Kirche sein in einer globalisierten Welt

Zur Weggemeinschaft in Mission und Entwicklung. EKD-Text 125, Hrg. EKD, Oktober 2015, ISBN: 978-3-87843-040-7

1 Herausforderungen

Gegenwärtig erleben alle Beteiligten der weltweiten Zusammenarbeit von Mission und Entwicklung, wie sich vertraute Landschaften dramatisch verändern:

Der Klimawandel und die drohende Überschreitung der planetarischen Grenzen[1] stellen eine weltweite Herausforderung dar, der nur durch gemeinsames Handeln der internationalen Staatengemeinschaft begegnet werden kann. Angesichts der weiter wachsenden Weltbevölkerung wird die Begrenztheit der Ressourcen zu einer Schlüsselfrage.

  • Weltweit sind Menschen durch Krieg, Bürgerkrieg, Vertreibung und Verfolgung auf der Flucht. Viele andere versuchen, durch Migration bessere Lebensperspektiven zu erlangen. In einem engen Zusammenhang mit der Migration steht die Ausbeutung durch Menschenhandel, insbesondere durch Zwangsarbeit, Sklaverei, Einsatz von Kindersoldaten und sexuelle Ausbeutung.
  • Die heftigen wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre haben die Macht und die Verwundbarkeit der Finanzmärkte vor Augen geführt. Nur selten gelingt es in diesem Bereich, kontrollierende und demokratisierende Maßnahmen politisch nachhaltig umzusetzen.
  • Mit der weltweiten Ausbreitung westlich geprägter kultureller Standards gehen Vereinheitlichungsprozesse einher, die einerseits neue Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen, andererseits aber auch regionale Besonderheiten bedrohen. An vielen Orten regen sich deshalb Widerstände gegen Überfremdungsprozesse.
  • In diesen Auseinandersetzungen spielen auch Religionen eine wichtige Rolle: Sie begegnen entweder als Identität stiftende Größen, oder - etwa in militant-fundamentalistischen Weltsichten - als zentrales politisches Kampffeld gegen auswärtige Dominanz. Die Frage nach der Friedensfähigkeit der Religionen gewinnt dadurch einen zentralen Rang.[2]

Die oben geschilderten Entwicklungen haben auch die Gestalt der weltweiten Christenheit stark verändert:

  • Aufgrund von Migration, missionarischen Bewegungen und weiteren Prozessen der Inkulturation des Glaubens gibt es heute kaum ein Land, in dem nicht kleinere oder größere christliche Gemeinschaften und Kirchen bestehen. Besonders in den letzten 100 Jahren sind unterschiedliche Ausdrucksformen, »Dialekte« des christlichen Glaubens entstanden.
  • Eng damit zusammen hängt das Phänomen der »Verlagerung des Gravitationszentrums der Weltchristenheit aus dem Norden in den Süden«[3]: Die »Landschaft« der Weltchristenheit zeigt heute weniger die Züge historisch-protestantischer Kirchen- und Theologieprofile des Globalen Nordens. Rasch wachsende Kirchen pfingstlich-charismatischer Prägung aus anderen Weltregionen bringen neue Themen auf die Tagesordnung.[4] Die traditionell wichtigen Bemühungen um Überwindung der konfessionellen und ekklesiologischen Differenzen verlieren - weltweit betrachtet - an Bedeutung. Neue Brücken oder Gräben entstehen heute eher entlang der Grenzen von Kultur und durch die divergierenden Formen christlicher Lebenspraxis.[5]
  • Die Einsicht, dass traditions- und einflussreiche Kirchen in Europa und Deutschland nicht länger Zentren, sondern Provinzen der Weltchristenheit darstellen, gilt es ebenso nüchtern anzunehmen wie den Umstand, dass die hiesigen, durch Säkularisierung und Transformation volkskirchlicher Strukturen bestimmten, kirchlich-gesellschaftlichen Konstellationen weltweit eher die Ausnahme als die Regel sind. Erstarkte Partner aus dem Süden hinterfragen nicht allein die kirchlichen Verflechtungen in Strukturen weltweiter wirtschaftlicher Macht, sondern auch die in den hiesigen Kirchen gefundenen Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen unserer Zeit. So ist zu klären, worin heute die für alle Partner relevanten Beiträge (west)europäischer Kirchen zu ökumenischen Diskursen bestehen.

