„Es ist zum Ungläubigwerden...“ Zur Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten

Manfred Kock

Überseeclub in Hamburg

Es gilt das gesprochene Wort!

Meine Damen und Herren,

Sie haben mich in diesen ehrwürdigen Kreis eingeladen, um zu einem Thema zu sprechen, das eine traurige Aktualität erlangt hat. Gerade vor einem Jahr haben die schrecklichen Terroranschläge in den Vereinigten Staaten von Amerika darauf aufmerksam gemacht, wie verletzbar unsere komplexe Welt ist durch Verbrechen – vor allem durch solche, deren Motive sich aus irrationalem Hass speisen. Die vermutlichen Initiatoren des Verbrechens und die sie rechtfertigen, berufen sich auf göttliche Weisungen, sprechen von „Heiligem Krieg“ und drohen mit weiteren Anschlägen, vorgeblich getrieben von der Absicht, widergöttliche Verfallserscheinungen vor allem der westlichen Welt korrigieren zu müssen. Diese westliche Welt wird identifiziert mit jüdischem und christlichem Geist, der in den Augen der Alkaida ein „Ungeist“ ist.
Vor diesem Hintergrund spreche ich heute abend „Zur Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten“.

Terroristische Gewaltakte wie die vom 11. September werden von fundamentalistischen Strömungen des Islam als Kampf der Kulturen geführt. Die westliche Welt, die wir gekennzeichnet sehen durch ihre freiheitliche, die Menschenwürde schützende demokratische Rechtsordnung, wird von jenen Kräften als dekadent, widergöttlich und pervers empfunden. Auflösungstendenzen moralischer Werte wie Ehe und Familie werden nicht als verbesserliche Mängel angesehen, sondern als Beweis des Versagens christlicher Ethik.
Folglich führen Islamisten einen Kampf um Religion in ihrem Verständnis und benutzen dabei die Mittel verbrecherischer Gewalt ohne Rücksicht auf das Leben Unbeteiligter.

Religiöse Extremisten gibt es heute zunehmend auch wieder in jüdischer und christlicher Couleur. Protestantische Erweckungsfundamentalisten, vor allem in den USA, und katholische Charismatiker träumen von einer Re-Christianisierung der Welt. Auch wenn man ihnen Terroranschläge nicht zutraut, eint sie mit den islamistischen Fundamentalisten die Überzeugung, dass das säkulare Gemeinwesen westlicher Prägung ohne Wertegrundlage zur Verwüstung des Geistes führe und dringend wieder auf eine sakrale Grundlage gestellt werden müsse.
Auch die heillose Gewaltgeschichte im Nahen Osten lässt auf allen Seiten die Berufung auf Religion als Kennzeichen der Unversöhnlichkeit erscheinen.
Darum wundert es nicht, wenn viele Menschen, die durch Aufklärung und Nüchternheit geprägt sind, die Religion als solche haftbar machen für das Anwachsen von Krieg und Terror in der Welt.

Vor ein paar Monaten hat Gustav Seibt in der Besprechung des neu erschienen Buches von Bernard Wasserstein über Jerusalem folgende Summe gezogen: Nachdem man die Geschichte Jerusalems zur Kenntnis genommen hat, mag man „einen Namen nicht mehr hören: den Namen Gottes. Wassersteins Buch ist zum Ungläubigwerden, und recht aus Herzensgrund möchte man einem chinesischen UN-Delegierten zustimmen, der 1947 anregte, man möge die heiligen Stätten Jerusalems ‚einem philosophischen Atheisten mit Menschenfreundlichkeit‘ unterstellen“ (Süddeutsche Zeitung vom 4. April 2002, S. 16).

