Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet

Vorwort

Bildung ist eine der großen Aufgaben zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Die Diskussion über die PISA-Studie hat das einer größeren Öffentlichkeit bewusst gemacht. Noch bevor diese Studie im Dezember 2001 erschien, veröffentlichte Donata Elschenbroich ein Aufsehen erregendes Buch über das »Weltwissen der Siebenjährigen«. Die Verfasserin weist kritisch darauf hin, dass Österreich und Deutschland im Blick auf das Ausbildungsniveau von Erzieherinnen und Erziehern und in der Wertschätzung ihrer Arbeit innerhalb Europas derzeit die Schlusslichter bilden. Sie zeigt zugleich an Beispielen aus der pädagogischen Praxis einleuchtend auf, welche großen Möglichkeiten die Jahre vor Schulbeginn für die Erschließung des »Weltwissens « bieten. Konsequenterweise wirbt sie für den Kindergarten als »ideales Bildungsmilieu« und kehrt damit die gängige Wertepyramide im Bildungswesen um.

 Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) betreiben rund 9.000 Kindertagesstätten seit langem eine wichtige – wenn auch viel zu selten angemessen gewürdigte – Bildungsarbeit. In evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder spielen, feiern und lernen unter der Betreuung von 61.000 Erzieherinnen und Erziehern Tag für Tag mehr als 540.000 Kinder. Die evangelischen und katholischen Kindertageseinrichtungen zusammen leisten einen erheblichen Beitrag zur Elementarbildung im Ganzen; etwa die Hälfte dieser Einrichtungen befindet sich in kirchlicher Trägerschaft. In den dort initiierten und begleiteten Bildungsprozessen werden in enger Zusammenarbeit mit den Familien entscheidende Grundlagen geschaffen, die für die einzelnen Kinder selbst und ihre Familien hohen Wert haben, aber ebenso für Gesellschaft und Kirche von großer Bedeutung sind.

Die evangelische Kirche hat darum allen Grund, sich in die Diskussion um den Wert frühkindlicher Bildung aktiv einzuschalten und ihre Position in dieser Diskussion darzulegen. Die Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft bilden ein herausragendes Beispiel dafür, wie die Kirchen das Heranwachsen von Kindern begleiten und fördern, die Familien in ihrer Aufgabe stärken und mit ihrem Dienst an Kindern und Familien zur Sinnstiftung und zur Wertevermittlung in unserer Gesellschaft beitragen. Bei ihrem Engagement für Kinder lässt sich unsere Kirche von der Überzeugung leiten, dass Bildung und Glaube einander ebenso bedingen wie Bildung und Freiheit. Das »Weltwissen«, um das es geht, ist deshalb in seinem Kern Orientierungswissen – ein Wissen also, das Kindern dabei hilft, sich in ihrer Welt zu orientieren und ihren eigenen Ort in dieser Welt zu bestimmen. Dass solche Orientierung gelingt, ist für die Identität der Kinder und ihre Entfaltungsmöglichkeiten von großem Gewicht. Kirche und Gesellschaft muss deshalb an diesen in kirchlicher Trägerschaft verantworteten Bildungsprozessen und ihren positiven Ergebnissen sehr gelegen sein.

Lange vor dem PISA-Schock hatten die Kirchen die Notwendigkeit erkannt, das Bildungssystem in seinen Fundamenten zu stärken. Die Synode der EKD widmete sich bereits im Jahr 1994 dem Thema »Aufwachsen in schwieriger Zeit: Kinder in Gemeinde und Gesellschaft«. Schon damals waren die Kindertagesstätten als institutionelle Orte kindgerechter Bildung im Blick; denn Bildung im Sinne des christlichen Glaubens ist Bildung von Anfang an. Im Frühjahr 2003 erschien die ebenfalls dem Bildungsthema gewidmete Denkschrift »Maße des Menschlichen«. In ihr stellte der Rat der EKD fest, dass »... in Deutschland eine frühe Förderung der Kinder im Vergleich zu anderen Ländern nicht ausreichend erfolgt. In sehr frühen Jahren werden die Grundlagen zum Lernen gelegt. Kleinkinder werden in ihrem unbändigen Verlangen nach Entdeckungen und Wissensdurst unterschätzt« (Maße des Menschlichen, 2003, S.33f ). Aber auch aus der Perspektive sozialer Verantwortung für Familien ist Elementarbildung für die EKD ein Thema: »Tageseinrichtungen für Kinder sind nicht nur für die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit wichtig. Sie haben auch einen eigenständigen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Sie leisten einen entscheidenden und grundlegenden Beitrag zur Chancengleichheit bezüglich der Lebens- und Lernmöglichkeiten von Kindern und zur Integration von Kindern. Es muss gewährleistet sein, dass Tageseinrichtungen diese qualifizierte Bildungs-, Erziehungs- und Integrationsarbeit auch (weiterhin) leisten können.« (Was Familien brauchen, 2002, S.13).