Die beschriebenen Prozesse verändern nicht allein die Gestalt der Kirchen, sondern auch die Rahmenbedingungen für die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit:

  • Ein Beispiel für die vielfältigen Veränderungen[6] ist die Weitung des Spektrums der Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit. »Neue Gestaltungsmächte« wie die BRICS-Staaten[7] haben die internationale Bühne und damit auch den Gebermarkt betreten. In der Entwicklungszusammenarbeit legen diese Staaten eigene Maßstäbe an.[8]
  • Parallel dazu begegnen zunehmend Player aus dem privatwirtschaftlichen Sektor mit ihren an Effizienz und raschem Ertrag orientierten Maßstäben als Geber im Kontext staatlicher Entwicklungszusammenarbeit. Für die Akteure der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit bergen diese Diversifizierungsprozesse erhebliche Risiken, weil die für sie besonders wichtigen Partner aus dem Bereich von Zivilgesellschaft und NGOs durch diese Entwicklungen an Bedeutung zu verlieren drohen. Damit ist die »Option für die Armen«, ein Kernziel bisheriger kirchlich verorteter Entwicklungszusammenarbeit, gefährdet: Unter den neuen Voraussetzzungen ist es nämlich nur noch erschwert möglich, mit der Armutsbekämpfung für die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen einzutreten und größere Möglichkeiten der Teilhabe für arme und marginalisierte Bevölkerungsgruppen zu schaffen.
  • Ein weiteres Problem entsteht, wenn Entwicklungszusammenarbeit generell infrage gestellt wird. Angesichts der großen Schwierigkeiten, international zu überzeugenden und verbindlichen Absprachen über die Millennium Development Goals (MDG) zu kommen, wurden in einigen Ländern Europas Stimmen laut, die für einen Rückzug aus der Entwicklungszusammenarbeit plädierten.
  • Kritische Stimmen gegenüber der bestehenden Entwicklungszusammenarbeit sind auch in manchen Empfängerländern zu vernehmen. Sie beklagen, dass diese noch immer von paternalistischen Mustern geprägt sei, dass es keine Kooperation auf Augenhöhe gebe und dass die Förderung teils fehlgeleitet sei. Dadurch würden zum Beispiel auch korrupte Systeme unterstützt.
  • Gleichzeitig entstehen - nicht nur im Globalen Süden - neue Leitbilder für ein nachhaltiges Zusammenleben in der Einen Welt. Sie sind beispielsweise verbunden mit Begriffen wie dem »Common Good« oder dem »Buen Vivir«[9]. Oft stellen sie »westlich« bestimmte, lineare und auf Wachstum basierende Fortschrittsmodelle infrage.

In Deutschland wird angesichts der prognostizierten Entwicklung von Kirchensteuern und Kollekten nach der Grenze der Vielfalt und nach überflüssigen oder gar kontraproduktiven Parallelstrukturen gefragt. Für die deutschen Akteure von Mission und Entwicklung ist die Auseinandersetzung mit diesen Fragen Teil eines fortdauernden Abstimmungsprozesses.

Nehmen wir die Möglichkeiten in den Blick, die sich im kirchlichen Kontext Deutschlands bieten, so gilt es, vorhandene Chancen zu nutzen und im Sinne ökumenischer Weltverantwortung zu handeln:

  • In Deutschland erinnern noch heute viele Menschen an die beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erhaltene Hilfe. Sie wissen deshalb, dass ihr Wohlstand mit der Verpflichtung zum weltweiten Teilen einhergeht. Die Kirchen im geteilten Deutschland haben zwischen 1949 und 1989 gelernt, dass das Eintreten für eine gerechte Entwicklung eng mit dem Streben nach Freiheit und Frieden, dem Engagement für Menschenrechte und der Achtung vor der Schöpfung verbunden sein muss.
  • Ökumenische Weltverantwortung gehörte bereits zum Selbstverständnis der Kirchen in beiden deutschen Staaten und ist für die Kirchen bis heute von hoher Bedeutung, wie etwa am Engagement vieler Gemeinden in der Eine-Welt-Arbeit für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung und in der ökumenischen Partnerschaftsarbeit deutlich wird. Von staatlicher Seite werden den kirchlichen Werken in Deutschland erhebliche Finanzmittel zur Verfügung gestellt, denn die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit erfreut sich der Wertschätzung durch die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft.

Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass die Themen der Entwicklungsarbeit heute von den Kirchen in neuer Intensität in den politischen Diskurs eingetragen werden müssen. Die Stärkung der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit durch die Bildung des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung erfolgte 2012 durch die Fusion von Diakonie Deutschland und Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst, deren Dienststellen aus Stuttgart, Bonn und Berlin-Dahlem in Berlin zusammengeführt wurden. Dieses »neue Werk« tritt gemeinsam mit den landeskirchlichen Missionswerken und den Partnern in anderen Weltregionen durch abgestimmte Vorhaben für umfassende Entwicklung ein. Auch in Zukunft ist die an gemeinsamen Leitvorstellungen und Standards orientierte Bewusstseinsbildung eine zentrale Aufgabe der Akteure in Mission und Entwicklungszusammenarbeit.

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