I
Diese Formulierung trifft eine weit verbreitete Stimmungslage. Wo man hinschaut in der Welt, sind die aktuellen Konflikte mit religiösen Motiven verwoben: im Nahen Osten, auf dem Balkan, auf dem indischen Subkontinent, auf den Philippinen, in Nordirland usw. usw.... Bei manchen verfestigt sich der Eindruck, die Welt würde friedlicher werden, wenn es nur gelänge, den Faktor Religion auszuschalten.
Das ist zwar allzu simpel gedacht. Denn auch sogenannte religionslose, vorgeblich auf Vernunft gegründete Systeme können maßlos und fanatisch sein. Gerade wo der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, da spielt er eine Rolle, die ihn überfordert. Seine Unvollkommenheit lässt Humanität immer wieder in Inhumanität umschlagen. Während die biblische Überlieferung den ewigen Gott voll Erbarmen und Langmut darstellt, der die Sonne über Gerechte und Ungerechte aufgehen lässt, handelt der Mensch unter Zeit- und Erfolgsdruck, auch wenn er die gute Absicht hat, die Ungerechtigkeit der Erde zu beseitigen. Gerade dann, wenn er rigoros nach Gerechtigkeit strebt, will er oft genug die totale Herrschaft, die zu sichern ihn wieder zu Gewalt und Terror nötigt (Horkheimer). Der Jakobinische Terror in Folge der Französischen Revolution und der Stalinismus sind dafür beredte Beispiele.

Aber es lässt sich – leider Gottes! – nicht leugnen, dass es religiöse Traditionen und Überzeugungen gibt, die aus sich heraus der Anwendung von Gewalt Vorschub leisten oder sich jedenfalls zur Legitimation oder Bemäntelung von Herrschaftsansprüchen und Unterdrückungsmaßnahmen instrumentalisieren lassen – wie auch zu deren Bestreitung und Überwindung.

Die christlichen Kirchen können in dieser Beziehung nicht vom hohen Ross herab reden. Die Geschichte des christlichen Abendlandes ist voll von Beispielen dafür, dass Menschen unter Berufung auf christliche Glaubensüberzeugungen Andersdenkende verfolgt und getötet haben.
Das Wochenmagazin DER SPIEGEL hat im Oktober 2001 (Nr. 41) im Anschluss an die Terroranschläge vom 11. September die bekannte dunkle Geschichte religiösen Wahns auch in ihrer jüdisch-christlichen Spielart ausgebreitet.
Der Untertitel „Die Rückkehr des Mittelalters“ bezeichnet die Tendenz des Artikels, nämlich darzustellen, es sei die Religion als solche, die Gewalt erzeuge.
Die Erzählung von Samson, dem jüdischen Führer aus dem 12. vorchristlichen Jahrhundert, wird genutzt, diesen als ersten Selbstmordattentäter zu kennzeichnen. Der war durch den Verrat seiner Frau Dalila seiner Haare beraubt, welche die Quelle seiner unbändigen Kraft waren. So war er den Philistern in die Hände gefallen, die ihn gefangen nahmen und blendeten. Als aber dem Blinden die Haare nachgewachsen waren, kehrte die Kraft zurück, und Samson brachte die tragende Säule im Palast der Philister, an der er angekettet war, zum Einsturz und riss 3000 Menschen unter dem einstürzenden Dach mit sich in den Tod.
Mit der Darstellung dieser Erzählung beginnend beschreiben die SPIEGEL-Autoren eine Serie von Gewaltakten und –erfahrungen, die das Judentum als eine Religion kennzeichnen, die kaum anderes zustande gebracht zu haben scheint als Mord und Totschlag im Namen Jehovas. Von der Geschichte der Landnahme angefangen über die Widerstandskämpfer von Massada gegen die Römer bis hin zum Mord an Jizchak Rabin wird die jüdische Geschichte unter dem Aspekt religiös begründeter Gewalt beschrieben.
Kein Wunder, dass auch die hoffnungslose Dramatik des gegenwärtigen Nah-Ost-Konfliktes in erster Linie mit dem religiösen Fanatismus der religiösen Führer erklärt wird.

Auch die Geschichte des Christentums wird vom SPIEGEL als eine Tragödie „Mit Feuer und Schwert“ gedeutet. Die Gewaltgeschichte des Mittelalters wird so zusammengefasst: Solange die Christen noch ohne Macht waren, haben sie religiöse Gewalt der Verfolger gesucht - in brennender Sehnsucht nach dem Martyrium. Nachdem sie zur Macht gekommen waren, sind sie ihrerseits über Ungläubige und Andersdenkende hergefallen.
Kreuzzüge sind unter der religiösen Losung „Deus lo vult – Gott will es“ mörderische Unternehmen gewesen. Auch die Blutspur der Inquisition und der Hexenverfolgung wird eindrücklich beschrieben als religiöser Exzess.
So wie die Autoren des SPIEGEL in der erwähnten Ausgabe deuten auch viele andere Werke die Geschichte des Christentums als eine Geschichte der Gewalt.

