Predigt im Berliner Dom (Jesaja 61, Vers 1-4)

Manfred Kock

Die Liebe Gottes, der Friede Jesu Christi, die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch!

Der Predigttext für diesen 2. Sonntag nach dem Christfest steht im Buch des Propheten Jesaja (61, 1-4).

1. Über diesen Abschnitt wurde schon häufig gepredigt, er ist ermutigend, er schenkt Hoffnung. Israel hat sich an solchen Sätzen festgehalten in seiner langen Geschichte des Leidens.
Die schönste und kürzeste Predigt haben wir eben als Evangelium gehört. Jesus hat sie gehalten. Er hatte die Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth besucht. Man reicht ihm die Schriftrolle des Propheten Jesaja – er liest den Text:
„Der Geist des Herrn ist auf mir. Gott hat mich gesandt, den Elenden die Frohe Botschaft zu verkündigen.“ Jesus gibt die Rolle zurück, er setzt sich, alle blicken erwartungsvoll auf ihn.
Und seine Predigt lautet:
„Heute ist das erfüllt vor euren Ohren.“

So möchte ich predigen können. Mit einem Satz alles sagen.
Mit dem ganzen Leben einlösen, was der Prophet versprochen hat:

Den Armen und Elenden die gute Botschaft bringen
- den Gefangenen Befreiung
- den Blinden das Licht
- den zerbrochenen Herzen Erlösung.
Die große Vision vom Heil für die Menschen, mit drei kleinen Sätzen vom Propheten versprochen: das Gnadenjahr Gottes.

„Heute ist das erfüllt“, sagt Jesus, mit seinem ganzen Leben steht er dafür ein.
Er kam in die Welt, sprach selig die Armen und Sanftmütigen, die Verfolgten und die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit. Er litt und starb am Kreuz und erschien den Seinen lebendig.

Das ist die Gewähr für das Gnadenjahr: Er selbst – der mit den Nägelmalen, der Lebendige.
Er übernimmt die Rolle des Propheten, er ist der „Gesalbte“, der Beauftragte, vom Geist erfüllt. So haben seine Anhänger von ihm berichtet. So ist er Millionen Menschen seither begegnet – hat sie heil gemacht von den Verletzungen ihres Lebens, hat ihnen Mut gemacht, wenn sie gescheitert waren, half ihnen zum neuen Anfang, wenn sie sich in Schuld verstrickt hatten.

Fortan hören wir diesen Abschnitt aus dem 3. Teil des Jesajabuches mit dieser Auslegung: Heute ist das erfüllt, mit Ihm, dem Mann aus Nazareth.
Was der Prophet erhofft für die Rückgekehrten aus dem Exil von Babylon vor 2500 Jahren, das soll gelten für uns: Gnadenjahr des HERRN –
Die alte israelische Rechtsordnung legte fest: 7 x 7 Jahre – dann wird das 50. Jahr ein Gnadenjahr. Alle Schulden werden erlassen, alle Sklaven werden frei. Ein wunderschönes Modell aus dem alten Israel. Heute ganz konkret für die Forderung zur Entschuldung der ärmsten Länder der Erde gebraucht – und übertragen auf uns: Symbol für Gottes Versöhnung.

Die Trauernden werden verwandelt: tragen Schmuck statt Asche, salben sich mit Freudenöl, statt Trauerkleidung anzuziehen; singen Loblieder, statt betrübt zu grübeln.

2. Ein Gnadenjahr ist uns angebrochen. Gerade jetzt bei diesem faszinierenden Wechsel aller Ziffern der Jahreszahl.
Viele waren ausgelassener als sonst, viele waren nachdenklicher.
Auch die arbeiten mußten, damit Millionen ungestört feiern konnten, haben zurückgeblickt und nach vorn geschaut; haben Bilanz gemacht, um sich des Weges zu versichern, den sie gegangen sind.
Wir brauchen die Zeitstruktur, um leben zu können in dieser Welt und der Geschichte: die Jahre, Monate, Wochen, die Tage und die Stunden, die Minuten und Sekunden – wir brauchen die Rhythmen, die orientiert sind am Lauf der Gestirne, am Umlauf der Erde. Wir wollen Klarheit über das, was war. Wir möchten planen, was kommt.
Gerade bei diesem Jahreswechsel ist klar geworden – falls wir soweit kamen mit unseren Gedanken: Wir können Vergangenes nicht ungeschehen machen; wir können die Gegenwart nicht festhalten; wir können die Zukunft nicht absichern.
Rose Ausländer hat ein schönes Gedicht geschrieben, das so beginnt: „Wieder ein Ring in den Baum gewachsen...“
Der „Kreislauf“ der Jahre ist in Wahrheit kein Kreislauf. Nichts kehrt wieder, wenn auch die Jahreszeiten einen solchen Eindruck erwecken. Die Tage, die geschenkt wurden, sind nicht wiederholbar. Wir merken es am Wachstum unserer Erfahrungen, das kann uns beglücken. Wir merken es aber vor allem am Verfall unserer Kräfte. Wir sterben jeden Tag – das ist unser Wesen.

