zurechtlegen, zu verunsichern, aufzubrechen, neu auf Gott auszurichten.

Echtes Gebet ist das Gegenteil eines konfessionellen Kampfbetens, das die je eigenen Glaubensüberzeugungen im Gebet einfach nur zu bestätigen suchen würde. Das Gebet ist immer ein Sich-Öffnen für die Stimme Gottes. Nicht, was wir wollen, sondern was Gott will, ist, wonach wir im Gebet suchen: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“

Deswegen bin ich so dankbar dafür, dass es die weltweite Gebetswoche zur Einheit der Christen gibt. Das gemeinsame Gebet hat uns zusammenwachsen lassen. Und es wird uns weiter zusammenführen – davon bin ich überzeugt.

Wieviel trauen wir Gott zu? Das ist die Frage, um die es beim Gebet geht. Trauen wir ihm zu, dass er wirklich etwas bewegen kann, wenn wir beten? Oder ist das Gebet nur eine Form des Selbstgesprächs? Hat Gott Macht, etwas zu wenden, wenn wir zu ihm beten?

Die Worte aus dem 2. Buch Mose, die wir eben als alttestamentliche Lesung gehört haben, bejahen diese Frage auf ziemlich drastische Weise. Es ist eine ausgeprägte Kriegsrhetorik, mit der die Macht Gottes gepriesen wird:

„Der Herr ist ein Krieger, Jahwe ist sein Name. Pharaos Wagen und seine Streitmacht warf er ins Meer. Seine besten Kämpfer versanken im Schilfmeer. Fluten deckten sie zu, sie sanken in die Tiefe wie Steine. Deine Rechte, Herr, ist herrlich an Stärke; deine Rechte, Herr, zerschmettert den Feind. In deiner erhabenen Größe wirfst du die Gegner zu Boden.“

Und dann wird berichtet, wie die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, die Pauke in die Hand nimmt und alle Frauen mit Paukenschlag und Tanz hinter ihr herziehen. Mirjam singt ihnen vor: „Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Rosse und Wagen warf er ins Meer.“

„Deine Rechte, Herr, ist herrlich an Stärke“ – dieser Satz steht über unserer diesjährigen Gebetswoche zur Einheit der Christen. Der Kontext für diesen Satz ist entscheidend, um ihn zu verstehen. Man muss sich nur mal einen Boxfan vorstellen, der sie begeistert gegenüber seinem Boxidol ausruft: Deine Rechte ist herrlich an Stärke! Dann versteht man, wie wichtig der Kontext dieses Satzes ist. Der rechte Haken beim Boxen ist nicht gemeint! Diese Worte kommen auch nicht aus dem Munde der Vertreter einer Militärmacht, die ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen versucht. Sondern sie kommen aus dem Munde einer Gruppe entlaufener Sklaven, die Gott dafür loben, dass er sie aus Unrecht und Unterdrückung errettet hat. Die Israeliten fliehen aus der Knechtschaft in Ägypten und entkommen der Militärmacht des Pharao, weil Gott auf ihrer Seite ist. „Singt dem Herrn ein Lied“, singt Miriam, eine einfache hebräische Frau, „denn er ist hoch und erhaben! Rosse und Wagen warf er ins Meer.“

Den Text für die diesjährige Gebetswoche haben eben nicht Strategen in den Machtzentralen in Washington, Moskau oder Peking ausgesucht, sondern Christen aus der Karibik, die ihre Situation in die Befreiungsgeschichte des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten einzeichnen. Die Kolonialherren, die die einheimische Bevölkerung in der Karibik versklavten, brachten auch die Bibel und das Evangelium von Jesus Christus. Im Glauben an den menschgewordenen Gottessohn und im Lesen der Befreiungsgeschichten in der Bibel erfuhren die versklavten und unterdrückten Menschen dieser Region dann auf wunderbare Weise Gottes befreiende Macht.

„Deine Rechte, Herr, ist herrlich an Stärke“. Gott ist auf der Seite der Schwachen, der Leidenden, der Verzweifelten. Und Gott zeigt seine Stärke, indem er aus dieser Verzweiflung herausführt. Indem er befreit aus der Lähmung durch Unrecht, durch Ohnmachtsgefühle, durch plötzlich überhandnehmendes Leid.