Die dargestellten Sachverhalte sind nicht zu leugnen. Aber religiöse Motive waren nicht die einzigen Gründe für Gewalt und Terror. Keinesfalls aber zwingt die dunkle Geschichte die heutigen Kirchen, zu heutigen Gewaltsituationen zu schweigen.
Im Gegenteil, dieser Schatten, der über der Geschichte der christlichen Kirchen liegt, verpflichtet sie, sich heute kritisch zur Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten zu äußern.
Die christliche Theologie hat es gelernt, die Heilige Schrift von ihrer Mitte her zu verstehen, von der Liebe Gottes in Jesus Christus. Auch mit Hilfe von Impulsen der Aufklärung hat sie einen kritischen Umgang mit solchen biblischen Geschichten gewonnen, die von zeitgebundener Gewaltdarstellung geprägt sind. Beides bewahrt davor, biblische Aussagen fundamentalistisch, das heißt: losgelöst von ihren historischen und politischen Bedingungen, zu deuten. Auch die Geschichte der christlichen Kirche kann selbstkritisch beurteilt werden gerade deswegen, weil die Fehlentwicklungen und die Schuld der Kirchen offengelegt werden, von der Kirche selbst, nicht nur von ihren Kritikern. So ist zum Beispiel mit den Forschungen über die Anteile der christlichen Überlieferung am Entstehen und an den Zuspitzungen des Antisemitismus bis hin zum Holocaust eine Bußbewegung in Gang gekommen, die heute ein wichtiges Bollwerk gegen das Wiedererstarken des Antisemitismus ist.

Auch die Geschichte des Islam weist Gewaltphasen und –ereignisse aus, die den Schrecken des christlichen Mittelalters nicht nachsteht. „Befreiungsschlag gegen die Ungläubigen“, so kennzeichnet DER SPIEGEL den Islam von seinem Aufbruch unter Mohammed bis hin zu den Ausbrüchen islamischer Fanatiker heute.
Die wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit des Islam im frühen Mittelalter hatte vor allem in Spanien eine große religiöse Toleranz entwickelt. Die wurde jedoch unter den Blutorgien der Kreuzzüge restlos zerstört. Die gegenwärtigen Terrorakte und der Beifall aus weiten Teilen der Bevölkerung in islamischen Staaten zeigen, wie groß die Gefahr ist, wenn irrationale religiöse Begründungen das Handeln leiten. Auch die Rechtsordnung zahlreicher islamischer Staaten wird umgestaltet nach Ordnungen, die als Gott gebotene Scharia erklärt werden. Nach den Maßstäben unserer freiheitlichen Rechtsordnung sind solche Rechtssysteme inhuman und deshalb unakzeptabel.

Hier und da gibt es im Islam so etwas wie einen Prozess der Aufklärung. In der islamischen Theologie zeigen sich über den Umgang mit der Frage religiöser Gewalt neue Denkansätze. Auch im Blick auf den Koran, die Heilige Schrift des Islam, gibt es erste Anzeichen für historische Kritik. Jedoch sind aufgeklärte muslimische Theologen oft massiven Repressionen ausgesetzt, wie das Beispiel eines ägyptischen Professors zeigt, der unter dem Einfluss von Fundamentalisten aus seinem Amt vertrieben und zur Scheidung von seiner Frau gezwungen wurde. Sie brauchen unsere Unterstützung, damit sie in der islamischen Welt größeren Einfluss erlangen können. Hoffentlich kann der Dialog mit dem Islam dazu beitragen, dass sich hier eine weitere Veränderung ergibt.