3. Gnadenjahr des Herrn – Heute ist das Wort der Schrift erfüllt vor unseren Ohren, sagt uns Jesus. Das ist uns zur Ermutigung gesagt. Wie immer wir die kommenden Jahre einschätzen, eher düster und dunkel, wie die Besonnenen fürchten – oder eher licht und klar, wie die Optimisten meinen – wir brauchen diese Ermutigung, die nicht aus uns selber stammt, die uns aber versprochen ist: den Gefangenen Freiheit – den Blinden das Licht – dem Zerbrochenen Erlösung.
Das ist versprochen für unsere verzagten Seelen; das ist versprochen für diese Welt und ihre Geschichte, in der wir leben.
Ein Gnadenjahr des HERRN ist vor uns. Nicht, daß Sie diesen Satz verstehen, als wollte er Illusionen verbreiten. Er will nicht ausblenden, was wirklich ist!
Wirklichkeit wird eher dunkel, das ist klar.
Der Druck der ständig steigenden Bedürfnisse hat das Land über seine Verhältnisse leben lassen. Die Aktien sind gestiegen wie nie zuvor. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt nicht spürbar. Die politische Moral ist in eine nicht absehbare Krise geraten.

Wir müßten gerade das einschränken, was zum Ankurbeln des Konsums und zur Beruhigung der Massen gebraucht wird.

Wir müßten gerade das steigern, was am stärksten gefährdet und am wenigsten gefragt scheint: Verantwortung für andere; Besinnung auf Gottes Barmherzigkeit.

Gnadenjahr des Herrn – ein Rosengarten ist da nicht versprochen. Aber das Gnadenjahr hat dennoch eine wunderbare Kraft – sie ist heute erfüllt: Wir wissen, worauf Gott sich einläßt; auf die Armen, die zerbrochenen Herzen, die keinen Fuß mehr voran setzen können aus Angst vor dem Ungewissen.
Eine wunderbare Kraft entfaltet sich, wenn wir uns auf diese Kraft einlassen.

4. „den Armen die frohe Botschaft“.
Das ist ein ganz realer Satz. Auf den ersten Blick gesehen trifft er nicht auf uns zu. Wir in dieser Kirche gehören buchstäblich kaum zu denen, die wirklich arm sind im materiellen Sinne. Wir sollten also zunächst die Richtung erkennen, in die uns der Jesus gehen lassen will:
an die Seite der Elenden. Das ist immer wieder einzuschärfen. Die Tränen der Verfolgten und Gequälten dürfen uns nicht kalt lassen.
Und Gott sei Dank, es gibt diese Bewegung zu den Armen. Es gibt die stille, unauffällige Hilfe. Es gibt die großen Aktionen, die in Katastrophen wenigstens das Schlimmste abwenden. Es gibt auch den Kampf um Gerechtigkeit und Frieden und gegen den Hunger, gegen die Ausbeutung der Kinder. All das ist zu wenig, aber es ist mehr als nichts!

Aber das Evangelium für die Armen ist noch viel umfassender.
Es gilt auch mir und dir, die wir im Materiellen gesegnet sind.
Es gilt uns, wenn wir selber bereit sind, arm zu werden, aufzugeben, was uns falsche Sicherheit bereitet: unsere klugen Gedanken, unsere zurechtgemachten Gottesbilder der Bequemlichkeit.
Es gilt auch uns, wenn wir erkennen, daß wir in Wahrheit Bettler sind.

Gerade in materiellem Wohlstand gerät oft genug Gott aus dem Blick, dem wir doch alles verdanken.
An seine Stelle treten andere Götter, an die die Menschen ihr Herz hängen:
wenn sie kaufen und machen,
wenn sie kreisen um sich selbst,
wenn sie zur Flasche greifen in ihrer Verzweiflung – Gefangene der selbstgemachten Götter.
Das Gnadenjahr Gottes:
Heraus aus den Bildern und Illusionen, die wir uns von uns selber machen! Das ist der Weg, den wir gehen.
Arm sind wir. Das gilt es zu erkennen. Den armen Mann, die arme Frau in unserer eigenen Seele erkennen. Dann verstehen wir auch die Armen draußen. Wir haben kein vollkommenes System, keine Erklärung für diese Welt.
Wir gehen in ein neues Jahr – wir leben und wir sterben.
Dem Mann aus Nazareth glauben: das heißt: Sterben und auf das Leben vertrauen, Leiden und Freude aus seiner Hand nehmen.
Die Heiligen unserer Zeit haben für dieses Leben zwei Wege, die sie beide gehen. Für jeden Weg stärken sie sich auf dem jeweils anderen. Der eine Weg ist der nach innen, der Weg des Gebetes und der Stille, der Weg der Kontemplation, des Versenkens. Der andere Weg ist der nach außen, der Weg des Dienstes, des Handelns, des Kämpfens.
Immer geht dieser Weg durch die Wüste.
Innen besteht die Wüste darin, daß wir unsere Schwäche erleben und uns erfüllen lassen, durch Gott allein.
Außen besteht die Wüste darin, daß wir mit den Opfern leiden, und an unserer Schwachheit, an der Übermacht der Bosheit, an der Unübersehbarkeit der Probleme.

Laßt das alte Jahrhundert hinter euch, mit allem, was es brachte und verweigerte.
Laßt uns gespannt sein auf das, was beginnt.

Begleitet von dieser wundervollen Botschaft: Gnadenjahr des Herrn, frei von den Fesseln der Sorge und der Jagd um das eigene Glück und darum offen für die Sorgen und Nöte dieser Welt.
Den Gefangenen Freiheit.
Den Blinden das Licht.
Den zerschlagenen Herzen Erlösung.

Amen