„Krieg in den Köpfen“ trotz Friedensschluss

Ein Gespräch mit dem Historiker Eckart Conze zum Vertrag von Versailles

Heute vor 100 Jahren wurde der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet. Der Marburger Historiker Eckart Conze bewertet den Vertrag ambivalent: Die Erfahrung von Hass und Gewalt aus dem Krieg habe in den Friedensschluss hineingewirkt und die Absicht kompromittiert, eine friedliche Ordnung zu schaffen, sagte er im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal von Versailles, Gemälde von William Orpen um 1925

Am 28. Juni 2019 sollte durch den ersten der Pariser Vorortverträge der Erste Weltkrieg völkerrechtlich abgeschlossen werden. Das Gemälde „The Signing of Peace“ von William Orpen (um 1925) zeigt die Unterzeichnung durch die deutschen Vertreter Außenminister Hermann Müller und Verkehrsminister Johannes Bell  im Spiegelsaal von Versailles.

Viele Experten halten den Versailler Vertrag grundsätzlich für misslungen und sehen in ihm wegen seiner territorialen Folgen den Hauptgrund für weitere Kriege. Was sagen Sie?

Eckart Conze: Als der Versailler Vertrag und die anderen Pariser Vorortverträge 1919/20 abgeschlossen wurde, war der Krieg in den Köpfen noch nicht beendet. Die Erfahrung von Hass und Gewalt, von Leiden und Sterben aus den Kriegsjahren wirkte in den Friedensschluss hinein und kompromittierte die Absicht von Siegern und Verlierern, eine friedliche internationale Ordnung zu schaffen. Später gab es durchaus konstruktive Entwicklungen, aber Versailles konnte politisch weiter instrumentalisiert werden.

Den Demokratiefeinden und rechtsgerichteten Kräften in der Weimarer Republik bot der Vertrag willkommene Munition zur Agitation. Doch waren die innerdeutschen Folgen, vor allem für die Wirtschaft, wirklich so gravierend, wie das von den rechten Parteien behauptet wurde?

Conze: Ja, das waren sie. Aber der Vertrag enthielt auch Möglichkeiten zu einer Anpassung der Friedensbedingungen. Eine konkrete Reparationssumme wurde 1919 nicht festgelegt; die Reparationsfrage konnte flexibel gehandhabt werden. Zuerst der Dawes-Plan von 1924, dann der Young-Plan von 1929 passten die Reparationen der deutschen Zahlungsfähigkeit an.

Was seitens der Sieger durchaus so geplant war.

Conze: Ja. Das stand schon im Artikel 232 des Versailler Vertrags, der freilich wegen des Kriegsschuldvorwurfs im Artikel 231 von den Gegnern von Republik und Demokratie nie richtig zur Kenntnis genommen wurde. 1932 wurden die Reparationszahlungen eingestellt.

Für die Weimarer Republik kam das aber zu spät.

Conze: Das stimmt. Sie konnte davon nicht mehr profitieren. Sie befand sich längst in ihrer Agonie. Deutlich wird vor diesem Hintergrund, dass es den rechten Republik- und Demokratiegegnern nie um den Versailler Vertrag als solchen ging, sondern stets darum, durch die Kritik am Versailler Vertrag Republik, Demokratie und die sie tragenden Kräfte anzugreifen. Zum Vorwurf des Dolchstoßes gesellte sich der Vorwurf der „Friedensschuld“. Beides sollte Republik und Demokratie, Republikaner und Demokraten diskreditieren.

Wie bewerten Sie die massiven Gebietsveränderungen in Europa – auch infolge der weiteren Verträge zum Ende des Ersten Weltkriegs, der sogenannten Pariser Vorortverträge?

Conze: Was die territorialen Veränderungen durch die Verträge betrifft, so standen sie zwar im Zeichen des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Aber gerade in Ostmittel- und Südosteuropa war es nicht möglich, ethnisch reine Nationalstaaten anstelle der untergegangenen multinationalen Imperien zu schaffen. Es entstanden Vielvölkerstaaten, die von Anfang an von ethnischen, kulturellen und religiösen Spannungen zerrissen waren und deren Minderheitenprobleme kontinuierlich Anlass boten zu innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Gewalt, zu Kriegen und Bürgerkriegen.


Literatur:
Eckart Conze: Die große Illusion – Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, Siedler-Verlag 2018. 30 Euro

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