II
Indem ich diese Perspektive aufzeige, konzediere ich der Kritik an der Religion allgemein ein gewisses Recht – insoweit nämlich als Religion benutzbar ist zur Legitimation von Gewalt. In verhängnisvoller Weise wirkt sich der religiöse Faktor bei politischen Konflikten überall dort aus, wo politische Ansprüche religiös begründet werden. Soweit im Konflikt um Jerusalem und um Israel bzw. Palästina territoriale Ansprüche und ihre Bestreitung religiös untermauert werden, bleibt kaum Raum für pragmatischen Ausgleich und vernünftigen Kompromiss, vor allem, wenn eine Seite mit der Ideologie des Heiligen Krieges die Mordtaten begründet und die Selbstmordattentäter zu Märtyrern stilisiert. Der religiöse Begriff des Martyriums in christlicher Tradition ist zur Kennzeichnung von Selbstmordattentätern völlig ungeeignet. Märtyrer nach christlichem Verständnis sind Glaubenszeugen, die um ihres Glaubens willen Gewalt erdulden, keinesfalls aber selber anderen Gewalt zufügen.

Im 16. und 17. Jahrhundert war es auch in Europa nicht viel mehr als eine reale Utopie, Politik und die Durchsetzung religiöser Ansprüche zu entkoppeln und zu einem aufgeklärten Verhältnis von Religion und Politik zu gelangen. Die gemeinsam durchlebten Schreckenszeiten haben damals bereit gemacht, neue Wege einzuschlagen. Der Beginn eines solchen Weges war der Friede von Münster und Osnabrück von 1648, der den 30jährigen Krieg beendete. Nach langen und zähen Verhandlungen wurde am 24. Oktober 1648 Frieden geschlossen auf einer pragmatischen und rationalen Grundlage. Die drei Konfessionen - Römisch-Katholische, Lutheraner und Reformierte - brauchten ihre Wahrheitsansprüche nicht aufzugeben, wohl aber mussten sie auf die Durchsetzung eines Wahrheitsmonopols verzichten und sich zur gegenseitigen gewaltfreien Duldung verpflichten. Auf dieser Basis konnte das Zusammenleben von Menschen und Völkern neu geordnet werden. Ein Sicherheitssystem wurde eingeführt, das die Koexistenz der Konfessionen ermöglichte, obwohl sie immer noch prinzipiell die Legitimität der Lehre der jeweils anderen Konfession bestritten.
Diese Rechtsordnung von 1648 war bis auf weiteres hilfreich, aber sie war nicht so stark, dass sie Europa und die Welt vor weiteren schrecklichen Kriegen bewahrt hätte. Das zeigt, wie eben auch nach Überwindung der religiösen Begründung für Gewalt und Krieg andere Furien hervorbrechen, deren schreckliche Folgen erst nach zerstörerischen Kriegen allgemein erkannt werden: nationalstaatlicher Egoismus, rassistische und nationalistische Überheblichkeit.

Andere Interessen kommen noch hinzu: Heute vor allem die Gier nach Herrschaft über Ölquellen und andere Bodenschätze, die zwanghafte Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen, die Angst vor Überfremdung, vor Identitätsverlust.

Die Religionsartikel des Westfälischen Friedens enthalten eine bemerkenswerte Klausel. Was in diesem Vertrag zur Bestätigung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und zur Auslegung strittiger Artikel bestimmt worden ist, „das soll für eine immerwährende Erläuterung des besagten Friedens....gehalten werden, bis man sich durch Gottes Gnade über die Religion verständigt haben wird“ (aus: Instrumentum Pacis Osnabrugense, Art. V § 1).

Was das Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander angeht, so ist die damals erhoffte Verständigung auch nach über 350 Jahren noch nicht erreicht. Daher ist die obengenannte Klausel des Friedensvertrages eine bleibende Verpflichtung.
Wohl aber sind Unterschiede zwischen christlichen Konfessionen kein Grund mehr für Inquisition, Mord und Krieg. Auch die Auseinandersetzungen zwischen Römisch-Katholischen und Protestanten in Nordirland oder die auf dem Balkan zwischen serbischen Orthodoxen und Römisch-Katholischen haben andere als religiöse Ursachen. Ich komme darauf zurück.

