Predigt zum 1. Advent im Berliner Dom (Matthäus 21, 1-11)

01. Dezember 2002

„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit.“

Adventsgesänge sind vielen noch vertraut. Die Städte schmücken sich mit Lichtern und mit Tannengrün. Die Wochen hin zum Weihnachtsfest steigern die damit verbundene Stimmung.

Längst sind diese Adventswochen kommerziell organisiert, die depri-mierte Konjunktur hofft auf Belebung. Die Hektik in den Straßen steigt.
Aber hinter allem äußerlichen Betrieb steckt doch eine Ahnung, die tief verwurzelt ist in unserem Land.

Am 1. Advent wird in den Kirchen als Evangelium die Geschichte vom Einzug Jesu nach Jerusalem gelesen. Zum Weihnachtsfest hat diese Geschichte eigentlich keinen direkten Bezug. Denn der Mann auf dem Esel zieht ein in die Stadt, und wird am Kreuz sein Leben lassen. So ist schon gleich am ersten Advent deutlich, was es mit dem Krippenkind auf sich hat – nicht irgendein Kind wird erwartet – es ist der Retter der Welt, denn die Christenheit bekennt in dem Mann, der verraten und verlassen am Kreuz hingerichtet wird. Über ihn wollen wir heute hören.

Als sie nun in die Nähe von Jerusalem
kamen, nach Betfage an den Ölberg,
sandte Jesus zwei Jünger voraus
und sprach zu ihnen: Geht hin in das
Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet
ihr eine Eselin angebunden finden und ein
Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie
zu mir!
Und wenn euch jemand etwas sagen
wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer.
Sogleich wird er sie euch überlassen.
Das geschah aber, damit erfüllt würde,
was gesagt ist durch den Propheten, der da
spricht (Sacharja 9,9):
Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein
König kommt zu dir sanftmütig und reitet
auf einem Esel und auf einem Füllen, dem
Jungen eines Lasttiers.
Die Jünger gingen hin und taten, wie
ihnen Jesus befohlen hatte,
und brachten die Eselin und das Füllen
und legten ihre Kinder darauf, und er
setzte sich darauf.
Aber eine sehr große Menge breitete
ihre Kleider auf den Weg; andere hieben
Zweige von den Bäumen und streuten sie
auf den Weg.
Die Menge aber, die ihm voranging und
nachfolgte, schrie: „Hosianna dem Sohn
Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem
Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“
Und als er in Jerusalem einzog,
erregte sich die ganze Stadt und frage:
Wer ist der?
Die Menge aber sprach: Das ist Jesus,
der Prophet aus Nazareth in Galiläa.

I.
„Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn. Hosianna in der Höhe!“ so schreit die Menge, die ganze Stadt ist erregt und fragt: „Wer ist der?“ - „Jesus der Prophet aus Nazareth in Galiläa.“
Solcher Jubel findet bei uns nicht statt. Die Attraktion des Nazareners ist abgeflaut.
Auch Berlin bietet kein Jubelbild in diesen Tagen. Die Menschen sind eher bestürzt über die wirtschaftliche Unsicherheit. Die Zahl der Arbeitslosen steigt, die der Obdachlosen ebenfalls. Unternehmen drohen abzuwandern und üben Druck aus auf die Politik. Viele Firmen stützen ihre Bilanzen und Aktienkurse durch die Ankündigung von Entlassungen. Statt zu Jubelaufmärschen kommt es eher zu Drohgebärden bei Demonstrationen. Müllmänner und viele andere wollen mehr Geld. Kein Jubel findet statt; eher Erschütterung über die in Selbstmordattentaten sterbenden Friedenshoffnungen in Nah-Ost, über den Aufruhr in Nigeria, über die Drohung eines Krieges im Irak.

