Menschenrechtsverletzungen auch mitten in Europa

Rückschlag für die Menschenrechte weltweit – Interview mit EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber

Die EU-Staaten setzen die Menschenrechte nach Ansicht der EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber nicht ausreichend um. Im Gespräch erklärt sie, welcher Ort in Europa für sie ein „Symbol des totalen Elends und der Schande“ ist und was ihr in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fehlt.

Griechisch-mazedonischer Grenzzaun im Flüchtlingslager Idomeni (Foto vom 08.04.2015)

„Schon in der Schöpfungsgeschichte wird unterstrichen: Jeder Mensch hat eine Würde und die hat er von Gott bekommen“, sagt EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber. Dies hieße aber nicht, dass Menschen in ihrer Würde nicht verletzt werden können. (Symbolbild)

Frau Bosse-Huber, ist die Achtung von Menschenrechten im 21. Jahrhundert nicht selbstverständlich?

Petra Bosse-Huber: Nein, auch wenn sie das 70 Jahre nach der Allgemeinen Menschenrechtserklärung eigentlich sein sollte, ist sie das bis heute nicht. Die Dokumentationen von „Amnesty International“, „Human Rights Watch“ oder den Vereinten Nationen zeichnen ein ganz anderes Bild, nämlich das einer dramatischen Situation, auf die wir genau schauen müssen. Menschenrechtsverletzungen, also Verletzungen der Freiheit, Gleichheit und Würde, gibt es an unzähligen Orten. Ich denke jetzt nur an die vielen Kriege und die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Jemen, in Syrien, Afghanistan, Somalia, Libyen und Algerien – diese Reihe ließe sich unendlich fortsetzen. Zusätzlich führen Krieg und Gewalt auch immer wieder zu weiteren Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel, wenn Krankenhäuser oder Schulen zerbombt werden und Menschen vor gewaltsamen Konflikten fliehen müssen. Auch staatenlose Menschen haben keine Chance mehr, ihre Rechte einzuklagen und können zu hilflosen Opfern von Menschenrechtsverletzungen werden.

Was mir im Moment sehr nahe geht, ist die Situation in Belarus, wo massenhaft willkürliche Verhaftungen von Menschen stattfinden, die nichts anderes tun, als für friedliche, faire und freie Wahlen zu protestieren. Dazu fand am 13. Dezember ein Solidaritätsgottesdienst im Berliner Dom mit vielen prominenten Namen aus der internationalen ökumenischen Szene statt. Analog zu Belarus müssen auch wir in Deutschland darauf achten, dass die Pressefreiheit gewährt bleibt, denn auch hier werden Journalist*innen zunehmend unter Druck gesetzt und sogar angegriffen. Zusätzlich sind wir hierzulande überhaupt nicht weit weg von Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Das alles zeigt, dass wir uns in Deutschland und weltweit dafür einsetzen müssen, dass die Menschenwürde geschützt wird. Menschenrechte sind unteilbar und gelten für alle.

Wie begründet die EKD, dass niemand seiner Menschenrechte beraubt werden darf?

Bosse-Huber: Wir haben mit der Bibel eine wunderbare Quelle, die uns schon auf ihren ersten Seiten damit vertraut macht, dass alle Menschen als Gottes Ebenbilder geschaffen wurden. Damit sind sie von Anfang an mit einer unverbrüchlichen Würde ausgestattet – das heißt aber nicht, dass Menschen in ihrer Würde nicht verletzt werden können, das erleben wir ja überall. Aber schon in der Schöpfungsgeschichte wird unterstrichen: Jeder Mensch hat eine Würde und die hat er von Gott bekommen. Es gibt auch andere biblische Texte, zum Beispiel Psalm 8, wo es heißt, der Mensch ist nur wenig geringer geachtet als Gott und hat Anteil an seiner Heiligkeit. Man kann auch mit dem Doppelgebot der Liebe argumentieren, was besagt, dass du deinen Nächsten wie dich selbst lieben sollst. Das heißt für mich im Umkehrschluss: Wer einen Menschen demütigt oder ausbeutet, der demütigt und beutet auch Christus selbst aus. Für Christen sind solche Bibelstellen Kerntexte und insofern ist die Diskussion um Würde und Menschenrechte eine genuine Diskussion um den Kern unseres christlichen Verständnisses.

„Wer einen Menschen demütigt oder ausbeutet, der demütigt und beutet auch Christus selbst aus.“

EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber
Petra Bosse-Huber EKD-Auslandsbischöfin

Wie setzt sich die EKD für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein?