III
Die Ereignisse des 11. September machen aber deutlich, dass das Zusammenleben mit dem Islam nicht so problemlos ist wie das zwischen den christlichen Konfessionen. Schon vor diesem Datum und verstärkt danach sind Übergriffe gegen christliche Minderheiten in islamischen Ländern grausame Wirklichkeit. Immer wieder wird berichtet, wie z.B. in Pakistan, in Indonesien, in Nigeria Dörfer mit ihren Kirchen in Flammen aufgehen und Menschen umgebracht werden, weil sie der anderen verhassten Religion angehören. In Indien übrigens sind die Täter zumeist fanatische Hindus, die Opfer nicht nur Christen, sondern auch Muslime.
In unserem Land leben inzwischen auf Dauer etwa drei Millionen Muslime. Zum ersten Mal in unserer Geschichte leben wir mit einer so großen Minderheit einer anderen Religion zusammen. Gegenüber dem Islam – wie gegenüber jeder anderen religiösen Erscheinung – sind die Stärkung der Dialogfähigkeit und die Stärkung der Fähigkeit zu kritischer Wahrnehmung gleichermaßen wichtig. Die schrecklichen Attentate in den USA waren nicht nur die Sache einiger radikalisierter, wahnsinniger Fanatiker. Die teilweise unverhohlen zustimmenden Reaktionen in der islamischen Welt ließen deutlich zu Tage treten, dass neben dem säkularisierten westlichen Lebensstil auch der religiöse Hintergrund des Westens, die jüdisch-christliche Tradition, gemeint war. Der Islam steht in Europa vor der Bewährungsprobe, ob er in der Lage ist, sich auf die Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie und des weltanschaulichen Pluralismus einzulassen. Ein Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Ordnung in allen demokratischen und säkularen Staaten ist die Religionsfreiheit. (Zur Religionsfreiheit s. v. Campenhausen, § 136 Religionsfreiheit, in HSTrR, Bd. VI = ders. Gesammelte Schriften, Tübingen 1995, S. 256 ff.) Sie ist systemübergreifendes Grund- und Menschenrecht, nicht nur Recht des Individuums auf eigenen Glauben. Die Freiheit konkretisiert sich vielmehr in der freien Möglichkeit, Religion auch gemeinschaftlich ausüben zu können. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst sind in die Garantie der Religionsfreiheit aufgenommen. Die Verfassung und die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland hat dieses in klarer unmissverständlicher Weise herausgestellt. Das wiederum erfordert Regelungen, die das Verhältnis der religiösen Gruppen und Verbände untereinander und zum Staat in den Blick nehmen.

Auch wenn das heutige Staatskirchenrecht mit seinen Grundprinzipien der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und Kirche, des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften, der Säkularität und Neutralität des Staates, der Gleichstellung aller Religionen im pluralistischen System das Ergebnis eines langen Prozesses der Säkularisierung ist, so ist unverkennbar, dass das Verhältnis von Staat und Religion im Sinne eines geordneten Gegenübers von weltlichem Gemeinwesen und rechtlich selbständigen Religionsverbänden eine Besonderheit der westlichen Zivilisation ist. Das Christentum war und ist an der Gestaltung und Weiterentwicklung des Verhältnisses prägend beteiligt.

Das Ziel muss klar sein: Die Verfassung unserer Bundesrepublik Deutschland darf nicht unter Berufung auf Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbote ausgehöhlt werden. Sie ist nämlich die Instanz, die Religionsfreiheit und Religionsfrieden gewährleistet.

Der religiöse und weltanschauliche Pluralismus, der sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland zu bilden begonnen hat, verpflichtet den Staat zu einem genaueren Hinsehen, wenn es darum geht, ihm aufgegebenen Schutz von Verfassungsrechtsgütern gegen exzessive Ausübung von Religionsfreiheit wahrzunehmen. Eine wichtige Möglichkeit staatlichen Handelns ist die des Verbots solcher Religionsgemeinschaften, die gegen die Verfassung verstoßen oder sie zerstören wollen. Diese Option ist nicht erst seit der Streichung des sogenannten „Religionsprivilegs“ aus den Verbotsregelungen im Vereinsgesetz gegeben.
Nicht nur der Staat, auch die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften selbst, die in einem wachsenden Pluralismus nebeneinander treten, müssen auf diese gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren. Das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft, ja das Funktionieren der staatlichen Ordnung insgesamt, ist abhängig von der Friedensfähigkeit der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften untereinander. Hierin liegt die Bedeutung der friedenswahrenden Ausübung und recht genutzten Freiheit der Religionsgemeinschaften. Das Nebeneinander der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften darf das geordnete friedliche Zusammenleben in ein und demselben Gemeinwesen nicht gefährden. Dies ist die eigentliche Herausforderung in der multireligiös gewordenen Wirklichkeit in Deutschland.