Angesichts dieser Wirklichkeit wirkt die Geschichte vom Einzug Jesu fremd. Der Esel ist sein Reittier, symbolisch benutzt, die alte Prophetenbotschaft zu erfüllen von dem König, dem Retter, auf den die Menschen hoffen. Ihn, den Eselsreiter empfangen sie mit den abgehauenen Zweigen und den ausgebreiteten Kleidern. Sie singen und rufen „Hosianna“ um dem König zu huldigen. Was lehrt diese Geschichte, die so fremd wirkt in unserer modernen Welt?
Die Geschichte vom Einzug hat nur äußerlich eine Begeisterungsstruktur. Sie knüpft nur formal an die Einzugsrituale der Großen, der Könige, der Stars. Solche Rituale sind immer zwiespältig einzuschätzen. Ohren- und Augenzeugen des Einzugs Adolf Hitlers in Wien im Jahre 1938 beim Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich berichten von irrsinniger Begeisterung. Da war eine Masse versammelt, die teilhaben wollte an der Macht, die Hoffnung gewinnen wollte aus der Verheißung von Raum für das Volk.
Karl Zuckmayer hat in seinen Erinnerungen die andere Seite dieser Begeisterung beschrieben. Er berichtet von den anderen, die mit ihren Ängsten in den Häusern saßen, sie wussten, was bald auf sie zukommen würde. Sie hatten Angst, dass sie geholt würden von den neuen Herren; sie wussten, dass sie die Opfer sein könnten. Und Zuckmayer schrieb: „Der Einzug war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen Würde.“ Das historische Ergebnis hat diese Einschätzung bestätigt.

II.
Der Jubel hat also seine Schattenseiten. Was erwarten wir für diese Stadt in diesem Advent? Für das Leben in der Stadt, für den Glauben in der Stadt, für ihre Zukunft?
Christa Wolf sagt in ihrem Buch Kassandra: „Die meisten beginnen zu spüren, was kommen wird, ein Unbehagen, dass viele als Leere registrieren, als Sinnverlust, der Angst macht....zick-zack-laufen. Australien ist kein Ausweg.“
Wir stehen da im Zwiespalt von Sorgen und Freuden, von Ängsten und Wünschen, Zweifel und Glauben. Wir sind mitten drin in der Bewegung. „Wer ist der?“ – „Jesus, der Prophet aus Nazareth.“
Diese Stadt Berlin ist ein verwirrend vielfältiges Gebilde. Ihre Verwirrung organisiert sich aber doch zu einem dreigeteilten Bild:

  • Die für die Orgien des Konsums gestylten Citys und Zentren mit ihren glänzenden Arkaden und Passagen, mit Hotels und Regierungsbezirken, mit Kinopalästen und Fußgängerbereichen. Stadt für die Schönen, die Fitten, die Reichen, die Mobilen, die Singles und für alle, die ihnen gleich sein möchten und sich oft genug übernehmen.

  • Dann gibt es darum herum und immer wieder eingestreut die ordentlichen Wohnviertel, sortiert nach kleinen, mittleren und höheren Bürgereinkommen.

  • Und drittens gibt es die Abschnitte der sozialen Verwahrlosung, brutalisiert, manchmal auch kriminalisiert, die dichten Hochhausmilieus, die Plattenbauten, die Asylunterkünfte, die Obdachlosenszenen.

Aber der Kontrast ist deutlich.

Längst geht es noch nicht so elend zu, wie in der Welt der Müll- und Straßenkinder Indiens und Limas. Dieses dreifache Bild ist nicht geschlossen und zu einander geordnet, es ist vielmehr durcheinander gestückelt und zertrennt; äußerlich durch die Schneisen des Verkehrs, innerlich durch Desinteresse. Und so ist das nicht in Berlin allein, sondern in allen Großstädten unseres Landes.
Eitelkeit gibt es und Elend, Selbstdarstellung und Selbsthass. Kultische Formen isolierter Gemeinschaftserlebnisse gibt es auch: Love-Paraden, Christopher Street Days.
Aber dieser große Berliner Dom hält, wie andere Kirchen dieser Stadt, als Symbol Erinnerungen wach: Die von Gemeinschaft getragene und die Gemeinschaft prägende Glaubenswelt. Unübersehbar stehen diese Kirchen noch, aber auf viele Menschen wirken sie wie Museumsgebäude, wie Theater und Opern. Das Interesse der Massen wird stärker von anderen Domen angezogen, von den Kultstätten des allabendlich zelebrierten Vergnügens.

