Rede beim Johannisempfang der Evangelischen Kirche in Deutschland am 22. Juni 2017 in Berlin

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Meine Damen und Herren,

es ist schon fast eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet die Botschaft einer Kirche des Wortes vor allem durch Bilder eingeprägt hat, noch dazu welche, deren historischer Hintergrund strittig ist. Martin Luther, wie er mit einem großen, mächtigen Hammer seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlägt. Martin Luther, wie er aufrecht vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag zu Worms das „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ spricht. Aber auch der Erfolg einer kleinen Lutherfigur aus Plastik ist ein Beispiel dafür, inzwischen mit 1.000.000 Exemplaren die meistproduzierte Playmobil-Figur aller Zeiten.

Ein Hype um seine Person hätte Martin Luther vermutlich gar nicht gefallen. Im Hinblick auf die Wirkmächtigkeit der Bilder hätte er uns aber zu großer Gelassenheit geraten. Für Luther war klar: Natürlich können auch Bilder das Wort Gottes verbreiten. Bilder zu zerstören, war für ihn der falsche Weg. Der richtige Weg war, Schulen einrichten, damit die Menschen die Bilder auch verstehen konnten.

So wird auch jede und jeder von uns eigene, persönliche Bilder vor Augen haben, wenn wir die Augen schließen und zu Beginn der zweiten Halbzeit des Reformationsjubiläumsjahres das Revue passieren lassen, was wir, was Sie vielleicht selbst miterlebt haben. Die Bilder vom Healing-of-Memories-Gottesdienst in der Hildesheimer St. Michaelskirche, in dem wir uns als Kirchen verpflichtet haben, die Barrieren zwischen den Konfessionen weiter abzubauen, vom Kirchentag in Berlin, bei dem über Hunderttausend Menschen friedlich gefeiert und diskutiert haben, und von der Nacht der Lichter und dem Abschlussgottesdienst auf den Elbwiesen in Wittenberg, von dem gerade auch viele junge Menschen mit viel Kraft wieder nach Hause aufgebrochen sind.

Daneben schieben sich in diesem Jahr freilich auch andere Bilder in den Vordergrund. Bilder von Anschlägen auf unschuldige Menschen bei uns und weltweit graben sich in die Seele ein. Mit Schrecken sehen wir, wie die orientalischen Kirchen, an den Ursprungsorten des Christentums, Gewalt und Verfolgung und – man muss es befürchten – bald der vollständigen Vertreibung oder Ausrottung ausgesetzt sind.

Umso mehr hat mein Herz bewegt, was der koptische Bischof Damian in seiner Osterbotschaft gesagt hat: „Wir müssen Hass und Terror mit festem Glauben, Liebe und Hoffnung begegnen. … Wir sind zutiefst bestürzt und erschüttert, aber nicht hoffnungslos!" Und Bischof Damian spricht von der Botschaft, die von Jesus am Kreuz ausgeht: „In seiner scheinbaren Schwäche hat er uns Kraft gegeben. Durch seinen Tod hat er den Tod besiegt und uns die Erlösung und das ewige Leben geschenkt.“

Es sind Bilder der Hoffnung, die wir den Bildern des Schreckens entgegenzusetzen haben. Bilder des Friedens und der Versöhnung, allen voran die Botschaft von der Auferstehung, die den Tod besiegt hat. Luther hat so schön gesagt: Man muss die Auferstehung „mit dem Gehör sehen“.

Als Christen ist unser Blick geleitet durch das, was der Apostel Paulus mit drei Worten zum Ausdruck gebracht hat, die seither wie kaum etwas anderes für das Christentum stehen: Glaube, Hoffnung, Liebe. Sie sollen uns heute in unserem Nachdenken leiten. Begleiten Sie mich deswegen jetzt auf einen Weg durch diese drei: Glaube, Hoffnung, Liebe.

Glaube

„Der Mensch ist gerechtfertigt nicht aus Werken, sondern allein aus Gnade“. Vielleicht ist es heute schwer vorstellbar, dass man mit diesem für unsere heutigen Ohren eher fremd klingenden Satz die ganze Welt bewegen kann. Aber es war so. Die dahinterstehende Erkenntnis des Paulus, die Martin Luther ja nur neu entdeckt hat, machte Schluss mit einem falschen Verständnis des christlichen Glaubens als religiösem Hochleistungssport. Luther hob das System frommer Leistungen und einer darauf basierenden sakramentalen Heilsvermittlung aus den Angeln. Statt frommer Übungen und Geldzahlungen – so schärfte er uns ein - sollen wir unser Vertrauen ganz auf Christus setzen. Auf dem Weg durch Kreuz und Auferstehung hat Christus allen, die sich an ihn hängen, den Weg zum Himmel geöffnet. In einem Brief schrieb Luther plastisch:

„Ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi….
Dann spricht er zum Vater:
Dieses Anhängsel muss auch durch.
Es hat zwar nichts gehalten
und alle deine Gebote übertreten.
Vater, aber er hängt sich an mich.
Was will's! Ich starb für ihn.
Lass ihn durchschlüpfen.“