Wie kann das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen gelingen? Nur im respektvollen Dialog!
Die Achtung vor dem Glauben anderer erfordert die Bereitschaft, deren Glauben kennen zu lernen. Dabei wird man Gemeinsamkeiten erkennen, aber vor allem muss man den Anderen in seiner Fremdheit akzeptieren. Der Dialog hat unabdingbar als Voraussetzung die Akzeptanz des säkularen Staates, dessen Rechtsordnung die Pluralität schützt. Deshalb müssen im Gespräche  mit dem Islam die Grundsätze unserer Verfassung zur Sprache kommen. Hier wünsche ich mir neben dem unumgänglichen gegenseitigen Respekt größere Deutlichkeit in der Sache. In diesen Rahmen gehört auch die Bewertung von Menschenrechtsverletzungen, Verfolgungen und Benachteiligungen christlicher und anderer religiöser Minderheiten in islamisch geprägten Ländern. Nur wenn hierüber offen gesprochen werden kann, besteht überhaupt Hoffnung, dass sich eines Tages auch die islamischen Gesellschaften und Staaten selbst wandeln, eine menschenwürdige Rechtspraxis einführen und sich dahingehend reformieren, dass sie Religionsfreiheit für andere Glaubensrichtungen gewährleisten, die mehr ist als bloß pragmatische Duldung.

IV
Religion hat mit der Beziehung des Menschen zu Gott zu tun. Sie bietet die Chance tiefer Einsicht und klarer Orientierung. Aber Religion ist nicht selbst etwas Göttliches, sondern etwas durch und durch Menschliches. Sie trägt darum auch die Kennzeichen des Bösen, das manchmal gerade unter der Verkleidung der erhabensten und edelsten Lebensäußerungen daherkommt. Religion kann sich – so gut wie jede andere Äußerung der menschlichen Kultur – vermischen mit Irrtum und Überheblichkeit. Darum ist der kritische und der selbstkritische Umgang mit Religion eine unaufgebbare Forderung. Aber gerade weil religiöse Motive in so viele Konflikte hineinverwoben sind, machen es sich manche allzu einfach und reduzieren das Bündel der jeweiligen Konfliktursachen auf das religiöse Motiv.
So bleibt es ein Ärgernis, dass – wider besseres Wissen – in der Berichterstattung über Nordirland die Konfliktpartner in den Medien wieder und wieder als „Katholiken“ und „Protestanten“ einander gegenübergestellt werden. Der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten ist nicht der Kern, nicht einmal ein dominierender Faktor in der nordirischen Tragödie. Wenn man schon eine Kurzformel verwendet, dann wäre es weit angemessener, von Auseinandersetzungen zwischen pro-britischen und pro-irischen Elementen zu sprechen – wenngleich auch dies nicht ganz zureichend ist. Jedenfalls sind die Kirchen in diesem Konflikt auf der Seite der Friedensstifter, während es sich bei den Scharfmachern um kleine sektiererische Gruppen handelt.