Immer wieder haben Menschen solche Befreiung ganz persönlich als Wunder erfahren. Deswegen gibt es eine nur auf den ersten Blick verborgene Verbindung zwischen dem Loblied über die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten und der Wundergeschichte aus dem Markusevangelium, die wir als Evangelium gehört haben. Nicht Unterdrückung durch rücksichtslose menschliche Machthaber ist das Thema dieser Geschichte, sondern menschliches Leid durch Krankheit und Tod. Ein Mann ist verzweifelt, weil seine Tochter stirbt. Jeder kann sich vorstellen, dass es wahrscheinlich kaum etwas Schlimmeres gibt als diese Erfahrung, sein eigenes Kind sterben zu sehen. Nicht sagen zu können: Gott, nimm mich, aber lass meine Tochter leben! Sondern einfach ohnmächtig dem Tod ausgeliefert zu sein.

Wenn wir heute diese Geschichte hören, dann ist vielleicht das Wichtigste, dass wir die Diskretion ernst nehmen, mit der Jesus diese wunderbare Heilung behandelt. Er schickt alle weg, bevor er dann mit den Eltern zu dem Mädchen geht. Und als das Mädchen lebt, schärft er den Leuten ein, nichts zu erzählen. Als Wunderheiler will sich Jesus ganz bestimmt nicht profilieren!

Was treibt Jesus dann an, so zu handeln? Es ist nichts anderes als seine Liebe. Seine radikale Liebe. Die Verzweiflung des Vaters, der seine Tochter sterben sieht, berührt ihn. Und er handelt.

Wir wissen nicht, wie wir uns vorzustellen haben, was damals passiert ist. Wir wissen nicht, wie es im Lichte unseres naturwissenschaftlichen Weltbilds von heute zu verstehen ist. Die Botschaft der Geschichte, die können wir aber heute genauso verstehen wie die Menschen damals: Die Liebe Gottes ist mächtiger als die Grenze, die der Tod aufrichten will.

Das ist der Schlüssel. Die Liebe schafft Leben. Weil Gott die Liebe ist, können wir ihn loben und sagen: Deine Rechte, Herr, ist herrlich an Stärke. Weil Gott die Liebe in unsere Herzen ausgießt, deswegen setzen wir uns ein für die Welt.  Wir feiern diesen Gottesdienst zusammen mit der eritreisch-orthodoxen Gemeinde hier in München. In den vergangenen Jahren ist diese Gemeinde enorm gewachsen, weil vor allem junge Männer aus Eritrea geflohen sind, um dem grausamen Militärdienst und der Gefahr, zu verhungern, zu entgehen. Auf ihrer Flucht haben sie Schlimmes erlebt: Manche werden versklavt, andere zur Prostitution gezwungen, manche werden Opfer von Organhändlern. Solche Schicksale stehen hinter den Zahlen, die heute in den politischen Debatten um die Flüchtlingsfrage kontrovers diskutiert werden. Wenn wir als Kirche die Liebe ausstrahlen wollen, von der wir sprechen, dann können und wollen wir nicht zu diesen Schicksalen schweigen. Sondern das Unrecht, das sie in die Flucht getrieben hat, deutlich beim Namen nennen und das Unsere tun, um den jungen Menschen hier zu helfen und ihnen eine sichere Zuflucht zu geben.

Darin, dass wir als Kirche zu einer heilenden Gemeinschaft der Liebe werden, darin können wir zum Sakrament für eine Welt werden, die sich so sehr nach Heilung sehnt. Aber wir können es nur, wenn wir selbst eins werden. Wenn wir selbst ernst nehmen, dass es die radikale Liebe Jesu Christi ist, die Leben schafft und dass wir berufen sind, ihre Zeugen zu sein. Wir werden der Einheit in versöhnter Verschiedenheit immer näherkommen, wenn wir verstehen, dass nicht die Liebe der Lehre, sondern dass die Lehre der Liebe zu folgen hat.

Weil das Gebet einer der kraftvollsten Orte ist, an denen wir diese Liebe erfahren, deswegen ist das Gebet auch eine der kraftvollsten Quellen der Hoffnung auf die Einheit der Christen. Lasst uns die Herzen weit öffnen für die Erfahrung der Liebe Gottes. Lasst uns die Arme weit öffnen füreinander. Dann wird der Heilige Geist sein Werk der Einheit tun!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

(Es gilt das gesprochene Wort)