„Laß ihn durchschlüpfen…“ – dieser Satz ist sicher eine ungewöhnliche Form, zu sagen, was das Wort „Gnade“ bedeutet. Aber er bringt etwas zum Ausdruck, was in seiner Bedeutung nicht nur für unseren christlichen Glauben, sondern für unser Gemeinwesen insgesamt nach wie vor von zentraler, ja von revolutionärer Bedeutung ist. Denn er bedeutet ja die radikale Unterscheidung der Person von ihren Taten, die letztlich dem zugrunde liegt, was wir „Menschenwürde“ nennen. Die Liebe Gottes zum Menschen ist stärker als das Handeln entgegen den guten Geboten Gottes, mit dem der Mensch sich selbst von Gott trennt. In den Augen Gottes ist jeder Mensch so kostbar, dass Gott selbst diese Trennung überwindet und in Beziehung zum Menschen bleibt. Das nennen wir die “Gnade Gottes“, zu der wir im Glauben an Christus Zugang gewinnen.

Was Luther mit dichten theologischen Gedanken zum Ausdruck bringt, erschließt sich – etwa im Bedeutungsgehalt des Begriffs der Menschenwürde - in seinen Konsequenzen auch religionsunabhängigem aufklärerischem Denken. Angesichts der anhaltenden Faszination menschenverachtender Ideologien, von zunehmendem Fundamentalismus in den Religionen wissen wir uns den Errungenschaften der Aufklärung verpflichtet und wissen uns darin auch mit all denjenigen verbunden, die jenseits christlicher Glaubensüberzeugungen für die Werte des Menschlichen einstehen. Es wäre aber gerade falsch, aus dem heutigen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus die Konsequenz zu ziehen, die christlichen Glaubenssymbole heute, wo immer möglich, aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Wir würden uns damit der Erinnerungszeichen berauben, die wir brauchen, um die Rede von der „Menschenwürde“ nicht zu einer in feierlichen Reden benutzten Routinephrase verkommen zu lassen, sondern immer wieder neu mit Leben zu füllen.

Deswegen sage ich angesichts der aktuellen Diskussion: Es besteht kein Grund, auf der Kuppel des nun wiedererrichteten Berliner Stadtschlosses auf das Kreuz zu verzichten. Wer das Kreuz noch immer als Symbol des Bündnisses von Thron und Altar wahrnimmt, ist im 19. Jahrhundert stehen geblieben.

Ich selbst bin in einer Zeit religiös sozialisiert worden, in der die Gewaltgeschichte des Christentums zu fast jeder Gelegenheit thematisiert und aufgearbeitet worden ist. Die kritische Auseinandersetzung damit ist in meine religiöse DNA eingegangen und für mich zum selbstverständlichen Teil eines kritisch reflektierten christlichen Glaubens geworden. Und dafür bin ich dankbar.

Für viele, die einen ähnlichen Weg gegangen sind, ist gerade das Kreuz Ausdruck von Gottes Parteinahme für die Armen und Marginalisierten geworden. Der menschgewordene Gott stirbt als Folteropfer am Kreuz – mit einem Schrei der Gottverlassenheit. D a s ist das Kreuz Jesu Christi! Ja, es ist anstößig. Es hält einer Gesellschaft den Spiegel vor, die viel zu oft an den Leidenden vorbeisieht, die Jesus als die Geringsten seiner Brüder bezeichnet hat. Aber genau so drückt es das „allein aus Gnade“ heute aus. Und genau so kann dieser Glaube auch der Öffentlichkeit weit über die Kirchengrenzen hinaus zentrale Impulse geben. Ich wünsche mir, dass diese längst vorgenommene Neubestimmung des Kreuzes als christlichem Symbol endlich wahrgenommen wird – auch von den Kritikern des Christentums. Soviel update in der Wahrnehmung des Christentums darf man erwarten!

Hoffnung

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“. Dieser Hoffnungssatz ist Martin Luther vermutlich erst später in den Mund gelegt worden. Aber er drückt bestens aus, warum die Wiederentdeckung des Glaubens in der Reformation auch eine Wiederentdeckung der christlichen Hoffnung war.  Die Reformatoren haben die Welt neu entdeckt als einen Ort, an dem Gott am Werke ist. Und wo Gott am Werke ist, da ist Hoffnung. Anders kann es gar nicht sein. Heute ist dieses Hoffen an vielen Orten der Welt ein Hoffen gegen den Augenschein.

Und manchmal sind es die Hoffnungen der anderen, die uns überhaupt erst klarmachen, wieviel uns selbst geschenkt wird. Europa, der Kontinent, in dem wir leben dürfen, ist ein Hoffnungsort. So viele, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um aus Krieg und Hunger hierher zu fliehen, erinnern uns jeden Tag daran.