V
Allerdings sollte man die Religion auch nicht vorschnell entlasten, indem alle politischen Konflikte nur auf soziale Ursachen zurückgeführt werden. Der Brudermord des Kain an Abel am Anfang unserer erzählten Geschichte geschieht ohne Wohlstands- oder Elendsgründe. Offenbar sind Bosheiten im Menschen tief verankert, dass ihre Abgründe nicht zu ermessen sind. Wer alle Konflikte auf soziale Ursachen reduziert, würde diejenige Religionskritik bestätigen, die Religion lediglich als eine Maske menschlicher Wünsche oder eine Kompensation gesellschaftlicher Leiden erklärt. Im Umgang mit der Rolle der Religionen in den aktuellen Konflikten kommt es aus der Sicht der evangelischen Kirche und Theologie darauf an, die in der biblischen und theologischen Tradition enthaltenen religionskritischen Züge zu bewahren. Der biblisch inspirierte Gottesglaube hat immer die Zweideutigkeiten der Religion aufgedeckt, schon im Alten und Neuen Testament selbst gibt es anschauliche Beispiele dafür, dass Religion unterdrücken und befreien, zerstören und heilen kann. Die prophetische Kultkritik („Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“ vgl. Jesaja 1, 11 ff, Matth 9, 13), die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihrem humanen Zweck („der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht“, Markus 2, 27), die urchristliche Deutung des Gekreuzigten als Selbsthingabe Gottes und als endgültige Aufhebung des sakralen Opfermechanismus – dies sind nur einige zentrale Motive biblischer „Gegen-Religion“, die zum christlichen Selbstverständnis gehören. Die neuzeitliche Religionskritik befindet sich auch dort im Irrtum, wo sie glaubt, es seien Verhältnisse herstellbar, in denen es der Religion als Kultur des Verhaltens zum Transzendenten, zum Unverfügbaren nicht mehr bedarf. Im Irrtum befindet sie sich vor allem darin, dass sie die Gefahr nicht sieht, wie in das Vakuum einer Gottesverdrängung andere „Götter“ einströmen, die zur Anbetung mit Habgier und Egoismus, mit Kälte und Gleichgültigkeit, mit Selbstherrlichkeit und Größenwahn locken.
In der gegenwärtigen kulturellen Landschaft zeichnen sich bei der Debatte über Religion zwei völlig gegensätzliche Tendenzen ab: einerseits eine verschärfte Erneuerung radikaler Religionskritik und andererseits eine neue Sensibilität für die positive Bedeutung der religiösen Dimension. Jürgen Habermas hat in seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober des vergangenen Jahres eine interessante Neubewertung der Religion vorgenommen.  Ihm komme es vor –  so sagt er - als „hätte das verblendete Attentat [am 11. 9. 2001] im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in Schwingung versetzt“. Er wirbt dafür, dass sich auch die säkulare Gesellschaft „ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen“ bewahrt, weil sie sich „nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung“ abschneidet.
Religionen und Religionsgemeinschaften können eben auch ein wichtiges Potential zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens entfalten. Versöhnungskräfte entstammen auch den religiösen Ressourcen der Menschheit.
Die Kirchen in Europa leisten in vielen Krisenregionen einen wichtigen Beitrag zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit. Gerade der interreligiöse Dialog ist in der Lage, sich des Themas religiöser Legitimierung von Gewalt anzunehmen.
Die vielen Faktoren, die auf gewaltsame Konfliktaustragung Einfluss haben, sind weder durch militärische Mittel letztlich auszuschalten, noch können wirtschaftliche, politische Entscheidungen allein die Lösung darstellen. Betroffene Menschen müssen immer wieder ermutigt werden, um friedliches Zusammenleben zu lernen. Kirchen und Menschenrechtsorganisationen mit ihren zivilen Friedensdiensten haben wie auch die internationale Diplomatie, vielfältige Zugänge, um solche Lernprozesse zu fördern.

Gustav Seibt hat in seiner Besprechung des Jerusalem-Buches, an die ich eingangs angeknüpft habe, an die Stimme jenes chinesischen UN-Delegierten erinnert, der 1947 anregte, man möge die heiligen Stätten Jerusalems „einem philosophischen Atheisten mit Menschenfreundlichkeit“ unterstellen. Nur – wo kommt Menschenfreundlichkeit her? Von welchen Wurzeln nährt sie sich? Von welchen Quellen wird sie gespeist? Mir liegt es fern, den religiösen Wurzeln und Quellen einen Alleinvertretungsanspruch bei der Hervorbringung und Förderung von Menschenfreundlichkeit, Friedfertigkeit oder Versöhnungswillen zuzuerkennen. Aber eines wird man sagen müssen: Es gibt in der Kultur der Menschheit nicht unendlich viele Ressourcen, die sich als fähig gezeigt haben, diese Tugenden hervorzubringen und kräftig zu erhalten. Der Ruf in die Nachfolge Jesu gehört auf jeden Fall dazu. Wer diesen Ruf vernimmt, findet zur Selbstkritik, ohne die keine ernsthafte Kritik an den Religionen möglich ist. Das Bekenntnis zu dem Gott, der sich allen Menschen zuwendet, stärkt die Achtung gegenüber anderen Religionen. Und deshalb kann man angesichts der heillosen Konflikte der Gegenwart durchaus auch zu der Schlussfolgerung kommen: Es ist zum Gläubigwerden.