Bosse-Huber: Wir versuchen auf allen Kanälen und mit allen Möglichkeiten, die wir haben, auf die konkreten Situationen aufmerksam zu machen – in Interviews, Veröffentlichungen und durch Aufklärung. Zu unserer Arbeit gehört zum Beispiel die Initiative #freiundgleich, die zum 70-jährigen Jubiläum der Menschenrechtserklärung gegründet wurde und Bildungsmaterialen anbietet. Wir machen auch in Gottesdiensten auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam – nicht nur am vergangenen Sonntag für Belarus, sondern immer wieder. Eine wunderbare Möglichkeit ist zum Beispiel auch die „International Summer School of Human Rights“, die wir gemeinsam mit der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) organisieren – also auch bewusst im internationalen Kontext. Wir arbeiten auch ganz eng mit unseren Partnerkirchen auf der ganzen Welt zusammen und unterstützen sie bei ihrem Einsatz für die Menschenrechte. „Brot für die Welt“, Diakonie Katastrophenhilfe, all die kirchlichen Hilfsorganisationen der evangelischen Kirche, sind Kämpfer an vorderster Front für die Menschenrechte. Und wir als EKD setzen uns mit stiller Diplomatie ein – also durch Gespräche mit politischen Vertreter*innen und manchmal auch mit sichtbaren symbolischen Aktionen wie dem „Orange Day“ im November. Da wurde auch das Kirchenamt der EKD in Hannover in orangefarbenes Licht getaucht, um auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen.

In Flüchtlingslagern wie Moria auf der griechischen Insel Lesbos leben Tausende Geflüchtete unter prekären Bedingungen. Inwiefern sind solche Lager menschenrechtskonform?

Bosse-Huber: Menschenrechte gelten auch für Geflüchtete und Opfer von Kriegen, Verfolgung und Gewalt. Moria 1, das abgebrannte Lager, ist ein Ort und ein Symbol des totalen Elends und der Schande für Europa, weil es uns nicht gelungen ist, den Menschen, die schon unendlich schwere Erfahrungen und Traumatisierungen hinter sich haben, eine neue Heimat zu geben. Nach dem schrecklichen Lagerbrand im September gab es zwar das große Versprechen, Moria neu aufzubauen und besser auszustatten, das ist aber nie geschehen – ganz im Gegenteil: Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal und die Lebensmittelversorgung ist schlecht. Es gibt zwar formal das Recht auf faire Asylverfahren und den Zugang zu Rechtsberatung, aber nichts davon wird den Menschen in Moria gewährt. Die Bedingungen entsprechen auch in dem zweiten Lager in keiner Weise dem, was Menschen auf der Flucht an Rechten zusteht. Ich finde das bitter, weil es nicht irgendwo in einem rechtlosen Raum passiert, sondern mitten in Europa, wo es klare Regeln und Rechte gibt. Moria ist aber wie ein komplett rechtloser Raum – und die Verantwortung dafür tragen wir Europäer.

Was fordern Sie, um den Menschen in Moria zu helfen?

Bosse-Huber: Die Kirchen insgesamt – nicht nur die evangelische, sondern auch die katholische Kirche – haben das Flüchtlingsthema schon seit Jahrzehnten als eines der wichtigsten Themen zivilgesellschaftlich nach vorne getrieben. Wir können auch jetzt nur wiederholen, was wir immer sagen: Wir brauchen Rechte für Geflüchtete und Schutz für alle unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die auf der Flucht sind. Wir appellieren auch immer wieder an die Bundesregierung, das Angebot der vielen Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen wollen, zu nutzen. Es ist unfassbar, dass es all diese Bürgermeister*innen, all diese Kommunen gibt, und die Aufnahme immer wieder daran scheitert, dass Deutschland an dieser Stelle nicht in Vorlage gehen will.

Auch der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlage vieler Menschen. Schätzungen gehen davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten zwischen 150 Millionen und einer Milliarde Menschen aufgrund von Naturkatastrophen gezwungen sein könnten, zu fliehen. Was muss präventiv getan werden?

Bosse-Huber: Zuallererst müssen wir den Klimaschutz massiv ausbauen, durchsetzen und einhalten. Wir erleben, dass dieses dringliche Thema momentan kaum auf der politischen Agenda ist, weil die Corona-Pandemie alle anderen Themen verdrängt. Aber die Zeit lässt sich später nicht zurückdrehen: Dieser November war der heißeste November seit Beginn der Temperaturaufzeichnung. Das ist ein dramatisches Signal und deshalb gilt es, die Menschen, die besonders vom Klimawandel betroffen sind, zu unterstützen. Bisher ist die Not, die durch den Klimawandel entsteht, allerdings kein anerkannter Fluchtgrund und deshalb ist es umso wichtiger, die Rechte der Betroffenen zu verteidigen. Es gibt so viele Menschen, die durch Überschwemmungen und Dürren alles verloren haben, weil sie keine Möglichkeit mehr hatten, ihre Existenz zu sichern und nicht anders konnten, als zu fliehen. Die Menschen verlassen ihre Heimat nicht, weil sie wollen, sondern weil sie müssen. Das ist auch in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit ein Dauerthema: „Brot für die Welt“ versucht zum Beispiel in vielen Projekten, Menschen direkt vor Ort zu unterstützen und hilft, auf die veränderten Klimabedingungen zu reagieren. Denn wenn die Temperaturen steigen und das Wasser weniger wird, braucht es dort zum Beispiel auch andere Formen der Landwirtschaft.