Die Chancen der Stadt scheint ihre Vielfalt zu sein.
Was bedeuten die feierlichen Vernissagen, die ausgebreiteten Kleider in den eleganten Schaufensterreihen, die philharmonischen Weihestunden am Sonntag um Elf? Was macht die Faszination aus von Konsumtempeln mit Parfums der Marken „Love“ oder „Eternity“? Was steckt hinter den demonstrativen Plakaten derer, die sich gegen den Krieg stemmen? Ahnen wir etwas von der Trauer und der Wut über den Zerfall der Stadt? Ahnen wir wirklich etwas von den Sehnsüchten nach Frieden und Erlösung und besseren Zeiten?

III.
„Gelobt sei der da kommt,“ rufen die Leute. Die ganze Stadt fragt, wer er ist.
Und die Menge weiß es.
Es ist der Mann aus Nazareth.
Die Geschichte lehrt nicht, vordergründig zu jubeln. Sie will helfen zur Nüchternheit im Advent. Sie will helfen, die Ohnmacht und die Ratlosigkeit auszuhalten. Denn sie weist hin auf den, der die Rettung ist.
Mit ihrem Jubel tun die Leute in Jerusalem unwissend das Richtige. Sie preisen den Christus Gottes, und dieser nimmt die Huldigung an, obwohl das Ende folgt: Verwerfung, Urteil, tödliches Volksbegehren, Folter und Kreuzestod.
Der Schlüssel zu dieser Einzugsgeschichte: Jesus ist König, anders als die Welt ihn erwartet.
Trotz des Jubels jetzt und der Ablehnung dann. Jesus ist Sieger, auch wenn die Welt ihn überwindet.

Diese Einzugsgeschichte in die Stadt Jerusalem bietet auch für unsere Adventszeit in diesem Jahr eine große Chance. Sie kann die diffusen Sehnsüchte der Menschen ausrichten. Nicht im Jagen nach Ablenkung, nicht im maßlosen Genuss, nicht mit Geld oder Waffen, nicht durch körperliche Drohung oder durch moralischen Druck wird die Stadt geheilt.
Der auf dem Esel zeigt, wie das Heil in die Stadt zieht. Verhüllt, als Macht der Demut und der Menschlichkeit.
Nur sie verdient den Lobpreis „Hosianna“.

Christliche Tradition ist immer wieder der großen Machtversuchung auf-gesessen und hat den Christus, den die Menge bejubelt, unter der Hand zur großen Identifikationsfigur gemacht. Unter die Fittiche eines Mächtigen kriechen, der Herr ist über alle Höllen der Seele und des Lebens - das ist eine verlockende Versuchung. Sie erspart das Denken und das Fühlen und vor allem die Entscheidung. Aber auf dem Esel kommt einer, der Nähe sucht und schenkt, statt die Macht zu demonstrieren. Der Esel ist das Lasttier der Machtlosen. Und erst da, wo Gottes Nähe so begegnet, wo uns die Augen dafür aufgehen, wird Demut und Menschlichkeit uns heraushelfen aus den Machtspielen ebenso wie aus der Verzweiflung.

Christsein in der Stadt kann gelingen, wenn die Kirche nicht im Dorf, nicht hinter Mauern bleibt. Wenn sie sich einstellt auf die, die suchen, ohne es zu wissen, auf die, die sich verlieren im unübersichtlichen Markt religiöser Angebote. Christsein kann gelingen, wenn die Anfänger im Glauben die Fahne der Hoffnung ergreifen.