Solche Aussagen begründen und unterstreichen die zentrale Bedeutung, die Tageseinrichtungen für Kinder in der Perspektive der EKD zukommt. Die Menschen in den Kirchengemeinden und Wohnquartieren haben längst entdeckt, welchen Schatz sie mit qualifiziert geführten Einrichtungen für Kinder besitzen. Weit über den Kreis der unmittelbar für Kindergärten und andere Formen der Kinderbegleitung engagierten Erzieherinnen und Erzieher, Pfarrerinnen und Pfarrer oder Kirchenvorstandsmitglieder hinaus erleben auch andere, wie sich die dort geschaffenen Lebensgrundlagen auswirken. Dabei zählt nicht nur, dass alle weiteren Bildungseinrichtungen auf der soliden Basis frühkindlicher Erziehung aufbauen können; vielmehr hat gelingendes pädagogisches Handeln in den Kindertageseinrichtungen langfristige Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und zeitigt deshalb Fernwirkungen in allen Lebensphasen und Lebensbereichen. Dabei ist das besondere Profil evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder zu würdigen und zu stärken. In den evangelischen Einrichtungen für Kinder werden biblische Geschichten erzählt, fröhliche Lieder gesungen, stärkende Gebete gesprochen und festliche Gottesdienste gefeiert. Zum Glauben an Gott wird ebenso ermutigt wie zur Rücksichtnahme auf den Nächsten. Kinder erleben – oft in der Nachbarschaft anderer kultureller Kontexte – evangelisches Christsein als Hilfe zum Leben; sie begegnen im Glaubenszeugnis der christlichen Gemeinde dem Gott, der Große und Kleine liebt, der Schwache stärkt und Starke in die Schranken weist, weil er Gerechtigkeit und Frieden will. Im Kindergartenalltag ist die Kirche von Morgen schon lebendig; in den sich hier vollziehenden Integrationsprozessen wird die Gesellschaft der Zukunft exemplarisch vorweggenommen.

Die Arbeit in den evangelischen Tageseinrichtungen für Kinder steht unter der Verheißung, dass Gott »aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge« ein Lob bereitet wird (Psalm 8,3/ Matthäus 21,16). Eine Kirche, die ihre Gegenwart verantwortlich gestalten und ihre Zukunft vorbereiten will, tut gut daran, ihre Kindertagesstätten zu pflegen und deren Belange von Zeit zu Zeit eigens in den Blick zu nehmen. So war es nur folgerichtig, dass die Kirchenkonferenz der EKD im Dezember 2002 den Anstoß für die Entstehung der vorliegenden Schrift gab, die den Stellenwert von Elementarbildung als zentraler Aufgabe kirchlichen Handelns unterstreicht. Der Rat der EKD hat daraufhin eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe zum Bildungsauftrag der Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft berufen. Den Mitgliedern dieser Kommission, insbesondere ihrem Vorsitzenden Dr. Johann Daniel Noltenius, sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt.

Der Rat der EKD hofft, dass diese Schrift allen, die in kirchlichen Kindertagesstätten arbeiten, für sie Verantwortung tragen und ihnen verbunden sind, Orientierung vermittelt. Ganz besonders soll die Aufmerksamkeit auf die Erzieherinnen und Erzieher gelenkt werden, die mit der liebevollen und kindergerechten Wahrnehmung ihrer wichtigen Aufgabe den entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass Kindertageseinrichtungen die Erwartungen erfüllen, die in sie gesetzt werden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland misst der Bildungsverantwortung der Kirche heute und morgen eine herausragende Bedeutung zu. Dabei hat der Elementarbereich nicht nur vom Umfang des kirchlichen Engagements, sondern auch von seiner prägenden Bedeutung für das ganze Leben her eine zentrale Stellung inne. Mit dieser Erklärung verfolgt der Rat der EKD das Ziel, dass die kirchlich getragene Elementarbildung in ihrem besonderen Gewicht wahrgenommen, in ihrer Bedeutung für Kirche und Gemeinde gewürdigt und in ihrer Qualität nach Kräften gefördert wird.

Hannover, im März 2004

Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der EKD

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