Wie beeinflusst die Corona-Pandemie die Situation der Menschenrechte weltweit?

Bosse-Huber: Wir wissen aus den Berichten unserer Partnerkirchen, von internationalen Organisationen und dem Weltkirchenrat (ÖRK), dass Corona weltweit immer wieder als Deckmäntelchen genutzt wird, um Menschenrechtsverletzungen unsichtbar zu machen. Es werden angebliche Corona-Schutzgesetze implementiert und benutzt, um sowieso schon diskriminierte Gruppen zu inhaftieren oder öffentliche Demonstrationen zu verhindern. Das gibt es in mehreren afrikanischen und asiatischen Staaten. Was wir zum Beispiel in der westlichen Welt erleben – auch von US-Präsident Donald Trump – ist, dass bis heute vom „China-Virus“ gesprochen wird, um bestimmte Völker, Minderheiten oder wie in diesem Fall ein riesiges Weltreich zu diskriminieren, indem man es für das Corona-Virus verantwortlich macht.

Zusätzlich sind durch die Corona-Pandemie Millionen Menschen benachteiligt, weil sie in Regionen leben, in denen große Armut herrscht und der Zugang zu grundlegender Versorgung von Wasser, Nahrung und Medizin nicht gegeben ist. Ich denke da an Menschen, die in Slums am Rand von Mega-Städten wie Kairo leben. Wie soll man da Abstand halten? Wie kann man Menschen, die überhaupt keinen Zugang zu Wasser haben, sagen, sie sollen sich regelmäßig die Hände waschen? Das ist zynisch. Auch arbeiten 90 Prozent der Weltbevölkerung im informellen Sektor – als Wanderarbeiter*innen, Tagelöhner*innen oder Straßenhändler*innen. Nach abrupten Lockdowns standen sie plötzlich ohne Einkommen da und haben sich oft zu Fuß aus den Großstädten in ihre Heimatdörfer aufgemacht. Viele von ihnen haben das nicht überlebt, sie sind verhungert oder unterwegs gestorben.

Aber auch hier in Deutschland sind Menschen durch die Corona-Pandemie besonders gefährdet – zum Beispiel Geflüchtete in Sammelunterkünften oder Wohnungslose. Was ist, wenn die Einrichtung, in der man normalerweise duscht, geschlossen ist? Genau deshalb fordert die Diakonie Deutschland jetzt in den Wintermonaten mehr Übernachtungsräume zu schaffen, damit diese Menschen der Ansteckung nicht noch stärker ausgesetzt sind, als sie es sowieso schon sind. Als Kirche muss uns der Schutz dieser Menschen unglaublich wichtig sein.

Die Allgemeine Menschenrechtserklärung wurde am 10. Dezember 1948 beschlossen. Damit war damals erst einmal viel geschafft. Was würden Sie sagen, fehlt aus heutiger Sicht in dem Dokument?

Bosse-Huber: Am meisten fehlt, dass sie völkerrechtlich nicht bindend ist. Das hat man in den 1960er und 70er Jahren versucht nachzuholen – durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte („Zivilpakt“) und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („Sozialpakt“). In der Folge ist 1950 zum Beispiel auch die Europäische Menschenrechtskonvention entstanden. An Papier mangelt es an dieser Stelle nicht – und ich glaube, es mangelte auch nicht an dem ehrlichen Willen derer, die diese Papiere unterzeichnet haben. Aber was uns bisher nicht gelungen ist, ist einzuhalten, was wir in den Dokumenten festgehalten haben. An vielen Stellen muss man sagen, ist das Gegenteil der Fall. Menschenrechte sind hoch fragil und ob sie für alle gelten, wird auch in Deutschland wieder offen infrage gestellt. Wir haben es mit neuen Formen von Rassismus zu tun, die so offen bislang nicht auf der politischen Bühne vorkamen. Es gibt die Gefahr, dass Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, selbst zum Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden – zum Beispiel, wenn Flüchtlingshelfer*innen bedroht werden. Wir müssen mit Entschiedenheit dagegen aufstehen und diese kostbare Menschenrechtserklärung nach allen Kräften verteidigen.

Das Interview führte Patricia Averesch