IV.
Auch in Großstädten und an Großstadtkirchen kann Zugehörigkeit entstehen. Diese Domgemeinde besteht aus Menschen, die Gemeinde in dieser Stadt sein wollen Sie laden die ein, die suchen, fragen, die neugierig sind oder einfach nur auf der Reise. Gut, dass diese Gemeinde nicht die dörflichen Strukturen nachahmt, Schrebergartenzäune aufrichtet zu einer exklusiven Abschottung.

Diese Domgemeinde – wie alle lebendigen Gemeinden dieser Stadt - will nicht die Laufkundschaft verachten und auch nicht die, die in allen Ecken nach irgend etwas suchen.
Hier herrscht Freude über Sympathisanten und Neugierige.
Die Einladung im Namen Jesu gilt ohne Nötigung. Was immer wir und die Menschen erwarten, er, der Einziehende, entzieht sich der Vereinnahmung. Er reitet auf dem Esel, die Kleider werden ausgebreitet, die Menge ruft; aber er vertreibt die Händler aus dem Tempel.
Er lässt sich nicht abbringen von seinem Weg.
Er teilt Brot und Wein.
Er weint die Tränen der Verzweiflung und Einsamkeit.
Er geht den Weg, zu dem ihn der Vater nötigt.

Wir brauchen diese Kirche geöffnet, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch wörtlich. Hier bietet sie ein wenig Stille mitten im adventlichen Trubel der Weihnachtsmärkte. Die Kirche kann eine Alternative sein, das Symbol der göttlichen Alternative zu den Götzen der Welt, in deren Kultstätten gehandelt, gemakelt und gemäkelt wird.

Adventszeit hat begonnen. Lasst uns in diesen Wochen den Glauben daran erwarten, dass die Liebe nicht vergeblich ist. Auch nicht, wenn sie scheinbar scheitert. Das Scheitern ist insgeheim der Sieg. Wir brauchen nur den richtigen Blick dafür.
Lasst uns nicht am Weg stehen bleiben, sondern den Weg mit ihm gehen, den Weg des Kampfes, der Not und des Kreuzes. Lasst uns in diesen Wochen auf den Geburtstag des Gotteskindes hingehen und hindenken. Dann wird es wieder deutlich, dass Gott in die Welt kam, um unser Bruder zu werden.
Er treibt die Furcht aus, er erfüllt uns mit Hoffnung.

Überall in der Welt setzen Menschen Zeichen gegen die Träume der Macht und gegen die Todesdrohungen der Mächtigen. So klein und unscheinbar die Zeichen oft sind. Die bedrohten Gruppen von Christen in Pakistan und auf einigen Inseln in Indonesien, sie wissen, wie gefährlich es sein kann, Christ zu sein. Sie erleben, wie viele ihrer Schwestern und Brüder getötet werden und bleiben doch treu und geben die Hoffnung nicht auf.
Auch die mit der Friedenssehnsucht in Israel und Palästina, sie lassen sich die Hoffnung nicht rauben, obwohl die Spirale der Gewalt sich immer hoffnungsloser dreht.

Auch in unserem Land gibt es immer mehr Menschen, die Leere und Nichtigkeit spüren inmitten der Fülle von Gütern und Waren. Sie merken, wie man vor dem Tod schon tot sein kann, wenn man nur für sich selber alles zu gewinnen meint, in kurzen, oberflächlichen Glücksmomenten. Und sie machen sich daran, dass ganze Leben zu entdecken.
Das ist die Bewegung gegen den Tod. Sie kommt in diese Welt mit dem Mann auf dem Esel.
Wir bleiben die Bedürftigen. Jesus muss bei uns einziehen. Unsere Ängste und Verwirrungen brauchen neue Kraft. Wenn Krankheit über uns schwebt wie das Schwert des Damokles, wenn wir bedrückt sind über die Wirrnis der Weltgeschichte, über den tödlichen Missbrauch des Weihnachtsfestes. Wir brauchen neue Kraft.
Die Ankunft des Christus will Augen öffnen für die neue Wirklichkeit. Wir leben aus Gnade und dürfen neu beginnen. Es wird nicht aufgerechnet, es wird neu begonnen, ohne Gewalt, aber mit großer Kraft.