Hoffnung darf sich nicht auf den Augenschein gründen. wird da besonders relevant, wo Rückschläge zu verzeichnen sind. Für den weltweiten Klimaschutz ist die Ankündigung der US-Administration, das Paris-Abkommen zu kündigen, ein solcher Rückschlag. Aber vielleicht kann daraus ein umso entschiedeneres Handeln der weltweiten Staatengemeinschaft erwachsen. Es kommt in diesen Tagen vor dem Hamburger G20-Gipfel darauf an, alles daran zu setzen, um den Klimaschutz oben auf der Agenda der internationalen Staatengemeinschaft zu halten. Wir brauchen gerade jetzt mutige Schritte. Ich möchte heute Abend all jenen, die sich darum bemühen, unseren vollen Rückenwind zusagen.

Das umso mehr, da mit diesem zunächst ökologischen Thema zugleich ein massives Gerechtigkeitsthema verbunden ist, mit dem wir als Kirchen in unseren weltweiten ökumenischen Netzwerken jeden Tag konfrontiert sind. Wenn wir den Menschen in unseren Partnerkirchen, etwa in Afrika, begegnen, sprechen wir sie an als „Schwestern und Brüder“. Genau diese Schwestern und Brüder sind es, die schon jetzt die massiven Folgen des Klimawandels spüren, zu dem sie selbst am allerwenigsten und wir am allermeisten beigetragen haben. Wie könnten wir ihnen in die Augen schauen, wenn wir es als Kirchen versäumen würden, hier in aller Deutlichkeit für Klimaschutzmaßnahmen einzutreten, die dieser massiven Ungerechtigkeit etwas entgegensetzen?

Auch das weltweite Engagement für den Klimaschutz als Zeugnis tatkräftiger christlicher Hoffnung ist ein Feld, auf dem wir als Kirchen unterschiedlicher Konfessionen dann besonders stark sind, wenn wir in ökumenischer Gemeinsamkeit handeln. Die Enzyklika Laudato Si von Papst Franziskus ebenso wie das Schöpfungsengagement des orthodoxen ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I., den wir gerade hier in Deutschland empfangen durften, haben es eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: Wir ziehen als christliche Konfessionen an einem Strang.

Dass wir das Reformationsjubiläum gemeinsam als ein „Christusfest“ feiern, hat sich als große Quelle der Hoffnung auf neue Schritte zur Einheit der Kirchen erwiesen. Wir wissen, dass wir noch lange nicht am Ende des Weges sind. Gemeinsam am Tisch unseres Herrn feiern zu können, ist eine Hoffnung und eine Sehnsucht, die nie versiegen wird, bis eines Tages Jesu Gebet erhört ist, dass sie „alle eins seien“ (Joh 17,21). 

Liebe

Die Reformatoren – und das trennt uns als christliche Konfessionen nicht, sondern es verbindet uns - haben Christus neu entdeckt als die personifizierte Liebe Gottes. Sie haben die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen untrennbar verschmolzen. Deshalb kann Luther sagen: Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen“.[1] Und in einem Gutachten für die politische Neuaufstellung der Armenfürsorge sagt er: „Es gibt keinen christlichen Gottesdienst als die christliche Liebe, die den Bedürftigen hilft und ihnen dient.“[2]

Den lebendigen Kommentar dazu haben wir in unserem Land jeden Tag vielfach vor Augen.

Die Liebe drückt sich aus im Einsatz von Millionen Ehrenamtlichen, die in unseren Gemeinden – aber auch in Vereinen und Initiativen – aktiv sind. Was in der Aufnahme von Flüchtlingen, in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, in der Pflege Kranker, in der Begleitung alter Menschen, in der Nachbarschaftspflege, im Trost für Trauernde und Verzweifelte getan wird, das ist das kraftvollste Zeugnis der Liebe, das sich denken lässt. Und darin sind wir – auf eine Weise, die unser Verstehen übersteigt – verbunden mit allen, die so handeln, seien sie Christen, Angehörige einer anderen Religion oder auch keiner Religionsgemeinschaft. 

Die Liebe in die Welt hinauszutragen, sind wir gerufen. Sie ist eine radikale Liebe – und das ist die einzige Weise, in der wir Christinnen und Christen „radikal“ sein wollen – eine radikale Liebe, weil sie sich nach dem Vorbild Jesu ganz hingibt an die Menschen. Jede und jeder kann versuchen, diesen Weg der Hingabe zu gehen: an ihrem und an seinem Ort, in der Funktion, die wir haben, mit den Gaben, die Gott uns geschenkt hat.

Vielleicht findet es ja auch jenseits der Grenzen des christlichen Glaubens Zustimmung, wenn Paulus im 1. Korintherbrief sagt (V13): „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Ich jedenfalls finde, dass er Recht hat.

Und vielleicht können auch die, die Scheu haben zu beten, jedenfalls singen. Beides ist näher beieinander als wir denken mögen. Martin Luther hat einmal gesagt: Wer singt betet, doppelt. Das lasst uns jetzt tun!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

[1] Von der Freiheit eines Christenmenschen,

[2] Ordnung eines gemeinen Kasten, 1523, WA 12, 13,26f